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Manuskript: Die dunkle Seite des Universums

Die Astronomen sehen, dass sie im Kosmos fast nichts sehen: Beobachtungen von leuchtenden Sternen und Galaxien legen nahe, dass das Weltall größtenteils aus dunkler, unsichtbarer Materie besteht. Sie verrät sich nur durch ihre Anziehung auf die hellen Objekte, ist aber selbst in den besten Teleskopen der Welt nicht auszumachen. Denn diese Materie muss aus einem Stoff bestehen, der weder Licht ausstrahlt noch absorbiert.

Von Dirk Lorenzen |
    Zitat Fritz Zwicky: Um die Geschwindigkeiten der Galaxien im Coma-Haufen zu erklären, müsste die mittlere Dichte 400 Mal größer sein als auf Grund der Beobachtung leuchtender Materie abgeleitet. Überraschenderweise ist dort dunkle Materie wohl in sehr viel größerer Dichte vorhanden als leuchtende Materie.

    Im Jahr 1933 äußert der Schweizer Astronom Fritz Zwicky erstmals die Vermutung, dass es im Weltall sehr viel mehr gibt, als die Forscher mit ihren Teleskopen zu sehen bekommen. Achtzig Jahre später gehört die Dunkle Materie für Kosmologen zum Standard-Inventar des Universums.

    "Dark matter is a new form of matter. Most of the matter in the universe is made of something other than atoms."

    "Dunkle Materie ist eine ganz neue Form der Materie. Der größte Teil des materiellen Universums besteht aus etwas anderem als den uns vertrauten Atomen."

    Nicht erloschene Sterne, schwarze Planeten oder kalte Staubwolken vermuten die Theoretiker hinter den unsichtbaren Massen, sondern bislang unbekannte Partikel.

    Iris Abt: "Wir suchen nach einem Teilchen, über das wir faktisch nichts wissen..."

    .. über das sie nichts wissen, und das sie nicht finden.

    Volker Springel: "Das wäre ein Traum für mich, die kalte Dunkle Materie vom Sockel zu stoßen."

    Ein weitläufiges Parkgelände am Hang hinter dem Heidelberger Schloss. Der Blick reicht weit über das Neckartal. Eine imposante Villa dominiert das sonnige Anwesen, dicht daneben duckt sich ein moderner dreistöckiger Bau aus Glas und fast violetten Klinkersteinen.

    "Wir befinden uns hier vor dem Heidelberger Institut für theoretische Studien. Das ist ein Institut, das erst vor kurzem gegründet worden ist, im Jahr 2010 von der Klaus-Tschira-Stiftung. Es ist ein sehr angenehmer Ort zu forschen hier in Heidelberg."

    Der Astrophysiker Volker Springel versucht an einem besonders hellen Ort in die Schattenwelt der Dunklen Materie vorzudringen.

    "Ich beschäftige mich mit kosmischer Strukturentstehung. Und die wird durch die Schwerkraft ausgelöst und wir glauben ja, dass die Dunkle Materie die Materie im Universum dominiert und damit auch die Schwerkraft, die Gravitation. Mithin kann man kosmische Strukturentstehung nicht verstehen ohne Dunkle Materie."

    Dunkle Materie lässt sich nicht direkt beobachten. Sie leuchtet nicht, sie strahlt nicht, sie absorbiert kein Licht. Selbst mit den besten Teleskopen der Welt ist sie prinzipiell nicht zu sehen – doch sie hat eine fundamentale Eigenschaft: Sie zieht an. Die Dunkle Materie verrät sich indirekt, durch ihre Schwerkraft, die auf die leuchtenden Sterne und Galaxien wirkt. Im Heidelberger Institut wollen Volker Springel und sein Team verstehen, wie aus dem Einheitsbrei aus Materie und Strahlung kurz nach dem Urknall das heute hoch strukturierte Universum geworden ist.

    "Hier sitzt meine Arbeitsgruppe. Die meisten sind gerade beim Kaffeetrinken, da lässt sich auch besser diskutieren."

    Die beobachtenden Astronomen machen mit ihren Teleskopen nur Schnappschüsse des Kosmos. Ihre Bilder zeigen, wie das Universum in unterschiedlichen Epochen ausgesehen hat – etwa 400.000 Jahre nach dem Urknall, vor einigen Milliarden Jahren und heute. Theoretiker wie Volker Springel zeichnen die Entwicklung nach, die zwischen den Bildern liegt. Sie füllen die Lücken, machen aus Standbildern einen Film. Dazu packen sie den Kosmos in den Computer und bestücken einen Musterwürfel von einigen hundert Millionen Lichtjahren Kantenlänge mit einer Materie-Mischung:

    "Das sind so etwa fünf Sechstel Dunkle Materie, ein Sechstel normale Materie. Dann haben wir noch die Dunkle Energie, eine besonders mysteriöse Komponente, die zu einer beschleunigten Expansion des Universums führt. Das ist die Mischung, die man braucht, die großräumige Struktur im Universum zu erklären. Die Strukturen wachsen durch die Wirkung der Schwerkraft."

    Die Materiemischung ist der kosmische Teig, die Schwerkraft das Backpulver. Bis heute wissen die Astrophysiker zwar nicht, woraus genau die Dunkle Materie besteht. Aber sie können mit ihr rechnen, denn die Schwerkraft gilt für jede Form von Materie: für die leuchtende baryonische Materie, aus der wir Menschen und alle Dinge um uns herum bestehen – und die Dunkle Materie. Springel:

    "Wir sehen hier eine Computersimulation der Entstehung der Milchstraßengalaxie. Das hat angefangen kurz nach dem Urknall, oben rechts sehen Sie die Zeitskala. Wir sind jetzt 310, 320, 330 Millionen Jahre. Der Film läuft über 13 Milliarden Jahre, aber für uns dauert es nur zwei Minuten, bis die Milchstraße dann entstanden ist."

    Auf dem Bildschirm vor Volker Springel vollzieht sich rasant die kosmische Entwicklung. Der ursprüngliche Einheitsbrei, eine Art himmlische Ursuppe, formt wie von Geisterhand ein feines Netz voll roter, gelber, grüner und blauer Strukturen – die Farben geben an, wie viel Energie in ihnen steckt.

    "Wir sehen die sehr feine filigrane Struktur der Dunklen Materie am Anfang. Es entstehen zunächst kleine Klümpchen aus Dunkler Materie, die weitere Masse anziehen aus ihrer Umgebung. Die verschmelzen miteinander und bilden in der Mitte diese Protogalaxie, der Kern einer Galaxie, die später die Milchstraße sein wird. Wir sehen, dass es ein sehr dynamischer Prozess ist. Es entsteht jetzt diese kollektive Wolke aus Dunkler Materie, in deren Zentrum die Sterne entstehen."

    Bisher waren die Astronomen bei ihren Erkundungen der Schattenwelt fast ausschließlich auf Simulationen angewiesen. Doch seit kurzem lässt sich zumindest indirekt sehen, wo sich die Dunkle Materie im Kosmos befindet. Denn die Schattenwelt verfügt über eine so starke Anziehungskraft, dass sich buchstäblich die Bilder biegen. Hendrik Hildebrandt ist Experte für diesen Gravitationslinseneffekt. Der junge Astronom am Argelander-Institut der Universität Bonn gehört zu einem internationalen Team, das mit dem CFHT, einem Vier-Meter-Teleskop auf Hawaii, jahrelang mit detektivischem Eifer auf der Suche nach Dunkler Materie war.

    "Wie wir seit langer Zeit wissen, werden auch Lichtstrahlen durch die Anziehung gekrümmt. Diese Anziehung führt dazu, dass Bilder von weit entfernten Galaxien verzerrt und vergrößert werden. Diese Verzerrung und Vergrößerung kann man auf hoch aufgelösten Bildern feststellen."

    Läuft das Licht einer leuchtenden Galaxie auf dem Weg zu uns nah an einer großen Ansammlung Dunkler Materie vorbei, verformt die unsichtbare Materie das Bild der Galaxie ein wenig – so ähnlich wie Wellen im Wasser die Kacheln auf dem Boden eines Schwimmbeckens etwas verzerrt erscheinen lassen. Faustregel: Je stärker die Galaxien verformt sind, desto mehr Dunkle Materie muss sich zwischen ihnen und uns befinden. Hildebrandt:

    "Für den CFHT Lens Survey haben wir etwa 20 Millionen Galaxien untersucht. Zum ersten Mal wurde es mit dem Survey möglich, die Dunkle Materie auf sehr großen Skalen darzustellen. Diese Masse-Karten sind um viele Größenordnungen größer als das, was bisher gemacht wurde. Wir können besser verstehen, welche Strukturen die Dunkle Materie im Universum bildet."

    Einige Dutzend Astronomen aus Europa, den USA und Ostasien waren mehr als fünf Jahre beschäftigt, um aus Weitwinkelaufnahmen des Kosmos die Spuren der Dunklen Materie herauszufiltern. Im Jahr 2012 wurden endlich die Karten veröffentlicht, die das große dunkle Gerüst des Universums erahnen lassen. Simulationen und Beobachtungen passen bestens zusammen. Volker Springel:

    "Ich glaube daran, dass sie existiert. Es ist nicht so, dass ich so davon überzeugt bin, dass ich sage, es gibt keine anderen Möglichkeiten. Es ist unter vielen anderen Szenarien die plausibelste Möglichkeit, dass die Dunkle Materie existiert."

    Seit dreißig Jahren gehört die kalte Dunkle Materie zum Standardmodell der Kosmologen. Doch allmählich beschleicht viele Forscher ein gewisses Unbehagen. WIMPS, Weakly Interacting Massive Particles – also "massereichen schwach wechselwirkenden Teilchen" sollen der Theorie nach das Universum füllen, Schwergewichte, die kaum mit anderer Materie reagieren. Seit vielen Jahren betreiben die Physiker raffiniert konstruierte Detektoren. Bis heute sehen sie nicht einmal eine vage Spur der hypothetischen Teilchen.

    München-Freimann, Föhringer Ring, ein schmuckloser Bau aus den 50er Jahren. Im Innern kahler Beton und enge Büros. Der Charme einer heruntergekommenen Behörde wabert durch die langen Gänge. Doch altmodisch ist hier nur das Gebäude.

    "Wir sind am Max-Planck-Institut für Physik, dem Werner-Heisenberg-Institut. Es ist eines der ältesten Max-Planck-Institute, wenn nicht das älteste. Es wurde zunächst in Berlin als Kaiser-Wilhelm-Institut gegründet. Der erste Direktor war Albert Einstein."

    Seit zwei Jahrzehnten ist Iris Abt am Institut tätig, die Physikerin hat an verschiedensten Projekten mitgearbeitet. Jetzt entwickelt sie mit ihrer Gruppe neuartige Detektoren aus dem Halbleiter Germanium.

    "Das hier ist mein Labor, wir sind seit dem 1. November in einer Kollaboration mit zwei chinesischen Universitäten, Shanghai Jiao Tong und Tsinghua in Peking. Germanium-Detektoren haben etwa die Größe einer Kaffeetasse. Sie beruhen auf einem gewaltigen Einkristall. Germanium ist das reinste Material, das wir Menschen herstellen können. Ich habe ein Fehlatom auf eine Million Million der echten Atome."

    Damit im Labor alles sauber bleibt, müssen Besucher Überschuhe anziehen, bevor es durch einen Plastikvorhang in den Experimentierbereich geht. Abgeschirmt von dicken Bleiblöcken finden Probemessungen mit den Germanium-Detektoren statt und die neuesten Messsignale flimmern über die Monitore. Verlaufen die Tests in München erfolgreich, beginnen Iris Abt und ihr Team mit dem Bau des großen Detektors – für die Suche nach Dunkler Materie reicht dann das Volumen einer Kaffeetasse bei weitem nicht.

    "Wir haben vor, eine Tonne Germanium zu nehmen. Wir müssen eine riesige Halle tief in der Erde haben, wo wir vor der Höhenstrahlung geschützt sind und abschirmen gegen natürliche Radioaktivität. Wir müssen alle Materialien genau überprüfen. Hier ist eine Vorstufe, dieses ganze Setup könnte man in ein Untergrundlabor verbringen, zum Beispiel in das JinPing-Labor nach Sichuan. Das ist zweieinhalb Kilometer unter dem Berg, da gibt es praktisch keine Höhenstrahlung mehr."

    Beim Bau eines langen Straßentunnels durch einen Berg im Südwesten Chinas werden derzeit auch die erforderlichen Experimentierhallen errichtet. Den Kontakt zu den Chinesen verdankt Iris Abt ihrem persönlichen Netzwerk: Einige ihrer früheren Mitarbeiter arbeiten jetzt in Shanghai und betreiben bereits ein kleines Dunkle-Materie-Experiment. Nun tun sich die Forscher aus China und Deutschland zusammen, um endlich der mysteriösen Teilchen habhaft zu werden – dabei stochern bei der Dunklen Materie alle im Nebel. Iris Abt:

    "Wir suchen nach einem Teilchen, über das wir faktisch nichts wissen, von dem wir aber annehmen, dass es in unserem Kristall schwach wechselwirkt, dort den Kristall anstößt, so dass dieser eine kleine Energiedeposition sieht."

    Sollte die Dunkle Materie im All tatsächlich so vorherrschend sein, wie viele Physiker glauben, dann sind wir stets von Myriaden dieser Teilchen umgeben. Doch diese Teilchen gehen durch die Erde, durch unseren Körper und auch durch den Germaniumkristall hindurch wie durch Butter. Nur ganz, ganz selten verfängt sich eines dieser Teilchen im Kristall und überträgt etwas Energie auf die Germaniumatome – so das Prinzip Hoffnung. Abt:

    "Warum glauben wir, dass Dunkle Materie schwach wechselwirkt? Wir glauben das nicht wirklich. Wir wissen, dass sie nicht stark wechselwirkt. Das hätten wir längst gesehen. Wir wissen, dass es nicht elektromagnetisch wechselwirkt, auch das hätten wir längst gesehen. Wir wissen, dass es auch Gravitation macht, so haben wir sie entdeckt. Also bleibt uns nur übrig nach einer schwachen Wechselwirkung zu suchen. Wir sind ein klein wenig wie der Mensch, der seine Autoschlüssel verloren hat und unter der Laterne guckt. Wenn ihn einer fragt, glaubst du, du hast sie unter der Laterne verloren, sagt er, nee, aber es ist die einzige Stelle, wo ich suchen kann."

    Die Suche läuft mit recht kleinen Experimenten schon seit Jahrzehnten. Manche Gruppen meinten, mögliche Dunkle-Materie-Teilchen entdeckt zu haben, doch die Befunde blieben stets widersprüchlich – die Forscher verzweifeln vor allem an der großen Zahl der Untergrundereignisse. Nach den Modellen dürfte bestenfalls alle paar Monate ein Teilchen der Dunklen Materie in den Detektoren Spuren hinterlassen – doch viele Geräte schlagen Hunderte Male pro Sekunde an. Diese Fehlalarme gehen auf Teilchen der Höhenstrahlung oder auf radioaktiven Zerfall zurück. Eindeutige Ergebnisse sind bei diesen Bedingungen kaum zu erwarten und so haben Iris Abt und ihre Gruppe ein ehrgeiziges Ziel.

    "Es ist allen klar, dass wir einen geordneten großen Ansatz brauchen, um die Situation zu klären. Wenn wir mit einem Ein-Tonnen-Experiment für zehn Jahre messen, hoffen wir, dass wir nicht mehr als ein oder zwei Untergrundereignisse sehen, und etwa fünf oder sechs echte Ereignisse. Das ist das Ziel – sonst geht’s nicht."

    Mit dem Germanium-Experiment in China wird eine neue Ära beginnen. Erstmals dürfte es weniger Störstrahlung als mögliche echte Signale geben. Auch Juan Collar, Physiker an der Universität von Chicago und seit Jahrzehnten im Geschäft, hat verschiedene Nachweisgeräte konstruiert und kennt den Ärger mit den unbeherrschbaren Stördaten.

    "Offenbar wissen wir noch viel zu wenig darüber, wie die Teilchen der Dunklen Materie wechselwirken, wir wissen nicht genau, wie die Dunkle Materie in der Umgebung unserer Milchstraße verteilt ist und so weiter. Im Moment ist es so, dass wir praktisch alle vermeintlichen Daten der verschiedenen Experimente irgendwie passend machen können. Die Theorie ist einfach zu flexibel – statt klare Vorhersagen zu machen. Damit sind wir dem sehr nahe, was Karl Popper Pseudowissenschaft nennt."

    Juan Collar macht sich mit solchen Äußerungen nicht nur Freunde unter seinen Kollegen, von denen manche ob der Komplexität der Experimente schon einmal die Nerven verlieren. Da wurden Einschläge im Detektor, die nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 77 Prozent auf Dunkle Materie zurückgingen, als vermeintliche Entdeckung verkauft. Seriöse Physiker, die erst ab einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99,99 Prozent von einer Entdeckung sprechen, runzeln da die Stirn. Collar:

    "Die nächsten Experimente sollten groß genug sein, um alle theoretisch vorhergesagten Teilchen fassen zu können, etwa die der Supersymmetrie. Der Zeitpunkt ist gut, denn der LHC-Beschleuniger am Cern in Genf könnte vielleicht auch Dunkle Materie nachweisen. Bald wird sich zeigen, ob wir diese Teilchen sehen oder nicht. Auf die eine oder andere Weise wird es für uns heißen – 'Mission erledigt'. Dann wird es Zeit, sich anderen Dingen zuzuwenden."

    Nach dem aktuellen Standardmodell der Kosmologen ist die Dunkle Materie kalt, das heißt, sie besteht aus unbekannten, recht massereichen Elementarteilchen. Doch die einfachsten Kandidaten für diese mysteriösen Teilchen sind praktisch schon ausgeschlossen. Zu allem Überfluss deuten nun auch noch Beobachtungen im Kosmos an, dass die kalte Dunkle Materie womöglich nur ein Phantom ist – und diesen Schluss erwägt ausgerechnet Carlos Frenk, der zu dem kleinen Kreis gehört, der vor fast dreißig Jahren das Standardmodell der Kosmologie formulierte. Der britisch-mexikanische Astronom leitet heute das Institut für computergestützte Kosmologie der Universität Durham. Der Vergleich seiner Simulationsrechnungen mit den Beobachtungsdaten lässt ihn schier verzweifeln:

    "Nach aktueller Datenlage ist die Dunkle Materie warm und nicht kalt. Und das ist das Letzte, was ich sehen wollte! Denn ich habe dreißig Jahre meines Lebens an kalter Dunkler Materie gearbeitet und sehr für diese Theorie geworben. Leider scheint es nun anders zu sein. Als guter Wissenschaftler muss man die Daten bewerten und darf sich nicht von persönlichen Vorlieben für eine bestimmte Art der Dunklen Materie leiten lassen."

    Für Carlos Frenk zeigen die Simulationen mit einer Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent, dass die Dunkle Materie nicht kalt ist, also nicht aus massereichen, schwach wechselwirkenden Teilchen besteht. Vielmehr deuten sie auf geisterhafte Partikel hin, die sich ausschließlich über die Schwerkraft verraten und überhaupt nicht mit anderen Teilchen reagieren. Theoretiker sprechen von "warmer" dunkler Materie. Sollte sich dieser Befund bestätigen, wäre er für viele Teilchenphysiker eine wahre Hiobsbotschaft. Denn die Experimente, mit denen Iris Abt, Juan Collar und viele andere die Schattenwelt erkunden wollen, sind auf kalte Dunkle Materie ausgelegt – für warme Dunkle Materie sind sie blind. Auch der LHC-Beschleuniger am Forschungslabor Cern in Genf könnte allenfalls "kalte" Teilchen herstellen.

    Die Simulationen aus Durham sind noch lange kein Beweis, aber sie sorgen für einiges Aufsehen. Das Standardmodell mit der kalten Dunklen Materie bringen ausgerechnet Beobachtungen der Begleiter unserer Milchstraße ins Wanken, die zu den unscheinbarsten Galaxien gehören, die es im Kosmos gibt. Frenk:

    "Auch wenn diese Begleitgalaxien sehr klein sind, so könnten sie paradoxerweise der Schlüssel sein. Denn die Natur der Dunklen Materie verrät sich in den Eigenschaften dieser Begleitgalaxien – vor allem erlauben sie, zwischen den konkurrierenden Konzepten der Dunklen Materie zu unterscheiden."

    In den Zwerggalaxien sollte es viel mehr Dunkle Materie geben als die Bewegungen der Sterne dort nahelegen. Zudem gibt es bei Galaxien wie der Milchstraße oder Andromeda nur einige Dutzend Begleitgalaxien – nach dem Standardmodell sollten es viele tausend sein. Und die Begleiter der Milchstraße sind nicht wahllos am Himmel verteilt, sondern in einer Scheibe angeordnet. Das sollte laut Standardmodell nur bei fünf Prozent der Galaxien der Fall sein. Dass ausgerechnet unsere Milchstraße so ein Sonderling sein soll, behagt den Kosmologen nicht – doch Volker Springel warnt vor übereilten Schlüssen.

    "Normalerweise würde man sagen, wenn man so einen Widerspruch findet, dass die Theorie damit gestorben ist. Das ist auch ein Ziel meiner Arbeit letztlich. Das wäre ein Traum für mich, die kalte Dunkle Materie vom Sockel zu stoßen. Allerdings ist es nicht so einfach, man darf nicht gleich zu der Schlussfolgerung springen, dass diese eine Spannung diese sehr erfolgreiche Theorie widerlegen kann. Denn es gibt andere Auswege."

    Es könnte sein, dass die Astronomen schlicht nicht genau verstehen, wie sich in den kleinen Galaxien Sterne entwickeln und wie sich dort das Gas aufheizt. Womöglich verflüchtigen sich auch die Hinweise auf die geisterhafte warme Dunkle Materie, wenn die Forscher die bisher oft vernachlässigten Zwerge detailliert untersuchen. Derzeit ist offen, ob die kleinen Galaxien die große Theorie wirklich zu Fall bringen.

    Das Hauptargument für die Existenz der Dunklen Materie ist seit Fritz Zwickys Zeiten, dass sich die Bewegungen der Sterne und Galaxien im Universum nur erklären lassen, wenn es im Universum viel mehr Materie gibt als zu sehen ist. Doch es gibt auch noch eine zweite, oft vergessene Option: Vielleicht funktioniert die Schwerkraft, die Gravitation, doch anders, als die meisten Physiker heute denken. Eine recht kleine Gruppe von Forschern arbeitet seit einiger Zeit an einer neuen Gravitationstheorie – Mond genannt, nach der Abkürzung für Modifizierte Newtonsche Dynamik. Stacy McGaugh, Astronom an der Case Western Reserve Universität in Cleveland in den USA, untersucht damit die Bewegung der kleinen Begleitgalaxien:

    "In der Mond-Theorie arbeitet man nur mit dem, was man sieht – man braucht keine Dunkle Materie. Wir haben Vorhersagen für die Bewegung der Andromeda-Begleitgalaxien gemacht. Die Übereinstimmung mit den Daten ist verblüffend. Zumindest bei den kleinen Objekten funktioniert diese andersartige Schwerkraft sehr gut."

    Nach der Mond-Theorie verhält sich die Anziehungskraft in Zwerggalaxien oder auf großen Entfernungen ganz anders als bisher angenommen. Demnach gilt das heute genutzte Gravitationsgesetz nicht mehr, wenn die Kräfte ganz schwach sind.

    "I don't believe that this is the correct theory. If this is the correct theory, I will eat my powerpoint, computer included."

    Michael Turner, Kosmologe an der Universität von Chicago und nach eigenen Worten ein beinharter Vertreter des Standardmodells, hält nichts von der Mond-Theorie. Sollte sie stimmen, so gelobt er gern in Vorträgen, werde er sein Power-Point-Programm essen – inklusive des Computers. Vielen Forschern erscheint der Mond-Ansatz konstruiert. Denn es gibt keinen fundamentalen physikalischen Grund, weswegen sich die Schwerkraft bei ganz geringen Beschleunigungen plötzlich ändern sollte – allerdings gibt es auch keinen, der dagegen spräche. Zudem fußt auch das Standardmodell der Kosmologen teilweise auf einem Ansatz, der recht willkürlich vom Himmel fällt – etwa bei der Inflation, einem kurzzeitigen, extrem schnellen Aufblähen des Universums einen Sekundenbruchteil nach dem Urknall. Stacy McGaugh:

    "Ich würde zu gern eine umfassende kosmologische Theorie erarbeiten, die das Verhalten der Galaxien erklärt, aber auch die großräumigen Strukturen im Kosmos. Mond könnte da meines Erachtens gute Anregungen geben. Ich plädiere dafür, ganz unbefangen die verschiedenen Daten und Theorien anzusehen – denn es gibt noch immer ganz fundamentale Probleme in der Kosmologie, die ungelöst sind. Und wir brauchen einen wissenschaftlichen Durchbruch, um die beobachteten Phänomene zu erklären."

    Stacy McGaugh und seine Kollegen weisen zu Recht auf die Schwächen im Standardmodell hin. Aber es ist keineswegs sicher, dass ihre neue Theorie wirklich bessere Lösungen böte. In jedem Fall stehen allen Kosmologen bewegte Zeiten bevor. Lange Zeit ließ sich gefahrlos fast alles postulieren. Die Teleskope waren zu klein, die Computer zu schwach und die Nachweisgeräte zu unempfindlich, um die großen Theorien vom Aufbau des Kosmos zu testen. Doch nun erwarten viele Forscher, dass sich innerhalb einiger Jahre zeigen wird, ob tatsächlich riesige Mengen einer unbekannten Teilchensorte das Universum beherrschen oder nicht. Dem Germanium-Detektor von Iris Abt fällt da eine Schlüsselrolle zu.

    "Ich persönlich bin eigentlich ziemlich überzeugt davon, dass diese Dunkle Materie keine schwache Wechselwirkung macht, weil die Kollegen am Cern davon sonst schon irgendeinen Zipfel hätten sehen können. Das müssen wir aber festlegen. Auch wenn man etwas ausschließt, ist das ein Ergebnis."

    Sollte auch der Germanium-Detektor nichts finden, wäre zwar die Existenz der Dunklen Materie nicht widerlegt. Aber es wäre klar, dass sie – so es sie überhaupt gibt – ganz anders aufgebaut sein müsste, als die Astronomen und Teilchenphysiker heute glauben. Dann könnten auch die Ideen einer anders gearteten Schwerkraft an Charme gewinnen. Sie rundheraus abzulehnen, ist ohnehin gefährlich, wie der Blick in die Geschichte zeigt. Auch bei der Newtonschen Gravitationstheorie, die mehr als zwei Jahrhunderte über jeden Zweifel erhaben schien, gab es lange Zeit nur eine vermeintlich harmlose Kleinigkeit, die im Widerspruch zur Theorie stand: Damals ging es nicht um kleine Galaxien, sondern um winzige Abweichungen der Bahn des kleinsten Planeten im Sonnensystem. Die Unstimmigkeiten bei Merkur klärten sich auf eine Weise, mit der niemand gerechnet hatte, betont Michael Turner:

    "Die Theorie, die die Bewegung Merkurs erklärt, war nicht einfach Newton und etwas mehr. Es war etwas völlig Neues – die Einsteinsche Relativitätstheorie! Ich persönlich bin von der Existenz der Dunklen Materie überzeugt. Aber womöglich sind wir mit Urknall und Inflation auf dem Holzweg. Die Dunkle Materie ist derzeit die einfachste Erklärung der beobachteten Phänomene im All. Dort draußen sind Teilchen, die kein Licht abgeben, aber über die gute alte Schwerkraft verfügen. Ob das wirklich so ist, werden wir jetzt bald testen – und dann wird klar, was im Kosmos vor sich geht. Vielleicht erwartet uns eine viel größere Revolution, als wir uns heute vorstellen."