Stellen sie sich vor, Sie stehen auf einer Eisenbahnbrücke. Ein Zug rast heran. Hinter einer Kurve, nichtsahnend, fünf Gleisarbeiter, todgeweiht. Vor Ihnen am Geländer: ein dicker Mann. Frage: Stoßen Sie ihn herunter, stoppen so den Zug und retten die Fünf? Oder lassen sie den Einen leben und den Zug in die Arbeiter rasen?
Ein Dilemma. Die eine, moralisch richtige Entscheidung gibt es hier nicht. Erdacht haben sich das Gedankenspiel Philosophen, aber inzwischen wird es auch von Naturwissenschaftlern eingesetzt.
"Moral ist ja sicherlich im weiteren Sinne eine Hirnfunktion."
Sie wollen verstehen: Wie erzeugt das Gehirn Moral? Und wie lassen sich diese Moralschaltkreise beeinflussen?
"Man ist nicht plötzlich Kantianer, Pflichtethiker, Utilitarist oder gar ein Heiliger. Aber es würde leichter, sich moralisch zu verhalten."
Die reine Moral. Mitgefühl aus dem Labor. Eine Sendung von Volkart Wildermuth
Oxford, Idealbild einer englischen Universitätsstadt. Colleges aus grauem Stein, grüner Rasen, die Themse. In einer Nebenstraße, ein etwas heruntergekommener Zweckbau aus Beton. Sitz des Uehiro Zentrums für Praktische Ethik und des Instituts für die Zukunft des Menschen. Die Farbe blättert, der Teppichboden wird schon lange nicht mehr sauber. Hier denkt ein halbes Dutzend Philosophen nach über "Moral Enhancement", die Verbesserung der Moral durch Neurotechniken. Klingt verrückt, sei aber dringend nötig, meint der Direktor des Uehiro Zentrums, Prof. Julian Savulescu.
"Wir haben versucht, das moralische Verhalten durch Erziehung zu stärken, durch Strafen, das Justizsystem. Bis zu einem gewissen Grad hat das auch funktioniert, aber eben nicht gut genug. Unsere angeborene Moralität ist nicht dafür geschaffen, mit der Globalisierung fertig zu werden, mit unserer technologischen Welt, mit Massenvernichtungswaffen. Dass unsere Moral nicht perfekt ist, hat heute viel größere Bedeutung. Meine Überzeugung lautet: Wir müssen all unser Wissen nutzen, auch das der Biologie und der Neurowissenschaften, um den Leuten zu helfen, moralischer zu handeln."
Nur drei Türen neben Julian Savulescu hat Dr. Anders Sandberg sein Büro, Philosoph am Oxforder Institut für die Zukunft der Menschheit.
"Gefühle und Gedanken haben irgendwo eine materielle Grundlage. Tief unten gibt es nur Atome und Moleküle."
"Die Moleküle, die uns ausmachen, sie sind wunderbar, verblüffend. Und ich glaube, wir können sie beeinflussen."
Inspiriert von Durchbrüchen in der Hirnforschung haben Julian Savulescu und seine Kollegen das Thema "Moral Enhancement" oder Moraldoping auf die Tagesordnung der Philosophie gesetzt. Und von dort aus inspiriert die Diskussion wieder Experimente in den Laboren.
"So ich fahre Sie jetzt hoch und fahre sie etwas in die Röhre in die Ausgangsposition."
Dirgül Sarun fährt einen jungen Mann in das Kernspingerät. Routine am Zentrum für seelische Gesundheit in Mannheim. Draußen sitzt der Psychologe Tobias Winkelmann vor drei Bildschirmen.
"Ok, das Experiment kann jetzt beginnen, sie bekommen jetzt auf dem Bildschirm einige Symbole dargeboten. Ich bitte Sie, sie aufmerksam zu betrachten. Wichtig ist dabei, dass sie ihren Kopf so ruhig wie möglich halten. Alles klar."
Das laute Klackern ist das Geräusch der Magnetspulen. Schnell schwingende Magnetfelder registrieren die Verteilung des Blutes im Gehirn und damit indirekt die Aktivität der Nerven. Alle zwei Sekunden entsteht ein neues Bild.
"Also man sieht halt quasi das ganze Gehirn in horizontale Schnitte aufgeteilt, wie dünne Scheiben von oben nach unten. Wenn Sie genau beobachten, können Sie ganz leichte Veränderungen sehen, dass es mal heller wird."
Der junge Mann liest unterdessen auf einem Monitor Geschichten. Wie die vom Zug, den Gleisarbeitern und dem dicken Mann. Die Änderungen im neuronalen Stoffwechsel sind winzig, erst der Vergleich vieler Aufnahmen von vielen Probanden wird zeigen, wie das Gehirn auf moralische Herausforderungen reagiert.
"So nicht erschrecken, ich fahr dich raus. Nicht erschrecken es wird wieder hell, ich nehme die Kopfhörer erst mal ab. Alles ok?"
Ähnliche Experimente laufen derzeit auf der ganzen Welt. Die wichtigste Erkenntnis, so Prof. Andreas Meyer Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit: Das eine Moralzentrum im Gehirn gibt es nicht. Die Aktivität ist breit über das Gehirn verteilt.
"Also wir sehen schon Areale, die was mit dem Nachdenken über die Situation zu tun haben. Aber wir sehen eben auch sehr stark emotionale Areale betroffen. Also so dieses kühle unemotionale Entscheiden einer moralischen Frage, das dürfte eher nicht der Regelfall sein, in Wirklichkeit sind die Emotionen sehr stark beteiligt."
So wie es kleine und große Menschen gibt, gibt es auch solche mit sensiblerem oder gröberem moralischem Empfinden. Ein Extrem wären Psychopathen, das andere bilden Kinder mit dem angeborenen Williams Syndrom.
"Also viel mehr als andere sind sie an anderen Menschen interessiert, wollen für andere Menschen was tun, sind sehr, sehr empathisch, machen, was sie können, um anderen Menschen zu helfen. Sind also in diesem Sinne ganz extrem prosozial eingestellt."
Eine genetische Variante, mit durchaus positiver moralischer Dimension. Was macht diese Kinder so "gut"? Entscheidend sind wohl die Mandelkerne, sozusagen die Angstzentren im Gehirn. Sie reagieren bei Kindern mit dem Willams Syndrom fast überhaupt nicht. Diesen Effekt versucht Andreas Meyer Lindenberg in Mannheim künstlich nachzuahmen, mit Hilfe von Oxytocin.
Oxytocin, das Bindungshormon. Wird beim Stillen ausgeschüttet, beim Kuscheln, beim Sex. Vermittelt Aspekte von Liebe, Nähe und Vertrauen, macht Casanova Wühlmäuse monogam. Ein wichtiger Effekt von Oxytocin: Es dämpft die Aktivität der Mandelkerne.
Oxytocin gibt es inzwischen als Nasenspray. Kein Wunder, dass es Forscher drängt, mit dem Hormon zu experimentieren. Die eheliche Treue lässt sich im Labor nur schwer überprüfen. Aber wie sieht es mit dem Vertrauen aus, mit Rücksichtnahme oder Toleranz? In einem in der Psychologie häufig anzutreffenden Versuch werden Probanden unfair behandelt. Die normale Reaktion wäre Ärger und der Wunsch, es dem Schuldigen heimzuzahlen. Doch tatsächlich zeigen sich die Versuchspersonen unter Oxytocin sanftmütiger:
"Leute unter Oxytocin haben weniger von diesen negativen Emotionen. Das führt dann dazu, dass sie beispielsweise stärker vertrauensvoll reagieren. Also in einer riskanten sozialen Interaktion, ich muss jemand trauen, ich kenn ihn noch nicht so, da sehen wir eigentlich in ganz vielen Studien, dass unter Oxytocin die Menschen vertrauensvoller reagieren."
Solche Experimente geben Julian Savulescu Hoffnung.
"Zur Definition von Moral gehört Selbstlosigkeit. Nicht nur den eigenen Interessen gehorchen, sondern einen kleinen Nachteil hinnehmen, wenn er anderen große Vorteile bringt. Dass nenne ich minimale Moral. Wenn wir diese minimale Moral stärken könnten, dass wäre schon ein Fortschritt."
Sie sitzen mit einem Unbekannten in einem Labor. Eine Forscherin kommt mit zehn Euromünzen und gibt sie dem Unbekannten. Der darf davon behalten, was er will. Ihnen bietet er drei Euro an. Besser als nichts, aber nehmen Sie das bisschen Geld? Wenn Sie ablehnen, bekommt die Forscherin das Geld zurück, und sie gehen beide leer aus.
Die meisten Versuchspersonen lehnen Angebote von nur drei Euro ab. Bestrafen unfaires Verhalten, selbst wenn sie dafür auf echtes Geld verzichten müssen. Eine Entscheidung mit moralischer Dimension: um eine Gerechtigkeitsregel zu verteidigen, schadet man dem unfairen Mitspieler und sich selbst. Der Clou an diesem Labor-Spiel: Es erlaubt, die Bedeutung der Fairness nicht nur philosophisch zu durchdenken, sondern über die realen Reaktionen vieler Menschen auch objektiv zu messen.
"Wir nutzen dieses Spiel in unseren Experimenten. Wir verändern die Hirnchemie der Leute und schauen: beeinflusst es, ob sie ein unfaires Angebot annehmen oder ablehnen?"
Dr. Molly Crocket, ein Shootingstar an der Grenze zwischen Gehirn und Moral. Derzeit arbeitet sie am Labor zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme der Universität Zürich. Ihre Versuchspersonen müssen auf Sojabohnen, Nüsse und Fleisch verzichten. Denn diese Lebensmittel enthalten viel Tryptophan, eine Vorstufe des Botenstoffs Serotonin.
Serotonin, der soziale Botenstoff, umgangssprachlich "Glückshormon". Der Neurotransmitter dämpft bei Hummern die Kampfbereitschaft, fördert bei Heuschrecken die Schwarmbildung und bei Affen den Rang in der Gruppe. Ein Mangel an Serotonin kann beim Menschen zu Aggressionen, Ängsten und Depressionen führen. Umgekehrt stärkt ein hoher Serotoninspiegel das Wohlbefinden.
"Wir haben Leuten Essen mit wenig Tryptophan gegeben und so den Serotoninspiegel in ihrem Gehirn gesenkt. Daraufhin haben sie unfaire Angebote eher abgelehnt, sie können Unfairness weniger ertragen. Später haben wir mit Antidepressiva den Serotoninspiegel erhöht. Das hat den umgekehrten Effekt, die Toleranz für unfaire Angebote steigt."
Ein Medikament, das rationale Denkprozesse unterstützt, zeigte dagegen keinerlei Einfluss.
Serotonin stärkt das Mitgefühl, stimmt versöhnlich, selbst gegenüber unfreundlichen Mitmenschen. Damit beeinflusst Serotonin eindeutig messbar den Umgang mit der Norm der Fairness. Die philosophische Dimension ihrer Experimente ist für Molly Crocket dagegen sehr viel schwerer zu fassen.
"Jemand könnte ein unfaires Angebot ablehnen, weil Fairness wichtig ist und er diese Norm stärken will. Aber vielleicht lehnt er das unfaire Angebot auch ab, um dem anderen zu schaden, um Rache zu nehmen. Das sind sehr unterschiedliche Motive. Die Durchsetzung von Normen in der Gesellschaft möchten wir vielleicht stärken, Rachegelüste können dem sozialen Zusammenhalt aber sehr schaden."
Sollte ein Moraldoping also versuchen, das Mitgefühlt zu stärken, oder eher das Bewusstsein für soziale Regeln?
"Die größte Herausforderung für eine Moralverbesserung ist, es gibt kaum Einigkeit darüber: was ist Moral?"
Im angelsächsischen Raum überzeugt der Utilitarismus: Nach Jeremy Bentham lautet die Richtschnur der Moral: das größte Glück der größten Zahl. Es ist richtig, einen Dicken vor den Zug zu schubsen um fünf Gleisarbeiter zu retten. Falsch, würde Immanuel Kant sagen. Der einzelne Mensch darf nie nur Werkzeug einer Handlung sein, er muss immer auch ihr Ziel sein. Pflichtethiker würden im Experiment die Norm der Fairness unbedingt verteidigen. Dagegen könnte ein christlicher Ethiker meinen: gottgefällig sei, die andere Wange hinzuhalten.
"Eine Norm wie Fairness, die muss man begründen. Und warum sollten wir Fairness kultivieren in unserer Gesellschaft? Warum sollten wir Leiden minimieren? Warum sollten wir uns solidarisch verhalten?"
Thomas Metzinger, Philosophieprofessor an der Universität Mainz, ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Neuroethik.
"Sie und ich, wir wollen vielleicht, dass prosoziales Verhalten, Empathie oder Altruismus gefördert wird. Herr Rösler hat da vielleicht eine ganz andere Meinung zu. Es könnte auch unterschiedliche politische Richtungen geben, die zum Beispiel ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was ein ethisch integerer Bürger ist. Oder wie er denn aussehen soll, der kultivierte Mensch der Zukunft. Und viele stellen sich da eigentlich eher faire aber rationale Karrieristen vor und andere Leute vielleicht ein bisschen ineffiziente Empathiker."
"Es klingt so offensichtlich: Wir sollten alle Menschen altruistischer machen."
Doch gerade dem Offensichtlichen misstraut Owen Schaefer. Der Philosophiestudent ist so etwas wie der hauseigene Kritiker des Moraldoping am Uehiro Center in Oxford. Mitgefühl klingt gut, sagt er, aber es spricht doch vieles dafür, dass in Sachen Moral das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
"Ein breites Moraldoping würde unsere aktuellen Vorstellungen für immer festschreiben. Wir sollten Raum für Meinungsverschiedenheiten lassen und uns nicht vorzeitig auf einen Moralkanon festlegen."
Am Uehiro Center diskutiert Owen Schaefer auch mit Prof. Guy Kahane. Der meint: bei all dem Streit um verschiedene Moralsysteme blieben doch Gemeinsamkeiten.
"Ein Beispiel: die meisten Leute halten Rassismus für eine schlechte Sache, für etwas, das wir abbauen oder verhindern sollten."
Gerade über Neurobiologie der Vorurteile gibt es umfangreiche Daten. Dabei zeigt sich immer wieder, dem Rassismus liegt eine Angst vor dem Fremden zugrunde. In einem gewissen Maß gibt es diese Ängste bei jedem Menschen, dafür sind auch die Mandelkerne verantwortlich. Diese Mandelkerne sind bei den Kindern mit dem Williams Syndrom fast gar nicht aktiv. Das macht sie gewissermaßen frei von Vorurteilen, wie Andreas Meyer Lindenberg belegen konnte.
"Sie haben keinerlei Bevorzugung ihrer eigenen ethnischen Gruppe. Sind damit die ersten, bei denen das überhaupt gefunden wird und dadurch in der Tat eine Bestätigung dieser Idee, wenn man es wieder auf die Frage der Moral wendet, dass solche Themen negativer unbewusster emotionaler Vorgänge dann wirklich auch in die Formierung unserer moralischen oder zumindest handlungsleitenden Konzepte eingreifen."
"Wenn Sie jemanden einstellen, dann denken Sie vielleicht, sie sind unparteiisch, sehen sich nur den Lebenslauf an. Aber es gibt Hinweise, dass sie unbewusst reagieren, wenn der Bewerber schwarz ist, eine Frau oder einer Minderheit angehört. Die unbewussten Vorurteile haben wichtige Konsequenzen im praktischen Leben."
Solche unwillkürlichen Angstreaktionen beeinflussen selbst Personen, die rassistische Gedanken weit von sich weisen. Der Philosoph Guy Kahane hat nun gemeinsam mit Hirnforschern versucht, die Mandelkerne toleranter zu machen. Mit Hilfe von Propranolol.
Propranolol, ein Beta-Blocker. Das weit verschriebene Herzmedikament senkt den Blutdruck und den Puls. Es wirkt beruhigend, nicht nur auf das Herz, sondern indirekt auch auf den Geist. Das Gehirn bewertet die Stärke einer Emotion auch nach deren körperlichen Begleiterscheinungen. Wenn der Puls gleichmäßig bleibt, lässt die Angstreaktion nach.
"Leute, die dieses Medikament bekommen haben, zeigen in einem psychologischen Test dramatisch weniger unbewusste Vorurteile. Das Medikament hat keinen Einfluss auf bewusste Einstellungen. Die Antworten auf die Frage sind sie für oder gegen Schwarze? bleiben gleich. Aber auf der vorbewussten Ebene gibt es deutliche Veränderungen. Konkret reagieren die Mandelkerne viel weniger auf schwarze Gesichter, wenn man dieses Medikament nimmt."
Sollte also eine Pille Propranolol vor Bewerbungsgesprächen zur Pflicht werden? Vorsicht, mahnt Owen Schäfer. Er fürchtet, dass der chemische Eingriff ins Gewissen die Persönlichkeit verändert.
"Die klassischen Methoden zur Stärkung der Moral, also die Erziehung, das Rechtssystem, die wirken von außen, sie verändern nicht die eigenen Gedanken. Diese biologischen Methoden sind da ganz anders, sie greifen direkt in die Hirnchemie ein. Das ist fast eine Gehirnwäsche."
Gerade wenn Moraldoping wirkt, so sein Argument, darf es nicht angewandt werden, denn es würde den Kern der Persönlichkeit treffen. Falsch, kontert Anders Sandberg: Zur Freiheit des Menschen gehöre zwar untrennbar auch die Freiheit, das Falsche zu tun. Aber das Beispiel Vorurteile zeige, dass es Bereiche in uns gibt, die wir aus guten Gründen ändern wollen aber nicht ändern können. Der Wunsch abzunehmen ringt mit dem Appetit auf Sahnetorte, die lebenslange Liebe mit der kurzfristigen Lust. Anders Sandberg:
"Also ich glaube, richtig angewandtes Moraldoping könnte uns sogar authentischer machen. Einfach eine Pille zu nehmen, um irgendwie besser zu werden, das ist nicht authentisch. Sie zu nehmen, um bewusst ein bestimmtes Selbstbild zu erreichen, das ist sehr authentisch. Unser wichtigstes moralisches Problem ist nicht, dass wir nicht wissen, was wir tun sollen, sondern dass wir zu faul sind, es tatsächlich zu tun."
Die Scheidungszahlen belegen, gerade auf dem Gebiet der Liebe ist es schwer, einer einmal gefassten Entscheidung treu zu bleiben. Dabei wollen beide Partner beim Jawort, dass die Ehe ewig hält. Ein wenig biochemische Hilfestellung wäre hier im ureigenen Interesse von Mann und Frau, argumentieren Anders Sandberg und Julian Savulescu in einem Fachartikel.
"In der Evolution wurden wir nicht dazu gemacht, eine Paarbeziehung über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten. So lange haben wir gar nicht gelebt. Wir schlagen also vor, etwas zu entwickeln, das diese Bindung stärkt."
Zutaten für den Treuetrank: Oxytocin für die Nähe, Testosteron für die Aufregung, vielleicht ein Schuss des Hormons CRH, um Trennungsängste zu steigern. Auch Anders Sandberg glaubt nicht, dass eine Pille ewige Treue garantieren kann. Aber wenn die Situation stimmt, ein romantisches Abendessen oder ein langer Spaziergang zu zweit, dann kann eine Pille wahrscheinlich den Effekt verstärken.
"Das ist entscheidend. Eine Pille enthält nicht viel Information, sie beeinflusst einfach irgendwie das Gehirn. Wichtig für die Beziehung ist, den Partner wirklich wahrzunehmen. Dann feuern genau die Nerven, die sie füreinander attraktiv machen, und dann können diese Verbindungen gestärkt werden."
Moraldoping wird nie nur über Pillen allein funktionieren. Mindestens genauso wichtig sind der äußere Zusammenhang und die innere Einstimmung des Menschen. An diesem Punkt setzen schon seit Jahrtausenden die Techniken der Meditation an.
Meditation - östlicher Weg zur Moral. In Indien oder Tibet beginnen die Menschen aus moralischen Überzeugungen mit der Meditation, weniger um den eigenen Geist zu erweitern, als um der Gemeinschaft zu dienen. Egal ob man sich in den eigenen Atem versenkt oder bei der Liebe-Güte-Mediation eine freundliche Haltung gegenüber allen fühlenden Wesen einübt, die Meditation führt zu einer Veränderung auch der Emotionsschaltkreise im Gehirn.
"Ich bin überzeugt, der beste Weg Empathiezentren im Gehirn zu stärken, besteht im Trainieren des Verhaltens und des Geistes."
Prof. Richard Davidson vom Labor für die Neurowissenschaften der Gefühle an der Universität von Wisconsin in Madison.
"Nervenschaltkreise, die etwas mit Empathie zu tun haben, werden zum Beispiel bei der Mitgefühlsmeditation aktiviert."
Richard Davidson hat solche Effekte bei buddhistischen Mönchen nachgewiesen, die seit Jahrzehnten meditieren. Aber auch ein einziger Tag Training in einer Mitgefühlsmeditation reicht offenbar aus, um Versuchsteilnehmer kurzfristig hilfsbereiter zu machen. Und nach einem einwöchigen Kurs reagieren sie in Experimenten empfindlicher auf die unfaire Behandlung anderer. Dabei könnten theoretisch unterschiedliche Motive eine Rolle spiele: erstens dem Opfer helfen zu wollen, oder zweitens den Täter in seine Schranken zu weisen.
"Das hat uns konkret interessiert. Wir haben Situationen untersucht, bei denen nur die Bestrafung oder nur die Hilfestellung möglich war. Dabei zeigt sich eindeutig, dass die Mitgefühlsmeditation die Hilfsbereitschaft stärkt und nicht den Willen zur Bestrafung."
Es müssen also nicht immer Pillen sein. Es gibt neben der Erziehung und dem Justizsystems noch andere, innovative Wege zur Stärkung des Moralempfindens.
"Ich glaube aber, es ist wichtig, eines nicht zu vergessen. An der Oberfläche wirkt die Meditation nicht sehr biologisch, eine Pille schon. Doch am Ende verändern all diese Methoden irgendwie das Gehirn, letztlich ist alles Biologie."
Viele Wege führen zum selben Ziel, so Molly Crocket. Es scheint tatsächlich wirksame Methoden zu geben, um die menschliche Moral zu beeinflussen. Und es gibt zumindest Ansätze, Einigkeit über erste, bescheidene Ziele eines solchen Moraldopings zu erreichen. Doch wo es erwünschte Wirkungen gibt, da finden sich auch Nebenwirklungen.
Oxytocin – die dunkle Seite der Moral. Neuere Studien zu Oxytocin zeigen, dass das Bindungshormon vor allem den Zusammenhang innerhalb der eigenen Gruppe stärkt. Außenseiter werden dagegen unter dem Einfluss eines Oxytocinsprays negativer beurteilt. Außerdem verstärkt Oxytocin die Neigung zur Schadenfreude. Aus Gründen der Sparsamkeit nutzt die Evolution ein und dasselbe Molekül oft für ganz verschiedene Zwecke.
"Zu viel Oxytocin ist auch nicht gut. Man könnte genauso gut sagen, zu viel Serotonin ist sicherlich auch nicht gut, und dasselbe gilt denke ich auch für die anderen Systeme. Insofern bin ich da sehr skeptisch, einfach weil ich nicht sehe, dass es im Gehirn jetzt ein monolithisches System für die Moral gibt, das man sozusagen ölt und dann funktioniert alles besser."
Komplexe Systeme, vielfältige Effekte, Wirkungen und Nebenwirkungen – jeden Tag suchen Ärzte in solchen Gemengelagen nach dem besten Weg für ihren Patienten. Ähnlich pragmatisch würden künftige Moraltherapeuten wohl auch mit ihren Wirkstoffen umgehen, meint Guy Kahane.
"Sie wären Teil eines Therapiekonzeptes, sie hätten Nebenwirkungen und Grenzen und wir würden nicht ganz genau verstehen, wie sie wirken. Aber in ein paar Jahrzehnten könnten sie breit eingesetzt werden. Wir sollten das nicht als Science Fiction abtun, sondern überlegen, wie wir das am besten handhaben."
"Betrüger würden wohl sagen: großartig. Alle anderen nehmen die Pillen, und ich bin der König."
Wer ein Moraldoping am nötigsten braucht, ist vielleicht am wenigstens dafür empfänglich, fürchtet Anders Sandberg. So zeigen die Experimente von Molly Crocket, dass Menschen mit sowieso schon hohen Empathiewerten am stärksten auf die Veränderung des Serotoninspiegels reagieren.
"Das ist eines der Probleme mit der Moral. Wenn man Pillen hat, die einen schneller rennen lassen oder das Gedächtnis stärken, dann wollen sie alle haben. Aber eine Pille, die dich nett macht? Dafür gäbe es wohl kaum einen Schwarzmarkt. Das ist einfach keine starke menschliche Motivation."
Antiandrogene – Moraldoping heute. Medikamente, die das männliche Hormon Testosteron blockieren, dämpfen den Sexualtrieb deutlich. Einige Männer mit pädophilen Neigungen nehmen sie freiwillig, um nicht zur Gefahr für Kinder zu werden. Und in einigen Ländern können sich Sexualstraftäter für eine solche chemische Kastration entscheiden, um frühzeitig aus dem Gefängnis zu kommen.
Das alles ist ethisch akzeptiert. Die Gesellschaft hat Wege gefunden, diese Medikamente bei Personen durchzusetzen, die sie ohne äußeren Druck wohl nicht nehmen würden. Ähnliche Strategien könnten ein künftiges Moraldoping begleiten. Probleme sieht Guy Kahane aber nicht nur bei einzelnen Moralverweigerern, sondern auch im Zentrum der Gesellschaft.
"Je mehr wir verstehen, wie man Leute besser machen kann, desto leichter wird es auch, sie schlechter zu machen. Es ist eine Gefahr, dass es falsch eingesetzt wird, von Regierungen, Militärorganisationen oder wem auch immer."
Moral forte – die Pille für eine friedliche Zukunft. Enthält Oxytocin, Serotonin und Moleküle, von denen wir bislang gar nichts wissen. Alternativ verschreiben die Philosophen Meditation oder die Ethik-App fürs Smartphone. Es gibt sie nicht nur für Android oder Windows, sondern auch für Kantianer und Utilitaristen, Christen oder Buddhisten. Jeder hat die freie Wahl. Nur Politiker, Topmanager und Personalchefs werden zur Einnahme verpflichtet, wenn ihre Vorurteilswerte die Norm übersteigen.
"Ein spannender Befund lautet: die Empathiewerte amerikanischer Studenten sind seit den Siebzigern deutlich gesunken. Die Leute sind heute weniger mitfühlend und dafür selbstbezogener."
Bei aller Kritik gäbe es durchaus Bedarf für ein künftiges Moraldoping.
"Egal ob wir nun Moralpillen nehmen oder nicht, unser moralischer Charakter verändert sich. Die Leute kümmern sich nicht mehr so um andere wie früher. Die meisten Menschen dürften das für eine schlechte Entwicklung halten. Also, selbst wenn wir nicht zu Superempathikern werden wollen, wir sollten uns zumindest so mitfühlend machen wie früher."
Schon allein das wäre eine gewaltige Aufgabe für eine kleine Kapsel. Moraldoping ist längst nicht effektiv genug, um das Verhalten einer relevanten Zahl von Menschen zum Besseren zu verändern. Dennoch, man sollte die chemische Optimierung des Moralgefühls nicht vorschnell abtun, so der Philosoph Thomas Metzinger.
"Nur weil etwas ein bisschen verrückt klingt, "Pille" oder "Buddhismus", das ist kein Argument dafür, dass man es sich nicht ganz genau anschauen muss und kritisch prüfen muss, ob es verwendbar ist. In der gegenwärtigen Situation können wir uns es einfach nicht mehr leisten, Sachen selbstgefällig lächelnd beiseite zu schieben oder zu ignorieren."
Ein Dilemma. Die eine, moralisch richtige Entscheidung gibt es hier nicht. Erdacht haben sich das Gedankenspiel Philosophen, aber inzwischen wird es auch von Naturwissenschaftlern eingesetzt.
"Moral ist ja sicherlich im weiteren Sinne eine Hirnfunktion."
Sie wollen verstehen: Wie erzeugt das Gehirn Moral? Und wie lassen sich diese Moralschaltkreise beeinflussen?
"Man ist nicht plötzlich Kantianer, Pflichtethiker, Utilitarist oder gar ein Heiliger. Aber es würde leichter, sich moralisch zu verhalten."
Die reine Moral. Mitgefühl aus dem Labor. Eine Sendung von Volkart Wildermuth
Oxford, Idealbild einer englischen Universitätsstadt. Colleges aus grauem Stein, grüner Rasen, die Themse. In einer Nebenstraße, ein etwas heruntergekommener Zweckbau aus Beton. Sitz des Uehiro Zentrums für Praktische Ethik und des Instituts für die Zukunft des Menschen. Die Farbe blättert, der Teppichboden wird schon lange nicht mehr sauber. Hier denkt ein halbes Dutzend Philosophen nach über "Moral Enhancement", die Verbesserung der Moral durch Neurotechniken. Klingt verrückt, sei aber dringend nötig, meint der Direktor des Uehiro Zentrums, Prof. Julian Savulescu.
"Wir haben versucht, das moralische Verhalten durch Erziehung zu stärken, durch Strafen, das Justizsystem. Bis zu einem gewissen Grad hat das auch funktioniert, aber eben nicht gut genug. Unsere angeborene Moralität ist nicht dafür geschaffen, mit der Globalisierung fertig zu werden, mit unserer technologischen Welt, mit Massenvernichtungswaffen. Dass unsere Moral nicht perfekt ist, hat heute viel größere Bedeutung. Meine Überzeugung lautet: Wir müssen all unser Wissen nutzen, auch das der Biologie und der Neurowissenschaften, um den Leuten zu helfen, moralischer zu handeln."
Nur drei Türen neben Julian Savulescu hat Dr. Anders Sandberg sein Büro, Philosoph am Oxforder Institut für die Zukunft der Menschheit.
"Gefühle und Gedanken haben irgendwo eine materielle Grundlage. Tief unten gibt es nur Atome und Moleküle."
"Die Moleküle, die uns ausmachen, sie sind wunderbar, verblüffend. Und ich glaube, wir können sie beeinflussen."
Inspiriert von Durchbrüchen in der Hirnforschung haben Julian Savulescu und seine Kollegen das Thema "Moral Enhancement" oder Moraldoping auf die Tagesordnung der Philosophie gesetzt. Und von dort aus inspiriert die Diskussion wieder Experimente in den Laboren.
"So ich fahre Sie jetzt hoch und fahre sie etwas in die Röhre in die Ausgangsposition."
Dirgül Sarun fährt einen jungen Mann in das Kernspingerät. Routine am Zentrum für seelische Gesundheit in Mannheim. Draußen sitzt der Psychologe Tobias Winkelmann vor drei Bildschirmen.
"Ok, das Experiment kann jetzt beginnen, sie bekommen jetzt auf dem Bildschirm einige Symbole dargeboten. Ich bitte Sie, sie aufmerksam zu betrachten. Wichtig ist dabei, dass sie ihren Kopf so ruhig wie möglich halten. Alles klar."
Das laute Klackern ist das Geräusch der Magnetspulen. Schnell schwingende Magnetfelder registrieren die Verteilung des Blutes im Gehirn und damit indirekt die Aktivität der Nerven. Alle zwei Sekunden entsteht ein neues Bild.
"Also man sieht halt quasi das ganze Gehirn in horizontale Schnitte aufgeteilt, wie dünne Scheiben von oben nach unten. Wenn Sie genau beobachten, können Sie ganz leichte Veränderungen sehen, dass es mal heller wird."
Der junge Mann liest unterdessen auf einem Monitor Geschichten. Wie die vom Zug, den Gleisarbeitern und dem dicken Mann. Die Änderungen im neuronalen Stoffwechsel sind winzig, erst der Vergleich vieler Aufnahmen von vielen Probanden wird zeigen, wie das Gehirn auf moralische Herausforderungen reagiert.
"So nicht erschrecken, ich fahr dich raus. Nicht erschrecken es wird wieder hell, ich nehme die Kopfhörer erst mal ab. Alles ok?"
Ähnliche Experimente laufen derzeit auf der ganzen Welt. Die wichtigste Erkenntnis, so Prof. Andreas Meyer Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit: Das eine Moralzentrum im Gehirn gibt es nicht. Die Aktivität ist breit über das Gehirn verteilt.
"Also wir sehen schon Areale, die was mit dem Nachdenken über die Situation zu tun haben. Aber wir sehen eben auch sehr stark emotionale Areale betroffen. Also so dieses kühle unemotionale Entscheiden einer moralischen Frage, das dürfte eher nicht der Regelfall sein, in Wirklichkeit sind die Emotionen sehr stark beteiligt."
So wie es kleine und große Menschen gibt, gibt es auch solche mit sensiblerem oder gröberem moralischem Empfinden. Ein Extrem wären Psychopathen, das andere bilden Kinder mit dem angeborenen Williams Syndrom.
"Also viel mehr als andere sind sie an anderen Menschen interessiert, wollen für andere Menschen was tun, sind sehr, sehr empathisch, machen, was sie können, um anderen Menschen zu helfen. Sind also in diesem Sinne ganz extrem prosozial eingestellt."
Eine genetische Variante, mit durchaus positiver moralischer Dimension. Was macht diese Kinder so "gut"? Entscheidend sind wohl die Mandelkerne, sozusagen die Angstzentren im Gehirn. Sie reagieren bei Kindern mit dem Willams Syndrom fast überhaupt nicht. Diesen Effekt versucht Andreas Meyer Lindenberg in Mannheim künstlich nachzuahmen, mit Hilfe von Oxytocin.
Oxytocin, das Bindungshormon. Wird beim Stillen ausgeschüttet, beim Kuscheln, beim Sex. Vermittelt Aspekte von Liebe, Nähe und Vertrauen, macht Casanova Wühlmäuse monogam. Ein wichtiger Effekt von Oxytocin: Es dämpft die Aktivität der Mandelkerne.
Oxytocin gibt es inzwischen als Nasenspray. Kein Wunder, dass es Forscher drängt, mit dem Hormon zu experimentieren. Die eheliche Treue lässt sich im Labor nur schwer überprüfen. Aber wie sieht es mit dem Vertrauen aus, mit Rücksichtnahme oder Toleranz? In einem in der Psychologie häufig anzutreffenden Versuch werden Probanden unfair behandelt. Die normale Reaktion wäre Ärger und der Wunsch, es dem Schuldigen heimzuzahlen. Doch tatsächlich zeigen sich die Versuchspersonen unter Oxytocin sanftmütiger:
"Leute unter Oxytocin haben weniger von diesen negativen Emotionen. Das führt dann dazu, dass sie beispielsweise stärker vertrauensvoll reagieren. Also in einer riskanten sozialen Interaktion, ich muss jemand trauen, ich kenn ihn noch nicht so, da sehen wir eigentlich in ganz vielen Studien, dass unter Oxytocin die Menschen vertrauensvoller reagieren."
Solche Experimente geben Julian Savulescu Hoffnung.
"Zur Definition von Moral gehört Selbstlosigkeit. Nicht nur den eigenen Interessen gehorchen, sondern einen kleinen Nachteil hinnehmen, wenn er anderen große Vorteile bringt. Dass nenne ich minimale Moral. Wenn wir diese minimale Moral stärken könnten, dass wäre schon ein Fortschritt."
Sie sitzen mit einem Unbekannten in einem Labor. Eine Forscherin kommt mit zehn Euromünzen und gibt sie dem Unbekannten. Der darf davon behalten, was er will. Ihnen bietet er drei Euro an. Besser als nichts, aber nehmen Sie das bisschen Geld? Wenn Sie ablehnen, bekommt die Forscherin das Geld zurück, und sie gehen beide leer aus.
Die meisten Versuchspersonen lehnen Angebote von nur drei Euro ab. Bestrafen unfaires Verhalten, selbst wenn sie dafür auf echtes Geld verzichten müssen. Eine Entscheidung mit moralischer Dimension: um eine Gerechtigkeitsregel zu verteidigen, schadet man dem unfairen Mitspieler und sich selbst. Der Clou an diesem Labor-Spiel: Es erlaubt, die Bedeutung der Fairness nicht nur philosophisch zu durchdenken, sondern über die realen Reaktionen vieler Menschen auch objektiv zu messen.
"Wir nutzen dieses Spiel in unseren Experimenten. Wir verändern die Hirnchemie der Leute und schauen: beeinflusst es, ob sie ein unfaires Angebot annehmen oder ablehnen?"
Dr. Molly Crocket, ein Shootingstar an der Grenze zwischen Gehirn und Moral. Derzeit arbeitet sie am Labor zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme der Universität Zürich. Ihre Versuchspersonen müssen auf Sojabohnen, Nüsse und Fleisch verzichten. Denn diese Lebensmittel enthalten viel Tryptophan, eine Vorstufe des Botenstoffs Serotonin.
Serotonin, der soziale Botenstoff, umgangssprachlich "Glückshormon". Der Neurotransmitter dämpft bei Hummern die Kampfbereitschaft, fördert bei Heuschrecken die Schwarmbildung und bei Affen den Rang in der Gruppe. Ein Mangel an Serotonin kann beim Menschen zu Aggressionen, Ängsten und Depressionen führen. Umgekehrt stärkt ein hoher Serotoninspiegel das Wohlbefinden.
"Wir haben Leuten Essen mit wenig Tryptophan gegeben und so den Serotoninspiegel in ihrem Gehirn gesenkt. Daraufhin haben sie unfaire Angebote eher abgelehnt, sie können Unfairness weniger ertragen. Später haben wir mit Antidepressiva den Serotoninspiegel erhöht. Das hat den umgekehrten Effekt, die Toleranz für unfaire Angebote steigt."
Ein Medikament, das rationale Denkprozesse unterstützt, zeigte dagegen keinerlei Einfluss.
Serotonin stärkt das Mitgefühl, stimmt versöhnlich, selbst gegenüber unfreundlichen Mitmenschen. Damit beeinflusst Serotonin eindeutig messbar den Umgang mit der Norm der Fairness. Die philosophische Dimension ihrer Experimente ist für Molly Crocket dagegen sehr viel schwerer zu fassen.
"Jemand könnte ein unfaires Angebot ablehnen, weil Fairness wichtig ist und er diese Norm stärken will. Aber vielleicht lehnt er das unfaire Angebot auch ab, um dem anderen zu schaden, um Rache zu nehmen. Das sind sehr unterschiedliche Motive. Die Durchsetzung von Normen in der Gesellschaft möchten wir vielleicht stärken, Rachegelüste können dem sozialen Zusammenhalt aber sehr schaden."
Sollte ein Moraldoping also versuchen, das Mitgefühlt zu stärken, oder eher das Bewusstsein für soziale Regeln?
"Die größte Herausforderung für eine Moralverbesserung ist, es gibt kaum Einigkeit darüber: was ist Moral?"
Im angelsächsischen Raum überzeugt der Utilitarismus: Nach Jeremy Bentham lautet die Richtschnur der Moral: das größte Glück der größten Zahl. Es ist richtig, einen Dicken vor den Zug zu schubsen um fünf Gleisarbeiter zu retten. Falsch, würde Immanuel Kant sagen. Der einzelne Mensch darf nie nur Werkzeug einer Handlung sein, er muss immer auch ihr Ziel sein. Pflichtethiker würden im Experiment die Norm der Fairness unbedingt verteidigen. Dagegen könnte ein christlicher Ethiker meinen: gottgefällig sei, die andere Wange hinzuhalten.
"Eine Norm wie Fairness, die muss man begründen. Und warum sollten wir Fairness kultivieren in unserer Gesellschaft? Warum sollten wir Leiden minimieren? Warum sollten wir uns solidarisch verhalten?"
Thomas Metzinger, Philosophieprofessor an der Universität Mainz, ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Neuroethik.
"Sie und ich, wir wollen vielleicht, dass prosoziales Verhalten, Empathie oder Altruismus gefördert wird. Herr Rösler hat da vielleicht eine ganz andere Meinung zu. Es könnte auch unterschiedliche politische Richtungen geben, die zum Beispiel ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was ein ethisch integerer Bürger ist. Oder wie er denn aussehen soll, der kultivierte Mensch der Zukunft. Und viele stellen sich da eigentlich eher faire aber rationale Karrieristen vor und andere Leute vielleicht ein bisschen ineffiziente Empathiker."
"Es klingt so offensichtlich: Wir sollten alle Menschen altruistischer machen."
Doch gerade dem Offensichtlichen misstraut Owen Schaefer. Der Philosophiestudent ist so etwas wie der hauseigene Kritiker des Moraldoping am Uehiro Center in Oxford. Mitgefühl klingt gut, sagt er, aber es spricht doch vieles dafür, dass in Sachen Moral das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
"Ein breites Moraldoping würde unsere aktuellen Vorstellungen für immer festschreiben. Wir sollten Raum für Meinungsverschiedenheiten lassen und uns nicht vorzeitig auf einen Moralkanon festlegen."
Am Uehiro Center diskutiert Owen Schaefer auch mit Prof. Guy Kahane. Der meint: bei all dem Streit um verschiedene Moralsysteme blieben doch Gemeinsamkeiten.
"Ein Beispiel: die meisten Leute halten Rassismus für eine schlechte Sache, für etwas, das wir abbauen oder verhindern sollten."
Gerade über Neurobiologie der Vorurteile gibt es umfangreiche Daten. Dabei zeigt sich immer wieder, dem Rassismus liegt eine Angst vor dem Fremden zugrunde. In einem gewissen Maß gibt es diese Ängste bei jedem Menschen, dafür sind auch die Mandelkerne verantwortlich. Diese Mandelkerne sind bei den Kindern mit dem Williams Syndrom fast gar nicht aktiv. Das macht sie gewissermaßen frei von Vorurteilen, wie Andreas Meyer Lindenberg belegen konnte.
"Sie haben keinerlei Bevorzugung ihrer eigenen ethnischen Gruppe. Sind damit die ersten, bei denen das überhaupt gefunden wird und dadurch in der Tat eine Bestätigung dieser Idee, wenn man es wieder auf die Frage der Moral wendet, dass solche Themen negativer unbewusster emotionaler Vorgänge dann wirklich auch in die Formierung unserer moralischen oder zumindest handlungsleitenden Konzepte eingreifen."
"Wenn Sie jemanden einstellen, dann denken Sie vielleicht, sie sind unparteiisch, sehen sich nur den Lebenslauf an. Aber es gibt Hinweise, dass sie unbewusst reagieren, wenn der Bewerber schwarz ist, eine Frau oder einer Minderheit angehört. Die unbewussten Vorurteile haben wichtige Konsequenzen im praktischen Leben."
Solche unwillkürlichen Angstreaktionen beeinflussen selbst Personen, die rassistische Gedanken weit von sich weisen. Der Philosoph Guy Kahane hat nun gemeinsam mit Hirnforschern versucht, die Mandelkerne toleranter zu machen. Mit Hilfe von Propranolol.
Propranolol, ein Beta-Blocker. Das weit verschriebene Herzmedikament senkt den Blutdruck und den Puls. Es wirkt beruhigend, nicht nur auf das Herz, sondern indirekt auch auf den Geist. Das Gehirn bewertet die Stärke einer Emotion auch nach deren körperlichen Begleiterscheinungen. Wenn der Puls gleichmäßig bleibt, lässt die Angstreaktion nach.
"Leute, die dieses Medikament bekommen haben, zeigen in einem psychologischen Test dramatisch weniger unbewusste Vorurteile. Das Medikament hat keinen Einfluss auf bewusste Einstellungen. Die Antworten auf die Frage sind sie für oder gegen Schwarze? bleiben gleich. Aber auf der vorbewussten Ebene gibt es deutliche Veränderungen. Konkret reagieren die Mandelkerne viel weniger auf schwarze Gesichter, wenn man dieses Medikament nimmt."
Sollte also eine Pille Propranolol vor Bewerbungsgesprächen zur Pflicht werden? Vorsicht, mahnt Owen Schäfer. Er fürchtet, dass der chemische Eingriff ins Gewissen die Persönlichkeit verändert.
"Die klassischen Methoden zur Stärkung der Moral, also die Erziehung, das Rechtssystem, die wirken von außen, sie verändern nicht die eigenen Gedanken. Diese biologischen Methoden sind da ganz anders, sie greifen direkt in die Hirnchemie ein. Das ist fast eine Gehirnwäsche."
Gerade wenn Moraldoping wirkt, so sein Argument, darf es nicht angewandt werden, denn es würde den Kern der Persönlichkeit treffen. Falsch, kontert Anders Sandberg: Zur Freiheit des Menschen gehöre zwar untrennbar auch die Freiheit, das Falsche zu tun. Aber das Beispiel Vorurteile zeige, dass es Bereiche in uns gibt, die wir aus guten Gründen ändern wollen aber nicht ändern können. Der Wunsch abzunehmen ringt mit dem Appetit auf Sahnetorte, die lebenslange Liebe mit der kurzfristigen Lust. Anders Sandberg:
"Also ich glaube, richtig angewandtes Moraldoping könnte uns sogar authentischer machen. Einfach eine Pille zu nehmen, um irgendwie besser zu werden, das ist nicht authentisch. Sie zu nehmen, um bewusst ein bestimmtes Selbstbild zu erreichen, das ist sehr authentisch. Unser wichtigstes moralisches Problem ist nicht, dass wir nicht wissen, was wir tun sollen, sondern dass wir zu faul sind, es tatsächlich zu tun."
Die Scheidungszahlen belegen, gerade auf dem Gebiet der Liebe ist es schwer, einer einmal gefassten Entscheidung treu zu bleiben. Dabei wollen beide Partner beim Jawort, dass die Ehe ewig hält. Ein wenig biochemische Hilfestellung wäre hier im ureigenen Interesse von Mann und Frau, argumentieren Anders Sandberg und Julian Savulescu in einem Fachartikel.
"In der Evolution wurden wir nicht dazu gemacht, eine Paarbeziehung über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten. So lange haben wir gar nicht gelebt. Wir schlagen also vor, etwas zu entwickeln, das diese Bindung stärkt."
Zutaten für den Treuetrank: Oxytocin für die Nähe, Testosteron für die Aufregung, vielleicht ein Schuss des Hormons CRH, um Trennungsängste zu steigern. Auch Anders Sandberg glaubt nicht, dass eine Pille ewige Treue garantieren kann. Aber wenn die Situation stimmt, ein romantisches Abendessen oder ein langer Spaziergang zu zweit, dann kann eine Pille wahrscheinlich den Effekt verstärken.
"Das ist entscheidend. Eine Pille enthält nicht viel Information, sie beeinflusst einfach irgendwie das Gehirn. Wichtig für die Beziehung ist, den Partner wirklich wahrzunehmen. Dann feuern genau die Nerven, die sie füreinander attraktiv machen, und dann können diese Verbindungen gestärkt werden."
Moraldoping wird nie nur über Pillen allein funktionieren. Mindestens genauso wichtig sind der äußere Zusammenhang und die innere Einstimmung des Menschen. An diesem Punkt setzen schon seit Jahrtausenden die Techniken der Meditation an.
Meditation - östlicher Weg zur Moral. In Indien oder Tibet beginnen die Menschen aus moralischen Überzeugungen mit der Meditation, weniger um den eigenen Geist zu erweitern, als um der Gemeinschaft zu dienen. Egal ob man sich in den eigenen Atem versenkt oder bei der Liebe-Güte-Mediation eine freundliche Haltung gegenüber allen fühlenden Wesen einübt, die Meditation führt zu einer Veränderung auch der Emotionsschaltkreise im Gehirn.
"Ich bin überzeugt, der beste Weg Empathiezentren im Gehirn zu stärken, besteht im Trainieren des Verhaltens und des Geistes."
Prof. Richard Davidson vom Labor für die Neurowissenschaften der Gefühle an der Universität von Wisconsin in Madison.
"Nervenschaltkreise, die etwas mit Empathie zu tun haben, werden zum Beispiel bei der Mitgefühlsmeditation aktiviert."
Richard Davidson hat solche Effekte bei buddhistischen Mönchen nachgewiesen, die seit Jahrzehnten meditieren. Aber auch ein einziger Tag Training in einer Mitgefühlsmeditation reicht offenbar aus, um Versuchsteilnehmer kurzfristig hilfsbereiter zu machen. Und nach einem einwöchigen Kurs reagieren sie in Experimenten empfindlicher auf die unfaire Behandlung anderer. Dabei könnten theoretisch unterschiedliche Motive eine Rolle spiele: erstens dem Opfer helfen zu wollen, oder zweitens den Täter in seine Schranken zu weisen.
"Das hat uns konkret interessiert. Wir haben Situationen untersucht, bei denen nur die Bestrafung oder nur die Hilfestellung möglich war. Dabei zeigt sich eindeutig, dass die Mitgefühlsmeditation die Hilfsbereitschaft stärkt und nicht den Willen zur Bestrafung."
Es müssen also nicht immer Pillen sein. Es gibt neben der Erziehung und dem Justizsystems noch andere, innovative Wege zur Stärkung des Moralempfindens.
"Ich glaube aber, es ist wichtig, eines nicht zu vergessen. An der Oberfläche wirkt die Meditation nicht sehr biologisch, eine Pille schon. Doch am Ende verändern all diese Methoden irgendwie das Gehirn, letztlich ist alles Biologie."
Viele Wege führen zum selben Ziel, so Molly Crocket. Es scheint tatsächlich wirksame Methoden zu geben, um die menschliche Moral zu beeinflussen. Und es gibt zumindest Ansätze, Einigkeit über erste, bescheidene Ziele eines solchen Moraldopings zu erreichen. Doch wo es erwünschte Wirkungen gibt, da finden sich auch Nebenwirklungen.
Oxytocin – die dunkle Seite der Moral. Neuere Studien zu Oxytocin zeigen, dass das Bindungshormon vor allem den Zusammenhang innerhalb der eigenen Gruppe stärkt. Außenseiter werden dagegen unter dem Einfluss eines Oxytocinsprays negativer beurteilt. Außerdem verstärkt Oxytocin die Neigung zur Schadenfreude. Aus Gründen der Sparsamkeit nutzt die Evolution ein und dasselbe Molekül oft für ganz verschiedene Zwecke.
"Zu viel Oxytocin ist auch nicht gut. Man könnte genauso gut sagen, zu viel Serotonin ist sicherlich auch nicht gut, und dasselbe gilt denke ich auch für die anderen Systeme. Insofern bin ich da sehr skeptisch, einfach weil ich nicht sehe, dass es im Gehirn jetzt ein monolithisches System für die Moral gibt, das man sozusagen ölt und dann funktioniert alles besser."
Komplexe Systeme, vielfältige Effekte, Wirkungen und Nebenwirkungen – jeden Tag suchen Ärzte in solchen Gemengelagen nach dem besten Weg für ihren Patienten. Ähnlich pragmatisch würden künftige Moraltherapeuten wohl auch mit ihren Wirkstoffen umgehen, meint Guy Kahane.
"Sie wären Teil eines Therapiekonzeptes, sie hätten Nebenwirkungen und Grenzen und wir würden nicht ganz genau verstehen, wie sie wirken. Aber in ein paar Jahrzehnten könnten sie breit eingesetzt werden. Wir sollten das nicht als Science Fiction abtun, sondern überlegen, wie wir das am besten handhaben."
"Betrüger würden wohl sagen: großartig. Alle anderen nehmen die Pillen, und ich bin der König."
Wer ein Moraldoping am nötigsten braucht, ist vielleicht am wenigstens dafür empfänglich, fürchtet Anders Sandberg. So zeigen die Experimente von Molly Crocket, dass Menschen mit sowieso schon hohen Empathiewerten am stärksten auf die Veränderung des Serotoninspiegels reagieren.
"Das ist eines der Probleme mit der Moral. Wenn man Pillen hat, die einen schneller rennen lassen oder das Gedächtnis stärken, dann wollen sie alle haben. Aber eine Pille, die dich nett macht? Dafür gäbe es wohl kaum einen Schwarzmarkt. Das ist einfach keine starke menschliche Motivation."
Antiandrogene – Moraldoping heute. Medikamente, die das männliche Hormon Testosteron blockieren, dämpfen den Sexualtrieb deutlich. Einige Männer mit pädophilen Neigungen nehmen sie freiwillig, um nicht zur Gefahr für Kinder zu werden. Und in einigen Ländern können sich Sexualstraftäter für eine solche chemische Kastration entscheiden, um frühzeitig aus dem Gefängnis zu kommen.
Das alles ist ethisch akzeptiert. Die Gesellschaft hat Wege gefunden, diese Medikamente bei Personen durchzusetzen, die sie ohne äußeren Druck wohl nicht nehmen würden. Ähnliche Strategien könnten ein künftiges Moraldoping begleiten. Probleme sieht Guy Kahane aber nicht nur bei einzelnen Moralverweigerern, sondern auch im Zentrum der Gesellschaft.
"Je mehr wir verstehen, wie man Leute besser machen kann, desto leichter wird es auch, sie schlechter zu machen. Es ist eine Gefahr, dass es falsch eingesetzt wird, von Regierungen, Militärorganisationen oder wem auch immer."
Moral forte – die Pille für eine friedliche Zukunft. Enthält Oxytocin, Serotonin und Moleküle, von denen wir bislang gar nichts wissen. Alternativ verschreiben die Philosophen Meditation oder die Ethik-App fürs Smartphone. Es gibt sie nicht nur für Android oder Windows, sondern auch für Kantianer und Utilitaristen, Christen oder Buddhisten. Jeder hat die freie Wahl. Nur Politiker, Topmanager und Personalchefs werden zur Einnahme verpflichtet, wenn ihre Vorurteilswerte die Norm übersteigen.
"Ein spannender Befund lautet: die Empathiewerte amerikanischer Studenten sind seit den Siebzigern deutlich gesunken. Die Leute sind heute weniger mitfühlend und dafür selbstbezogener."
Bei aller Kritik gäbe es durchaus Bedarf für ein künftiges Moraldoping.
"Egal ob wir nun Moralpillen nehmen oder nicht, unser moralischer Charakter verändert sich. Die Leute kümmern sich nicht mehr so um andere wie früher. Die meisten Menschen dürften das für eine schlechte Entwicklung halten. Also, selbst wenn wir nicht zu Superempathikern werden wollen, wir sollten uns zumindest so mitfühlend machen wie früher."
Schon allein das wäre eine gewaltige Aufgabe für eine kleine Kapsel. Moraldoping ist längst nicht effektiv genug, um das Verhalten einer relevanten Zahl von Menschen zum Besseren zu verändern. Dennoch, man sollte die chemische Optimierung des Moralgefühls nicht vorschnell abtun, so der Philosoph Thomas Metzinger.
"Nur weil etwas ein bisschen verrückt klingt, "Pille" oder "Buddhismus", das ist kein Argument dafür, dass man es sich nicht ganz genau anschauen muss und kritisch prüfen muss, ob es verwendbar ist. In der gegenwärtigen Situation können wir uns es einfach nicht mehr leisten, Sachen selbstgefällig lächelnd beiseite zu schieben oder zu ignorieren."