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Manuskript: Auf der Suche nach der verlorenen Antimaterie

Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens war es Physikern im vergangenen Jahr wieder einmal gelungen, ihr geltendes Weltmodell zu bestätigen. Allerdings ahnen zahlreiche Forscher auch, dass sich eine Welt vor ihnen verbirgt, die sie mit diesem Standard-Modell nicht erfassen können: die Welt der geheimnisvollen Dunklen Materie.

Von Jan Lublinski |
    Gebäude 500, der große Hörsaal am Forschungszentrum CERN bei Genf. Ein Physiker hält hier einen Vortrag über die neuesten Messungen zum "Top Quark" am großen Teilchenbeschleuniger LHC. Die Reihen sind weitgehend leer, nur etwa 40 Zuhörer sind gekommen, obwohl hier Tausende von Physikern arbeiten.

    Das Top Quark ist das schwerste aller Quarks; es wurde im Jahr 1995 entdeckt. Damals lieferte es eine wichtige Bestätigung des sogenannten Standardmodells der Elementarteilchen.

    Inzwischen haben die Physiker die Masse des Top-Quarks mit hoher Präzision bestimmt auf 173 Gigaelektronen-Volt. Ein extrem schweres Elementarteilchen. Die Zuhörer machen einen eher gelangweilten Eindruck, stellen ein paar Fragen zu Einzelheiten der statistischen Analyseverfahren, dann ist Schluss.

    Auch Friedrich Dydak hat den Vortrag angehört und verschwindet direkt im Anschluss wieder in seinem Büro, in Gebäude 40. Viel Neues hat er nicht erfahren.

    "Da steckt eine ungeheuere Arbeit von ungeheuer vielen Leute dahinter. Aber der Informationsgehalt letztlich war - sehr klein."

    Als im Jahr 2012 das Higgs-Teilchen entdeckt wurde, war der Hörsaal voll und die Begeisterung groß. Das letzte von insgesamt 17 Teilchen des Standardmodells war gefunden. Doch seither macht sich eine gewisse Ernüchterung breit.

    "Wir sind im Augenblick Gefangene unseres übergroßen Erfolges. Man kann das so formulieren. Wir sind im Käfig des Standardmodells gefangen. Aber es ist ein goldener Käfig. Man kann sich fast nichts Schöneres vorstellen. Aber wir wissen, es ist ein Käfig. Und wir wollen hinaus. Und wir schaffen es bislang nicht."

    Die Physiker ahnen, dass sich da eine Welt vor ihnen verbirgt, die sie mit dem derzeit gültigen Modell nicht erfassen können. Eine Schattenwelt mit andersartigen, noch unbekannten Partikeln und Kräften.

    Vorstoß in die Schattenwelt.
    Teil 1: Auf der Suche nach der verlorenen Antimaterie
    Ein Feature von Jan Lublinski


    Das Physik-Forschungszentrum CERN ist eine besondere Kleinstadt, zwischen Genf und dem Jura Gebirge gelegen. Die meisten Gebäude sind hellweiß gestrichen und tragen große blaue Nummern: Nr. 33 ist die Rezeption am Eingang, in Nr. 63 befindet sich die Postfiliale und in Nr. 124 der Fahrradverleih.
    Gebäude 193 befindet sich ein wenig abseits und ist etwa so groß wie zwei Turnhallen.

    Die Physiker haben hier eine ringförmige Teilchenrennbahn aufgebaut, die von dicken Betonwänden umgeben ist. In der Mitte der Halle befinden sich, verteilt auf zwei Etagen und verbunden durch Metalltreppen, vier Labors, in denen Physiker an allerlei technischem Gerät arbeiten. Im Jahr 2012 ist es hier erstmals gelungen, Antiwasserstoff herzustellen und zu vermessen.

    "Viele Leute waren sehr skeptisch, ob wir das jemals schaffen würden. Ob man Antiwasserstoff überhaupt herstellen kann, ob man ihn dann festhalten kann, ob man genug davon herstellen könnte, dass man eine Messung daran machen kann."

    Nun aber ist das Kunststück Jeffrey Hangst und Kollegen geglückt, nach jahrzehntelanger Vorbereitung.

    Antimaterie. Eine seltsame Substanz. Ähnlich der gewöhnlichen Materie, und doch anders. Anti-Wasser würde flüssig sein, Anti-Glas würde brechen wie gewöhnliches Glas. Aber Antiteilchen tragen die jeweils andere elektrische Ladung. Während Elektronen zum Beispiel negative Ladung tragen, sind ihre Anti-Teilchen, die Positronen, positiv.

    Dass es Antimaterie gibt, hat der britische Physiker Paul Dirac 1928 postuliert. Nicht mit einem Experiment sondern anhand einer mathematischen Gleichung, mit der er das Verhalten von Elektronen beschrieb. Für die Gleichung fand er zwei mögliche Lösungen und folgerte, dass es neben Elektronen auch Positronen geben musste.

    "Was Dirac gemacht hat, das war ein phänomenaler theoretischer Durchbruch, am Beginn des letzten Jahrhunderts. Der aus der Lösung seiner Gleichung, der Dirac-Gleichung, die richtige Schlussfolgerung gezogen hat: dass jedes Teilchen ein massegleiches Anti-Teilchen hat."

    Wenige Jahre danach entdeckten Diracs Kollegen die Positronen - in der kosmischen Strahlung. Diese besonders leichten Anti-Teilchen existierten tatsächlich in der Natur. Beim Einschlag der energiereichen kosmischen Strahlung in der Erdatmosphäre entstehen verschiedene Sorten von Antiteilchen. Allerdings werden sie umgehend wieder vernichtet, weil sie in der Atmosphäre mit Luftmolekülen zusammenstoßen.

    Will man also die Antipartikel genauer unter die Lupe nehmen, muss man sie künstlich herstellen, im Labor. In den 50er Jahren gelang es Wissenschaftlern Anti-Protonen zu erzeugen, später auch Anti-Deuterium-, Anti-Tritium- und Anti-Helium-Kerne. Die Antimaterie wurde greifbarer – mit konkreten Experimenten. Warum aber besteht unsere Welt weitgehend aus Materie, während die Anti-Materie fast nur im Verborgenen existiert? Diese Frage erscheint den Physikern heute dringlicher denn je.

    "Es hat in der letzten Zeit so einiges Gerede gegeben. Das Higgs sei das letzte Teilchen des Weltpuzzles gewesen. Das war es nicht! Wir können bis heute nicht erklären, warum es diese Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie gibt. Und in gewisser Weise verstehen wir viel weniger, als wir noch vor 20 Jahren glaubten zu verstehen."

    Materie und Antimaterie sind sehr gleiche und doch gegensätzliche Objekte. Jede Form kann für sich gut existieren. Aber wenn sie zusammentreffen, verschwinden sie in einem Energieblitz. Den Anti-Teilchen ist in unserer Welt kein langes Leben vergönnt: meist treffen sie sehr schnell auf ein Partikel oder eine Wand aus Materie und zerstrahlen dann.

    "Wir haben da einen sehr sehr steilen Gipfel erklommen mit viel viel Mühen. Das war wissenschaftlich eine großartige Leistung. Die erst in zig Jahren in die Bücher und in die Kultur Eingang finden wird. Aber: zu unserem Leidwesen. Jetzt sind wir am Gipfel, alles funktioniert. Aber wir sehen: da gibt’s ein Gebirge, das noch viel viel höher ist."

    Das Forschungszentrum CERN ist der einzige Ort in der Welt, an dem Wissenschaftler mit einem Strahl aus Antiprotonen arbeiten können. Diese werden in der Teilchenrennbahn in Gebäude 193 mit Magnetfeldern immer weiter abgebremst, bis die Physiker einzelne Antiproton-Exemplare in einer Falle aus Magnetfeldern festhalten können.

    Dazu fangen sie in der Falle noch eine zweite Teilchensorte ein, Positronen, also positive Elektronen, die aus einer radioaktiven Natrium-22 Quelle stammen. Die beiden gefangenen Elementarteilchen, das Antiproton und das Positron, rücken dann sehr dicht zusammen - und bilden ein Antiwasserstoff-Atom.

    Seit den 90er Jahren bemühen sich zwei Forscherteams darum, Antiwasserstoff-Atome künstlich herzustellen: Die eine Gruppe heißt ALPHA und die andere ATRAP. Sie arbeiten nur wenige Meter voneinander entfernt und stehen dabei in direkter, teilweise erbitterter Konkurrenz zueinander.

    "Ich denke, wir haben die bessere Apparatur gebaut. Und wir hatten die bessere Gesamtstrategie. Keine Frage."

    Vor dem jüngsten Erfolg des ALPHA-Experiments standen die Pionierarbeiten der ATRAP-Gruppe. Den Physikern um Gerald Gabrielse gelangen in den 90er Jahren die ersten Experimente zum Einfang von Antipartikeln. Im Jahr 2002 hatte dann das ALPHA-Team erstmals die Nase vorn: Sie vereinigten Antiprotonen und Positronen zu Antiwasserstoff-Atomen. Und auch 2010 waren sie es, die diesen Antiwasserstoff in einer Falle einfangen konnten: 38 einzelne Antimaterie-Atome, zunächst für Sekundenbruchteile, später für eine Viertelstunde.

    "Es war eine sehr aufregende Zeit. Das erste wirklich große wissenschaftliche Ergebnis meiner Karriere."

    2012 feierte Hangst dann seinen jüngsten Erfolg: mit seinem Team nahm er die erste Messung an einem Antiwasserstoffatom vor. Dazu regten sie mit Mikrowellen das magnetische Moment an, eine Art Kompassnadel im Inneren der Antiatome. Das Fachblatt "Nature" publizierte das Ergebnis innerhalb weniger Wochen.

    Nach jahrzehntelangen Bemühungen konnten endlich die ersten Antiatome untersucht werden. Die konkurrierende ATRAP-Gruppe staunte nicht schlecht, und mit ihr die gesamte Fachöffentlichkeit.

    "Wir Physiker untersuchen ja das einfache Wasserstoffatom schon seit langem und mit immer größerer Präzision. Und jetzt, nach vielen, vielen Jahren der Forschung haben wir endlich das Antimaterie-Gegenstück dazu in der Hand. Daraus ergibt sich quasi eine moralische Verpflichtung, herauszufinden, ob es da einen Unterschied gibt. So eine Gelegenheit darf man sich nicht entgehen lassen."

    "Am Anfang des Universums stand der Urknall. Eine gewaltige Energiemenge, die zu gleichen Teilen Materie und Antimaterie entstehen ließ. Das Universum begann sich auszudehnen; Materie und Antimaterie vernichteten sich wieder gegenseitig, zumindest weitgehend. Übrig blieb nur ein kleiner Teil Materie - aus ihr entstand die Welt, wie wir sie kennen."

    "Wir haben keine Erklärung dafür, was mit der Antimaterie nach dem Urknall passiert ist. Aus dem Standardmodell lässt sich das Ungleichgewicht nicht ableiten. Wir wissen nur, dass uns da etwas fehlt. Aber wir haben dieses System: Wasserstoff. Wir haben es auf 15 Nachkommastellen genau vermessen. Wir sollten also nun den Anti-Wasserstoff ebenso genau untersuchen. Es kann natürlich sein, dass wir keinen Unterschied finden werden. Oder es kann sein, dass es zwar einen Unterschied zum Anti-Wasserstoff gibt, dass wir ihn aber niemals werden sehen können. Wie auch immer. Ich denke, das mindeste was wir tun können, ist genau hinschaun."

    In Gebäude 193 setzen die Physiker derzeit alles daran, Erklärungen zu finden für das, was sie im Großen beobachten, und hoffen, sie im Kleinen zu finden: Im Kräftespiel zwischen Kern und Hülle von Anti-Wasserstoff. Mit Lasern vermessen sie seine energetischen Zustände mit höchster Präzision und vergleichen sie mit denen des Wasserstoffs. Möglich, dass die Physiker irgendwo auf eine neue Spur stoßen.

    "Die Untersuchung von Antiwasserstoff mit Spektroskopie – ist ein Test der CPT-Symmetrie und die ist schon sehr genau untersucht worden. Von vielen Leuten in vielen verschiedenen Experimenten. Ohne dass irgendwo ein Hinweis war, dass etwas Unerwartetes aufgetaucht ist. Die gefühlte Wahrscheinlichkeit, dass dort im Antiwasserstoff etwas Unerwartetes auftritt ist relativ gering."

    Tatsächlich ist die CPT-Symmetrie mit verschiedenen anderen Experimenten geprüft worden, der Test mit Antiwasserstoff aber steht noch aus. Der Österreichische Physiker Michael Doser ist dennoch skeptisch. Er will lieber an einer anderen Stelle neu ansetzen: bei der Gravitation. Er will herausfinden, wie sich die Gesetze der Schwerkraft in der Antiwelt verhalten.

    "Bei der Gravitation ist es etwas anders. Da ist sehr wenig von der Teilchenphysik bisher gemacht worden. Und deswegen, auch wenn da die gefühlte Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist, ist sie für mich ein bisschen höher."

    Äpfel aus gewöhnlicher Materie fallen nach unten. Aber gilt das auch für Äpfel aus Antimaterie? Erste Fall-Experimente mit den Anti-Teilchen der Elektronen, den Positronen, waren schon vor Jahren durchgeführt worden. Sie waren nicht sehr genau und führten zu Nichts. Nun stehen erstmals neutrale Atome zur Verfügung. Die Präzision wird um ein Vielfaches steigen. Vielleicht fliegen sie nach oben?
    Diese Frage soll das AEgIS-Experiment beantworten.

    Weil die älteren Antimaterie-Projekte bereits viel Platz benötigen, ist Doser und Kollegen nur ein schmaler hoher Gang am Rande des Antiprotonen-Entschleuniger-Ringes geblieben. Hier bauen sie eine breite Wand aus Messgeräten, Magneten und Vakuumgefäßen auf.

    "Wir haben wirklich wenig Platz und sind dadurch gezwungen worden, in die 3. Dimension zu gehen. Also alles aufeinander aufzutürmen. Was auch durch die Struktur des Experimentes ein bisschen gegeben ist. Wir müssen Antiprotonen und Positronen von der gleichen Seite in die Apparatur einbringen. Weil: Wir wollen einen Strahl von Antiwasserstoff-Atomen formen. Und zwar auf eine gepulste Art, also wie Kanonenkugeln schießen. Und diese Antiwasserstoffatome wollen wir dann fallen lassen. Im freien Fall."

    Ob und wie stark sich dieser Strahl aus Antiwasserstoffatomen nach oben oder nach unten bewegt, wird Doser dann ab 2014 messen.

    "Wir sind Experimentatoren, wir bauen Ultrahochpräzisionsmikroskope, um immer tiefer und genauer hinschauen zu können."

    Der junge deutsche Physiker Stefan Ulmer plant ebenfalls einen neuartigen Versuchsaufbau. Er hat bereits Erfahrung: In den vergangenen Jahren, als Doktorand am Max Planck Institut für Kernphysik, ist ihm ein spektakuläres Experiment geglückt: Er hat in einer speziellen Teilchenfalle das magnetische Moment eines einzelnen Protons vermessen, auf 6 Stellen hinter dem Komma genau. Zuvor waren nur 3 Stellen hinter dem Komma bekannt. Für Präzisionsphysiker liegen dazwischen Welten - und ganze Karrieren: Jetzt wird Ulmer sein Experiment am CERN wiederholen – diesmal aber mit einem einzelnen Antiproton. Und sein Ansatz verspricht den Antimateriephysikern in Gebäude 193 etwas, was sie begeistert: extrem genaue Messungen.

    "Wir können ultrapräzise Materie mit Antimaterie vergleichen. Also legen wir beide unter ein Mikroskop und vergleichen sie eben. Mit allem, was wir investieren können. Das ist der Weg. Ob das irgendwo hinführt ist komplett ungewiss. Aber das sollte uns nicht entmutigen, trotzdem weiter hinzuschaun. Die gesamte Teilchenphysik ist heute ein einziges Kratzen am Denkmal. Das Denkmal ist wunderschön. Das Denkmal ist aus Edelstahl. Und es ist verdammt hart daran zu kratzen. Aber wir wissen, dass das Denkmal irgendwo Löcher hat. Und wir haben sie nur noch nicht gefunden."

    Gebäude Nr. 2885 am sogenannten "Punkt 8", im Süden des langen Teilchenbeschleunigerrings LHC, nicht weit vom Genfer Flughafen. In einem Kontrollraum zeigen zahlreiche Monitore den Status der verschiedenen Großexperimente an, die entlang des 27 Kilometer langen, unterirdischen Ringes angeordnet sind. Auch das Experiment LHC-b wird von hier aus gesteuert.

    Der deutsche Teilchenphysiker Andreas Schopper versichert sich beim Schichtleiter, dass alles nach Plan läuft. Und in der Tat: Seit Monaten gibt es keine größeren Probleme mehr.

    100 Meter unter dem Kontrollraum krachen in einer gewaltigen Halle unzählige Wasserstoffatomkerne frontal aufeinander. Dabei entsteht jeweils ein Mini-Urknall mit gewaltiger Energie. Zahllose Paare aus Teilchen und Antiteilchen entstehen. Darunter auch sehr exotische Teilchen, die wiederum in andere Teilchen zerfallen.

    "Dann können sie sich angucken, ob das Teilchen und das Anti-Teilchen auf die gleiche Art und Weise zerfällt und können diese Zerfallsteilchen genau studieren, und können Rückschlüsse ziehen, ob der Spin, die Masse dieses Teilchens und Antiteilchens identisch sind. Das geht dann über den Prozess der Rekonstruktion von dem Zerfall dieses Teilchens."

    Lange mussten Physiker davon ausgehen, dass Teilchen und Antiteilchen sich immer exakt gleich verhielten. Im Jahr 1964 fanden sie dann erstmals einen Unterschied, die Verletzung der sogenannten CP-Symmetrie bei den K-Mesonen.

    "Die Symmetrieverletzung waren sicherlich eines der Gebiete, wo die Überraschung groß war, wo man daraufhin viele Experimente vorgeschlagen hat und weiterführend gemacht hat, um das zu verstehen."

    Tatsächlich fanden sich weitere exotische Teilchen, die B-Mesonen, die sich in beiden Welten ebenfalls nicht ganz gleich verhielten. Die Wissenschaftler fühlten sich einer Lösung des Antimaterie-Problems ganz nah.

    "Und dann kam die ganz ganz große Ernüchterung. Wenn man das Ganze anwendet auf das Universum, liegt man ungefähr einen Faktor 10 Milliarden daneben. Also das ist zu schwach, um das Ganze zu erklären. Also 10 Milliarden oder 100 Milliarden spielt fast keine Rolle mehr. Das war eine Riesenenttäuschung. Also wir stehen wieder am Anfang. Es ist immer eine Frage des Vorstoßens in immer kleinere Dimensionen auch, in immer höhere Energien, oder immer präzisere Messungen. Um zu sehen inwieweit stimmt das Standardmodell denn. Denn irgendwann, meinen wir, muss das Standardmodell mal zusammenbrechen. Irgendwann kann es nicht mehr alles beschreiben, was wir messen. Man sucht mit großem Eifer an allen Ecken und Enden wo man dieses so extrem erfolgreiche Standardmodell, mit dem man alles, was wir messen, erklären kann, dass man das in irgendeiner Form zu Fall bringen kann."

    Bislang zeigt auch das große LHC-b Experiment keinerlei Hinweise auf Schwächen ihres Weltmodells. Andere Physiker dagegen haben eine neue Stelle entdeckt, an der die klassische Theorie vielleicht doch wackeln könnte: die sogenannten Neutrinos.

    Neutrinos sind besonders leichte und flüchtige Teilchen. Sie fliegen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durch Betonwände und Gebirge hindurch und hinterlassen nur sehr selten ihre Spuren in den Messgeräten der Physiker.

    Im Jahr 2012 untersuchten Teams aus Hunderten von Physikern in China und in Südkorea seltene Verwandlungswege der Neutrinos. Ihre Ergebnisse geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus: Es scheint möglich zu sein, dass es bei diesen Verwandlungsprozessen einen Unterschied gibt zwischen Neutrinos und Anti-Neutrinos. Die Daten deuten auf neue, bislang unbekannte, besonders schwere Teilchen hin, die direkt nach dem Urknall vorhanden waren. Ist das endlich die heiße Spur, auf die alle warten? Friederich Dydak.

    "Jetzt, wenn man hergeht, und jetzt findet, dass unsere bekannten Neutrinos CP-Verletzung zeigen, was eine tolle Sache wäre. Das ist keine Frage, das wird noch 10 oder 20 Jahre in Anspruch nehmen. Bis man das weiß. Aber das heißt noch nicht, dass das die Erklärung ist. Also da wird noch einiges Wasser, Sie sagen den Rhein, wir sagen die Donau hinunter fließen. Aber sie haben auch die Donau"

    Physiker gehen heute davon aus, dass die beim Urknall entstandene Antimaterie sofort wieder vernichtet wurde, wogegen ein Teil der Materie übrig blieb – eben jene Materie, aus denen wir bestehen, unser Sonnensystem und die gesamte Milchstraße . Dennoch lässt sich nicht ausschließen, dass die Antimaterie nach dem Urknall nicht völlig vernichtet wurde, sondern dass ein Teil überlebte und sich heute in fernen Winkeln des Weltalls wiederfindet - als Galaxien, die komplett aus Antimaterie bestehen. Und es gibt Forscher, die nach den Spuren dieser Antiwelten fahnden.

    Gebäude 946. Hinter einer Glaswand befindet sich ein kleines Raumfahrt-Kontrollzentrum, das der chinesisch-amerikanische Nobelpreisträger Samuel Ting hat einrichten lassen. Eine Crew aus sechs Wissenschaftlern arbeitet an zwei Computerreihen, rund um die Uhr und im Flüsterton.

    Oben an der Wand hängt ein gewaltiger Bildschirm mit einer Weltkarte. Darauf zieht langsam die Internationale Raumstation ISS ihre Bahn. Ting und seine Mitarbeiter überwachen ein großes Experiment, das außen an die Raumstation angebracht ist: Den AMS-Detektor, einen Anti-Teilchenfänger, der aussieht wie ein runder Swimmingpool. Für dieses Experiment hat Samuel Ting jahrelang Lobbyarbeit in Washington betrieben und Partner bei der NASA gewonnen. Im Jahr 2011 dann brachten es Astronauten mit der letzten Mission der US-Raumfähre Endeavour in die Umlaufbahn. Projektkosten: 1,5 Milliarden Dollar.

    "Wir drehen uns in 90 Minuten einmal um die Erde. Wir sind in ständigem Kontakt mit der Bodenstation in Houston und besprechen, wie die Raumstation fliegen soll."

    Wenn die Antimaterie tatsächlich noch im Universum unterwegs ist, so die Überlegungen von Samuel Ting, sollte man nichts unversucht lassen, um es zu beweisen. - AMS ist ein solcher Versuch.

    "Um Antimaterie-Teilchen aus dem All finden zu können, muss der Detektor generell möglichst viele Teilchen einfangen. Das ist jetzt sichergestellt. Wir sehen all die verschiedenen Atomkerne, die aus dem All geflogen kommen, sehr deutlich. Wenn wir Anti-Helium finden, dann heißt das noch nicht viel: Es könnte auch durch Kollisionen von Protonen entstanden sein. Aber wenn wir Anti-Kohlenstoff finden, dann kann dieser nur vom Anfang des Universums stammen. Das wäre für mich das ultimative Ergebnis."

    20 Jahre hat Ting für diese Suche Zeit. Ergebnisse zum Anti-Kohlenstoff will er erst publizieren, wenn er sich seiner Sache ganz sicher ist. Sollte AMS tatsächlich Spuren dieser Antimaterie-Teilchen im Weltall finden, wäre das für die meisten Physiker eine Sensation. Sie müssten dann zwar immer noch davon ausgehen, dass es einen Unterschied gibt, eine Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie. Nur wäre dieser dann wohl nicht ganz so ausgeprägt, wie man es heute vermutet.

    "Wir werden keine vorläufigen Daten publizieren, sondern nur Endergebnisse. Aus dem ersten Jahr unserer Mission haben wir bereits wichtige Daten. Aber wir werden sie sehr sorgfältig prüfen."

    Noch ist nicht entschieden, ob es den Physikern gelingen wird, über die präzise Vermessung von Antimaterie tatsächlich in jene Schattenwelt vorzustoßen, von deren Existenz sie ausgehen. Fest steht aber jetzt schon: Sie haben auf ihrer Expedition in neue Gefilde einiges erreicht.

    Ein Beispiel dafür ist die Forschungsarbeit von Masaki Hori, am sogenannten ASACUSA-Experiment in Gebäude Nr. 193 am CERN, der Halle mit den abgebremsten Antiprotonen.

    Der japanische Physiker vom Max Planck Institut für Quantenoptik in München hat einen neuen Forschungszweig entwickelt: Chemie mit Antimaterie.

    "Ein reines Antimaterie-Atom sieht ja genau so aus wie ein Materie-Atom. Aber wenn man jetzt Materie und Antimaterie zusammenbringt, dann hat man etwas völlig Neues, etwas das zuvor noch nicht existiert hat. Also unser antiprotonisches Helium, ist etwas, das Sie sicher noch nie gesehen haben."

    Antiprotonisches Helium besteht aus einem Helium-Kern, um das ein Elektron und ein Antiwasserstoff-Atomkern kreisen. Ein Mischwesen aus Materie und Antimaterie also. Erstaunlicherweise vernichten sie sich hier nicht gegenseitig. Der Helium-Kern und der Antiwasserstoff-Kern halten ausreichend Abstand.
    "Ich kann noch nicht sagen, ob es zu etwas nütze ist. Aber es könnten natürlich alle möglichen Dinge entstehen, wenn es uns gelingt, diese neuartigen Hybrid-Atome zu einer echten Ware zu entwickeln. Zu etwas, das man im Labor einfach herstellen kann. Wenn eines Tages Studenten diese neuen Objekte in einem Reagenzglas produzieren, dann könnte es schnell Fortschritte geben."

    Mehr als eine Hand voll verschiedener exotischer Verbindungen haben die Physiker inzwischen herstellen können, und sie lernen immer besser, damit umzugehen. Die philosophischen und theoretischen Rätsel um die Antimaterie harren indes immer noch ihrer Lösung.

    Die heutige Theorie der Teilchenphysik, das Standardmodell, kann nur ansatzweise erklären, was mit der Antimaterie kurz nach dem Urknall passiert ist. Wollen die Experten das Rätsel lösen, brauchen sie also eine neue, bessere Theorie. Vielleicht müssen sie dafür neuartige Teilchen postulieren oder in zusätzlichen Raum-Dimensionen denken. Gesucht wird eine Physik jenseits des Standardmodells, die bisher nur als Schattenwelt in den Köpfen mancher Theoretiker existiert. Ob es sie wirklich gibt – Friedrich Dydak hat schlicht keine Ahnung.

    "Vielleicht kommt ein neuer Einstein daher und hat ein paar super Ideen. Wir brauchen einen wirklichen Schub in der theoretischen Gestaltung. Wir haben heute alles mögliche: Stringtheorien, Extradimensions und alles mögliche, und Supersymmetrie. Wir suchen verzweifelt. Wir finden nirgendwo auch nur einen Ansatz dafür, dass das auch real ist."

    Produktion: Friederike Wigger
    Redaktion: Christiane Knoll


    Teil 2 des Dreiteilers "Vorstoß in die Schattenwelt am 20. Mai: "Jagd nach Susy". Pfingstmontag um 16.30 Uhr