Der Dschungel. Hier leben Pflanzen und Tiere, wie man sie sich unterschiedlicher nicht vorstellen kann. Nimmt man den ganzen Erdball, bevölkern Millionen verschiedenster Arten die Erde. Der Mensch, eine ganz eigene Art, erkennt und klassifiziert sie.
Markus Pfenniger: "Es gibt Arten da draußen!"
Werner Kunz: "Die Frage, ob Arten existieren, ist kompliziert."
Martin Plath: "Wenn ich es ganz spontan sagen soll, brauche ich den Artbegriff eigentlich gar nicht."
Kerstin Hoef-Emden: "Es gibt keinen Konsens, das ist schon mal klar."
Zunächst schuf Gott die Arten und alles schien klar. Doch dann kam Charles Darwin, nun waren Arten Produkte einer Evolution, die dem Prinzip der Veränderung gehorchten. Jetzt musste der Mensch selbst festlegen, ob etwas ein Barsch oder eine Brasse ist, eine Zwerg- oder Strauchbirke, eine Nebel- oder Saatkrähe. Darwin stellte schon vor 150 Jahren fest, dass es schwer sei, Arten wissenschaftlich zu definieren. Seine Nachfolger formulierten immer neue Lösungsvorschläge für das Artenrätsel, mit dem Ergebnis, dass heute über 20 verschiedene Artbegriffe kursieren. Können Arten, wenn sie so frei definierbar sind, überhaupt etwas Reales bezeichnen? Werner Kunz vom Institut für Genetik der Universität Düsseldorf
"Arten in verschiedenen Gruppen von Tieren und Pflanzen werden unterschiedlich definiert und es gibt so eine generelle Regel: sehr hoch entwickelte, gut bekannte Gruppen wie zum Beispiel Säugetiere, da ist man sehr - ich sage mal so - 'großzügig', da wird vieles als eine Art zusammengefasst. Also wenn sie zum Beispiel in Afrika sich bestimmte Gazellen und Antilopenarten ansehen, die in verschiedenen Teilen überhaupt nicht miteinander Kontakt haben, weil sie sehr isoliert vorkommen, und die sich auch unterscheiden, das ist dann doch alles immer eine Art. Wenn man aber primitivere Organismen ansieht, wirbellose, dann ist sehr schnell eine Tendenz da, alles, was anders aussieht, dann auch als eigene Art zu deklarieren."
Auch innerhalb bestimmter Tiergruppen, kritisiert Werner Kunz, teilen Forscher Arten nach unterschiedlichen Traditionen ein. Es gibt die "lumper", die, die vieles in einen Topf werfen, und die "splitter", die im Zweifelsfall eher eine eigene Art sehen.
"Die Schmetterlingsleute, die haben die Tendenz auch sehr viel zusammenzufassen zu einer Art, das wären also lumper. Und Ameisenleute, die folgen einem Trend, alles zu splitten. Das ist schon relativ problematisch, diese Situation."
Denn für Werner Kunz untergräbt das den Zweck der Artenbestimmung: einen Konsens herzustellen, mit dem sich Organismen zählen und miteinander vergleichen lassen.
"Wenn ich sage, in diesen zehn Hektar Regenwald leben 200 Ameisenarten, aber nur 20 Schmetterlingsarten, dann vergleiche ich Äpfel mit Birnen. Die Einheiten so, wie sie in den beiden Gruppen Ameisen - Schmetterlinge gezählt werden, sind in vieler Beziehung schwer miteinander vergleichbar."
Gerade heute, wo der Artenbestand im Zeichen des Artenschutzes exakt erfasst werden muss, ergibt sich ein neues Problem: Die Wissenschaftler neigen offenbar in zweifelhafter Weise dazu, immer mehr Arten zu "entdecken". Der renommierte Biologe James Mallet von der amerikanischen Harvard University kritisiert jedenfalls eine "Inflation der Arten".
"Es gibt heute zum Beispiel doppelt so viele Arten unter den Primaten wie noch 1980! Und zwar vor allem deshalb, weil bestimmte Organismen, die früher als geographische Unterarten angesehen wurden, plötzlich als volle Arten geführt werden."
Für Werner Kunz liegt das alles daran, dass die Biologen in der Artenfrage inzwischen viel zu pragmatisch vorgehen. Man arbeite mit einem Artbegriff, der annähernd zur eigenen Fachdisziplin passt. Die philosophische Frage, was denn eine Art sei, werde demgegenüber sträflich vernachlässigt
"Naturwissenschaftler haben doch sehr stark den Anspruch, dass sie etwas von grundlegenden Gesetzmäßigkeiten her erklären. Also ich kann nicht einfach sagen, ich gruppiere die Dinge nach der Eigenschaft und die nach der Eigenschaft, dann habe ich zwei Arten und das genügt mir. Sondern man will eine zu Grunde liegende Theorie oder einen Algorithmus, also eine theoretische Anleitung, wie ich etwas begründe und gesetzmäßig herleite, damit ich zu solchen Aussagen überhaupt komme. Das ist etwas völlig anderes als eine pragmatische Einteilung."
Wie begründet und widerspruchsfrei also sind die verschiedenen Artkonzepte, mit denen heute die Vielfalt des Lebens klassifiziert wird? Die Biologen sind sich zumindest darin relativ einig, dass sich die 20 kursierenden Artbegriffe um drei Grundkonzepte herum gruppieren.
Ein wildes Vogelgezwitscher. Laien werden kaum heraushören können, ob es sich um Vögel einer einzigen oder verschiedener Arten handelt. Taxonomen aber sollen das können. Sie sind die Spezialisten in Klassifizierungsfragen. Woran erkenne ich verschiedene Arten? Klassischerweise benutzen Taxonomen das so genannte typologische Artkonzept. Organismen, die typische gemeinsame Merkmale aufweisen, gehören zu einer Art. Solche Merkmale können unter anderem die Gestalt, das Farbmuster oder Verhaltensweisen eines Organismus sein. Werner Kunz:
"Dieses Artkonzept ist konsequent nicht durchhaltbar. Es stößt auf starke, deutliche Widersprüche und zwar deswegen, weil alle Arten immer wieder auch Ausnahmen enthalten."
Wale sehen zwar Fischen sehr ähnlich, sind aber Säugetiere. Ein anderes Beispiel sind die Geier der neuen Welt, zu denen der Kondor gehört.
"Die sehen aus wie unsere Geier mit nacktem Hals, sie gehen an Aas, sie kreisen ohne Flügelschlag in der Thermik. Aber heute weiß man mit Sicherheit, dass es überhaupt keine Geier sind. Geier gibt es nur in der Alten Welt in Europa, Asien und Afrika und Australien. Die sind nur deshalb so wie Geier aussehend, weil sie gleiche Verhaltensweisen haben und verwandtschaftlich gehören sie ganz nah an die Störche."
Das zweite große Artkonzept, das kladistische , orientiert sich denn auch am Verwandtschaftsgrad der Organismen. Alle Organismen, die voneinander abstammen, gehören zu einer Art. Mit Hilfe von Genanalysen untersucht die Kladistik, wann sich Organismen von ihren Vorfahren abkoppeln und so zu einer neuen Art werden. Das führt zu dem bekannten Stammbaum des Lebens, bei dem sich bestimmte Abstammungsäste immer wieder zu neuen Arten verzweigen. Allerdings gehen die meisten Wissenschaftler heute davon aus, dass das gesamte Leben auf der Erde einen gemeinsamen Vorfahren hatte. Wenn aber alle Organismen miteinander verwandt sind, scheint es willkürlich zu sein, Arten zu unterscheiden. Für James Mallet von der Harvard University geht das kladistische Artkonzept auch aus anderen Gründen in die Irre.
"Die Kladistik geht davon aus, dass es nur Verzweigungen aber kein Netzwerk zwischen den Arten gibt. Aber Genvernetzungen sind extrem häufig. Zum Beispiel ahmen in einer Schmetterlingsgruppe der so genannten Heliconiiden bestimmte Arten das Farbmuster anderer Schmetterlingsarten nach. Außerdem haben diese Schmetterlinge auch Regionen ihres Genoms untereinander ausgetauscht. Zumindest zwei dieser Genregionen, die das übernommene Farbmuster kodieren, haben eine völlig andere Abstammung als die restlichen Gene. Offenbar hat sich hier ein altes Genmuster allmählich auf ganz verschiedene Arten ausgebreitet. Seit wir Gene sequenzieren wird immer deutlicher, dass der Baum des Lebens von Gentransfers durchsiebt ist. Man sollte daher gar nicht mehr vom Baum des Lebens sprechen, sondern vom Netz des Lebens."
Wegen dieser Probleme des typologischen und kladistischen Artkonzepts spielt heute vor allem das so genannte biologische Artkonzept die Hauptrolle. Demnach gehören alle Lebewesen zu einer Art, die sich untereinander fortpflanzen und dabei wiederum fortpflanzungsfähigen Nachwuchs erzeugen. Die Mitglieder schaffen dabei durch sexuellen Austausch einen gemeinsamen Genpool. Werner Kunz:
"Darunter versteht man ganz einfach, dass die Gene sich alle vermischen und das schafft völlig klar und sehr gut einsehbar eine Gemeinsamkeit zwischen allen Individuen einer Art. Das ist der Artbegriff der Reproduktionsgemeinschaft."
In Reproduktionsgemeinschaften sollen sich die Artmitglieder direkt sexuell miteinander reproduzieren können. Der Begriff der Genflussgemeinschaft fasst den biologischen Artbegriff dagegen etwas weiter. Entscheidend ist, dass zwischen verschiedenen Lebewesen Gene geflossen sind, manchmal bestand dabei nur indirekt Kontakt. Kunz:
"Die ostasiatische Kohlmeise ist dann mit der chinesischen über Genfluss verbunden, die chinesische mit der russischen, die russische mit der polnischen und die polnische mit der westeuropäischen. Also es geht wie die Glieder einer Kette Stück für Stück, und damit entfällt der Zwang, der in der Definition der Reproduktionsgemeinschaft steht, dass tatsächlich die entfernten Individuen sich miteinander reproduzieren können müssen. Sie sind trotzdem verbunden, über den Genfluss nach dem Modell einer Kette."
Schon die Tatsache, dass die Wissenschaftler verschiedene Begriffe verwenden, zeigt, dass auch das biologische Artkonzept Probleme aufweist. Zum Beispiel gilt es nur für Organismen, die sich sexuell fortpflanzen. Er schließt daher ungeschlechtlich sich fortpflanzende Lebewesen wie einzellige Bakterien, Algen oder viele Pflanzen aus. Eine andere Schwierigkeit sind die Bastarde oder Hybride. Kunz:
"Auch das weiß man heute viel mehr als man das früher geglaubt hat. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass zwei Arten, die durchaus nicht mehr sehr nahe miteinander verwandt sind, immer noch gelegentlich die Artschranke missachten und dann miteinander hybridisieren. Und das hat sehr häufig keine üblen oder schadbringenden Konsequenzen. Ein Hybrid hat zur Hälfte die Gene und Merkmale der einen Elternart und zur anderen Hälfte der anderen Elternart, also kann ein Hybrid überhaupt nicht zugeordnet werden. Die Logik sagt, dass es ein artloser Organismus ist oder einer, der zu beiden Arten gleichzeitig gehört. Und das ist schon nicht so einfach lösbar und ist eine große Schwierigkeit des Artkonzeptes der Genflussgemeinschaft."
Immer mehr Hybride werden entdeckt, im Pflanzenreich zum Beispiel bei den Bedecktsamern, zu denen Süßgräser, Hülsenfrüchte oder Rauten- und Rosengewächse gehören. Aber auch Schmetterlinge, Vögel, Enten, Wasserflöhe, Muscheln und Schnecken neigen dazu. Auch bei der Hausmaus scheint es Hybride zu geben. Eine neuere Studie legt sogar nahe, dass Homo sapiens und Neandertaler miteinander hybridisiert haben könnten.
Im Keller des Biologicums der Universität Frankfurt. Privatdozent Martin Plath vom Institut für Ökologie und Evolution führt durch Räume, vorbei an Dutzenden von Aquarien. In ihnen tummeln sich Fische aus den unterschiedlichsten Regionen der Erde. Mit raffinierten Methoden werden sie untersucht.
"Wir arbeiten immer weniger naturnah, wir arbeiten immer mehr mit Versuchsbecken, die komplett eingefasst sind, wo mit Animationen gearbeitet wird, mit Computersimulation, mit 3-D- Erfassung. Das Schöne daran ist nicht nur der technische Aufwand, das Schöne da dran ist, dass wir den Fisch gar nicht mehr stören."
Etwa wenn es um Weibchen einer Population geht, die gerade dabei sind, eine neue Art auszubilden. Sie sehen dann auf einem Monitor, wie lebensecht animierte Männchen ihrer Herkunftsart oder anderer Arten auf sie zuschwimmen. Die Wissenschaftler registrieren dann die Neigung der Weibchen, sich mit einem dieser Männchen zu paaren. Will Martin Plath mit solchen Experimenten ermitteln, zu welcher Art das Weibchen gehört?
"Wenn Sie mich pragmatisch fragen, dann ist es eine Frage, die ich dankend abgebe, über Arten und Artennamen nachzudenken."
Stattdessen interessiert Martin Plath, unter welchen ökologischen Bedingungen Tiere ihre Eigenarten verändern. Zum Beispiel schwach elektrische Fische im Kongo, die verschiedene Morphe, also Gestalten entwickelt haben.
"Eine Morphe frisst mehr kleine, in der offenen Wassersäule befindliche Insekten, eine andere Morphe stochert mehr im Schlamm, eine andere mehr zwischen den Steinen und sofort haben Sie eine Aufspaltung von verschiedenen ökologischen Möglichkeiten oder ökologischen Nischen. Das Spannende an den elektrischen Fischen ist nun, dass sie für das Aufspüren von Nahrung schwache elektrische Signale abgeben. Wenn sie nun unterschiedliche Nahrung zu sich nehmen, werden sie auch unterschiedliche elektrische Signale verwenden, um diese unterschiedlichen Nahrungspartikel besser finden zu können. Wir haben zeigen können, dass die elektrischen Signale auch eine Rolle spielen bei der Partnerfindung. Und dadurch hatten wir einen Mechanismus, der automatisch reproduktive Isolation erzeugt."
Nur ein paar Kilometer Luftlinie von Martin Plaths Institut entfernt liegt das Forschungszentrum "Biodiversität und Klima". Es wird von der Universität Frankfurt und den Senckenberg Forschungsinstituten und Naturmuseen getragen. Hier forsche man in die gleiche Richtung, betont Klaus Schwenk von der Universität Koblenz-Landau, der in das Frankfurter Institut eingebunden ist
"Es gibt eben Arten, die sich in der Artbildung befinden und deswegen sind sie eben nicht so eindeutig abgrenzbar. Und weil Evolution ein gradueller Prozess ist, ist es natürlicherweise so, dass sie Arten finden, die entweder komplett getrennt sind oder sich auch in diesem Auftrennungsprozess befinden - das liegt in der Natur der Evolution."
Für die Frankfurter Forscher ist es kein Problem, wenn Arten nicht eindeutig voneinander unterscheidbar sind. Man müsse nur verstehen, in welchem evolutionären Stadium sie sich gerade befinden. Schwenk:
"Viele, viele Gruppen, die wir untersuchen, die sind in der klassischen taxonomischen Literatur beschrieben als 'schwierigste Gruppe' und es gibt Publikationen, da steht in den Überschriften drin, das ist eine kontinuierliche Frustration, mit denen zu arbeiten, also die Taxonomen seit 100 Jahren sind frustriert. Jetzt wissen wir, warum! Es gibt Hybride, es gibt kryptische Arten, wir können das jetzt erklären, warum diese Probleme auftreten und wir können sie auch jetzt beschreiben, denn wir können die Merkmale, die die klassischen Taxonomen benutzt haben, die Körpergröße, Breite und so weiter, wir können das vermessen und direkt einen Bezug herstellen: das sind die problematischen Gruppen, die nicht einzuordnen sind und wir finden in der Genetik, aha, das sind Hybride, damit haben wir das Problem erklärt!"
Geklärt werden konnte so immerhin der Fall von Wasserschnecken der Gattung Radix. Die Tiere sind bis zu 2,5 Zentimeter groß, leben gerne im Schlamm und besitzen ein hellbraunes Gehäuse mit nur wenigen Windungen. Allerdings unterscheiden sich die Gehäuse auch. Handelt es sich dabei um verschiedene Arten oder nur um Varianten ein und derselben Art? Um diese Frage zu beantworten, sammelten die Frankfurter an 280 Orten in Europa jeweils mehrere Exemplare und dokumentierten deren Lebensweise. Dann verglichen sie detailliert die Gestalt der Schneckenhäuser. Professor Markus Pfenniger vom Frankfurter Forschungsinstitut.
"Wir haben jedes einzelne Individuum auf den Scanner gelegt und haben für jedes einzelne Individuum entsprechende Formparameter dann entnehmen können: das Schneckengehäuse. Und was wir festgestellt haben ist, dass es sich bei diesen Arten sehr wohl um klar getrennte Arten handelt, dass es aber absolut unmöglich ist, aufgrund der Morphologie diese Arten voneinander abzugrenzen. Wir haben sie als Arten identifizieren können, weil die genetischen Daten darauf hinweisen, dass es keinerlei Genfluss zwischen ihnen gibt."
Integrative Ansätze nutzen ökologische Daten über die Lebensweise und Merkmale der Organismen. Und sie nutzen Genanalysen. Diese gewinnen allerdings immer mehr an Gewicht, weil immer neue Methoden zur Verfügung stehen. Zum Beispiel das so genannte Barcoding. Hier vergleicht man kleine Genabschnitte wie bei einem Strichcode. Die Barcoding-Maschinen arbeiten schnell, sollen eine Erfolgsrate von circa 90 Prozent haben und gelten als moderner Ersatz für die klassische Taxonomie. Da es immer weniger Taxonomen gibt, hat man begonnen, die Arten der Erde mit Hilfe dieser Methode zu durchforsten. Die Wissenschaftler analysieren aber auch ganze Genome, bestimmen, wie stark sich die Basenpaare verschiedener Lebewesen unterscheiden. Für James Mallet von der Harvard University steckt darin bereits die Lösung des Artenproblems.
"Mit der Analyse des gesamten Genoms und den computergestützten statistischen Methoden haben wir jetzt neue Möglichkeiten. Wir können Arten identifizieren, ohne zu wissen, ob sich ihre Mitglieder mit anderen noch fortpflanzen können. Es genügt, wenn wir leicht voneinander unterscheidbare genetische Gruppen von Lebewesen in einem Gebiet finden. Dann sind es verschiedene Arten."
Für James Mallet haben die alten Artbegriffe ihre Dominanz verloren. Ähnlich sieht es Markus Pfenniger:
"Wir kommen jetzt ja durch die methodische Revolution einfach zu einem sehr viel dynamischeren Bild des Genoms. Das heißt aber nicht, dass unbedingt das Artkonzept jetzt obsolet wird. Wir können Inseln der Artbildung innerhalb des Genoms behalten trotz und in Gegenwart von Genfluss zwischen verschiedenen Arten. Also bestimmte Bereiche des Genoms können frei ausgetauscht werden, während andere Teile trotzdem als Blöcke erhalten bleiben. Also das wird in Zukunft noch sehr, sehr viel dynamischer werden unser Bild der Artbildung und der Art, und ich hoffe, dass es nicht 250 Jahre dauert, bis die Taxonomie die Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie mit in ihre Forschung einbezieht."
Das Biozentrum der Universität Köln. Privatdozentin Kerstin Hoef-Emden präsentiert hier Besuchern gerne die Algensammlung. Auf silbernen Regalen Dutzende Wasserbehälter aus Glas. In einigen von ihnen leben winzige Einzeller, die in Süßgewässern oder Meeren vorkommen: so genannte Cryptophyceen. Die Cryptophyceen besitzen kaum hervorstechende äußere Merkmale. Schon von daher hat Kerstin Hoef-Emden mit ganz besonderen Problemen zu kämpfen, wenn sie die Algenarten bestimmen will. Dennoch betrachtet sie den Trend, Arten mit Hilfe gentechnischer, statistischer Analysen zu bestimmen, skeptisch.
"Das ist von Evolutionslinie zu Evolutionslinie wahrscheinlich unterschiedlich. Es gibt einfach keine Möglichkeit, wo man übergreifend sagt: hier, vier Prozent genetische Divergenz, das ist dann eine neue Art. Das funktioniert in der einen Gruppe aber in der anderen nicht."
Generell, unterstreicht Kerstin Hoef-Emden, seien alle Genanalyseverfahren fehleranfällig. Und es kann passieren, dass einfach zu wenige Lebewesen gesammelt und untersucht wurden. Dann entdecken die Sequenzierapparate wegen der wenig repräsentativen Stichprobe womöglich größere genetische Lücken, obwohl sie innerhalb einer Tier-oder Pflanzengruppe so gar nicht existieren. Hoef-Emden:
"Es gibt, glaube ich, keine computergestützte oder überhaupt keine Methode, sagen wir mal so, wo man absolut sicher sein kann. Computer arbeiten nach Algorithmen, die Programme sind immer nur so gut wie die Programmierer gut sind. Und egal, was man macht, man muss immer ein menschliches Gehirn im Hintergrund haben, was den erweiterten Horizont sieht. Man muss es immer überprüfen, das wird, je größer die Datenmengen werden, umso schwieriger wird es natürlich."
Bei unklaren Fällen sprechen die Forscher heute nicht mehr von Arten, sondern von "operationalen taxonomischen Einheiten". Damit lässt sich auch beim Artenschutz arbeiten. Einige Wissenschaftler haben sogar vorgeschlagen, nicht mehr Artennamen zu vergeben, sondern einfach Nummern für bestimmte Gruppen von Lebewesen: Technische Lösungen, die das Kernproblem nicht lösen – und womöglich ein neues schaffen:
Im Labor des Instituts für Zellbiologie der Universität Bern klopft Professor Eduardo Moreno ein Glasröhrchen mehrfach auf einen Tisch. Mehrere Exemplare von Drosophila melanogaster fliegen darin herum, zwei bis 2,5 Millimeter kleine "schwarzbauchige Taufliegen". Vom Klopfen ermattet liegen die Tiere schließlich auf dem Boden des Röhrchens. Eduardo Moreno schüttelt einige vorsichtig unter ein Mikroskop. Dort sieht man, dass diese Fliegen ein anderes Flügeladermuster haben als die normale Taufliege. Außerdem sind sie blind. Eduardo Moreno hat die erste synthetische Art der Welt geschaffen, indem er gezielt in die genetischen Merkmale der Fliege eingriff. Er nennt sein Geschöpf "Drosophila synthetica".
"Normalerweise sind wir Wissenschaftler Detektive. Wir versuchen herauszufinden, was in der Natur passiert. Aber das ändert sich und wir werden zu Ingenieuren oder Architekten."
Eduardo Moreno hat in der herkömmlichen Taufliege einen Genfaktor entfernt, der nötig ist, um ihre Augen auszubilden. So wurden die Fliegen blind. Außerdem veränderte sich das Adermuster ihrer Flügel. Eduardo Moreno baute in die Tiere aber auch noch etwas anderes ein: einen Tötungsmechanismus, auslösbar durch den entfernten Genfaktor.
"Wir haben also diese blinden Tiere, bei denen dieser Genfaktor und damit der Tötungsmechanismus ausgeschaltet ist. Wenn diese Tiere sich aber mit der alten Drosophila kreuzen, besitzen die Nachkommen diesen Genfaktor ja wieder. Das löst den Tötungsmechanismus aus und die Tiere sterben. Die natürliche und die synthetische Drosophila können sich daher niemals miteinander erfolgreich fortpflanzen."
Eduardo Moreno glaubt, auf diese Weise mehr Akzeptanz für die Biotechnologie schaffen zu können. Wenn die Nachkommen gentechnisch veränderter Organismen sterben, sobald sie sich mit ihren natürlichen Schwesterarten kreuzen, würden die Menschen weniger Angst vor ihnen haben. Moreno träumt von einem ganzen Reich solcher künstlicher Arten.
"Wir wollen den Mechanismus jetzt verallgemeinern. Wenn es bei Drosophila geklappt hat, kann ich das auch nutzen, um neue Arten von Pflanzen, Hunden, Katzen oder Schafen zu kreieren. Mich interessiert ein übertragbarer Mechanismus, der in verschiedenen Arten funktioniert."
Es gäbe dann also Katzen, Hunde, Pflanzen oder Schafe in doppelter Ausführung: die natürliche und die künstliche Art. Abgesehen davon, dass das die Artenzahl noch einmal aufblähen würde: ist das ein legitimer Schritt, nun plötzlich künstliche Arten ins Reich der Natur einzugliedern? Darwin hatte noch von der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl gesprochen. Werner Kunz von der Universität Düsseldorf meint zwar, dass künstliche Fortpflanzungsschranken wie die natürlichen nie absolut sei können. Aber er hat keine prinzipiellen Einwände, künstliche Arten anzuerkennen
"Selbstverständlich ist das künstlich, aber es ist vollkommen logisch gerechtfertigt, das als eine neue Art zu bezeichnen."
Was genetische Unterschiede, eigene Merkmale und Fortpflanzungsschranken aufweist, ist eine eigene Art: der technische Umgang mit den klassischen Artbegriffen erlaubt es, die Natur zu überschreiten.
Am Anfang schuf Gott die Arten. Dann kam Darwin und unterwarf die Arten dem Prinzip der Evolution. Heute ist klar, dass Leben ein dynamisch vernetztes System ist. Arten sind bloße Verdichtungen in diesem Netz und dabei stetigem Wandel unterworfen. Warum versucht der Mensch immer noch, hier Grenzen zu ziehen? Zwischen Herings-und Silbermöwe, Zitronen-und Schafstelze, Einkorn und Zweikorn, natürlich und künstlich? James Mallet:
"Mein Freund John Maynard Smith meinte einmal, es komme daher, weil der Mensch generell zum Klassifizieren neigt."
Der Begriff der Art stammt aus vordarwinistischer Zeit und erfüllte über Jahrhunderte hinweg seinen Zweck. Er bot der Forschung Orientierung, befeuerte Entdecker. Werner Kunz:
"Sagen Sie mal einem begeisterten Schmetterlings-oder Käfersammler: Na, was Du da immer neu findest sind immer deine eigenen Konzepte!"
Abschaffen will den Begriff sowieso niemand. Man behilft sich, mit einem integrativen Ansatz zum Beispiel können die meisten leben. Nur die große, philosophische Frage muss nach wie vor als ungelöst gelten. Kunz:
"Ich nehme einfach sage ich mal verschiedene Kriterien, 'Reproduktion', 'gemeinsame Abstammung bestimmter Merkmale', 'bestimmter Gene', nicht ein, sondern gleich zehn, 20 oder 100 Merkmale, aber welche Merkmale ich nehme und ob zehn oder 100 oder gar 1000, dafür gibt es keine zu Grunde liegende Regel. Und das ist, was die Befriedigung einer theoretischen Lösung des Artproblems angeht, äußerst unbefriedigend. Es ist wunderbar in der Praxis, aber es ist keine Antwort auf die Frage: was ist eine Art?"
Markus Pfenniger: "Es gibt Arten da draußen!"
Werner Kunz: "Die Frage, ob Arten existieren, ist kompliziert."
Martin Plath: "Wenn ich es ganz spontan sagen soll, brauche ich den Artbegriff eigentlich gar nicht."
Kerstin Hoef-Emden: "Es gibt keinen Konsens, das ist schon mal klar."
Zunächst schuf Gott die Arten und alles schien klar. Doch dann kam Charles Darwin, nun waren Arten Produkte einer Evolution, die dem Prinzip der Veränderung gehorchten. Jetzt musste der Mensch selbst festlegen, ob etwas ein Barsch oder eine Brasse ist, eine Zwerg- oder Strauchbirke, eine Nebel- oder Saatkrähe. Darwin stellte schon vor 150 Jahren fest, dass es schwer sei, Arten wissenschaftlich zu definieren. Seine Nachfolger formulierten immer neue Lösungsvorschläge für das Artenrätsel, mit dem Ergebnis, dass heute über 20 verschiedene Artbegriffe kursieren. Können Arten, wenn sie so frei definierbar sind, überhaupt etwas Reales bezeichnen? Werner Kunz vom Institut für Genetik der Universität Düsseldorf
"Arten in verschiedenen Gruppen von Tieren und Pflanzen werden unterschiedlich definiert und es gibt so eine generelle Regel: sehr hoch entwickelte, gut bekannte Gruppen wie zum Beispiel Säugetiere, da ist man sehr - ich sage mal so - 'großzügig', da wird vieles als eine Art zusammengefasst. Also wenn sie zum Beispiel in Afrika sich bestimmte Gazellen und Antilopenarten ansehen, die in verschiedenen Teilen überhaupt nicht miteinander Kontakt haben, weil sie sehr isoliert vorkommen, und die sich auch unterscheiden, das ist dann doch alles immer eine Art. Wenn man aber primitivere Organismen ansieht, wirbellose, dann ist sehr schnell eine Tendenz da, alles, was anders aussieht, dann auch als eigene Art zu deklarieren."
Auch innerhalb bestimmter Tiergruppen, kritisiert Werner Kunz, teilen Forscher Arten nach unterschiedlichen Traditionen ein. Es gibt die "lumper", die, die vieles in einen Topf werfen, und die "splitter", die im Zweifelsfall eher eine eigene Art sehen.
"Die Schmetterlingsleute, die haben die Tendenz auch sehr viel zusammenzufassen zu einer Art, das wären also lumper. Und Ameisenleute, die folgen einem Trend, alles zu splitten. Das ist schon relativ problematisch, diese Situation."
Denn für Werner Kunz untergräbt das den Zweck der Artenbestimmung: einen Konsens herzustellen, mit dem sich Organismen zählen und miteinander vergleichen lassen.
"Wenn ich sage, in diesen zehn Hektar Regenwald leben 200 Ameisenarten, aber nur 20 Schmetterlingsarten, dann vergleiche ich Äpfel mit Birnen. Die Einheiten so, wie sie in den beiden Gruppen Ameisen - Schmetterlinge gezählt werden, sind in vieler Beziehung schwer miteinander vergleichbar."
Gerade heute, wo der Artenbestand im Zeichen des Artenschutzes exakt erfasst werden muss, ergibt sich ein neues Problem: Die Wissenschaftler neigen offenbar in zweifelhafter Weise dazu, immer mehr Arten zu "entdecken". Der renommierte Biologe James Mallet von der amerikanischen Harvard University kritisiert jedenfalls eine "Inflation der Arten".
"Es gibt heute zum Beispiel doppelt so viele Arten unter den Primaten wie noch 1980! Und zwar vor allem deshalb, weil bestimmte Organismen, die früher als geographische Unterarten angesehen wurden, plötzlich als volle Arten geführt werden."
Für Werner Kunz liegt das alles daran, dass die Biologen in der Artenfrage inzwischen viel zu pragmatisch vorgehen. Man arbeite mit einem Artbegriff, der annähernd zur eigenen Fachdisziplin passt. Die philosophische Frage, was denn eine Art sei, werde demgegenüber sträflich vernachlässigt
"Naturwissenschaftler haben doch sehr stark den Anspruch, dass sie etwas von grundlegenden Gesetzmäßigkeiten her erklären. Also ich kann nicht einfach sagen, ich gruppiere die Dinge nach der Eigenschaft und die nach der Eigenschaft, dann habe ich zwei Arten und das genügt mir. Sondern man will eine zu Grunde liegende Theorie oder einen Algorithmus, also eine theoretische Anleitung, wie ich etwas begründe und gesetzmäßig herleite, damit ich zu solchen Aussagen überhaupt komme. Das ist etwas völlig anderes als eine pragmatische Einteilung."
Wie begründet und widerspruchsfrei also sind die verschiedenen Artkonzepte, mit denen heute die Vielfalt des Lebens klassifiziert wird? Die Biologen sind sich zumindest darin relativ einig, dass sich die 20 kursierenden Artbegriffe um drei Grundkonzepte herum gruppieren.
Ein wildes Vogelgezwitscher. Laien werden kaum heraushören können, ob es sich um Vögel einer einzigen oder verschiedener Arten handelt. Taxonomen aber sollen das können. Sie sind die Spezialisten in Klassifizierungsfragen. Woran erkenne ich verschiedene Arten? Klassischerweise benutzen Taxonomen das so genannte typologische Artkonzept. Organismen, die typische gemeinsame Merkmale aufweisen, gehören zu einer Art. Solche Merkmale können unter anderem die Gestalt, das Farbmuster oder Verhaltensweisen eines Organismus sein. Werner Kunz:
"Dieses Artkonzept ist konsequent nicht durchhaltbar. Es stößt auf starke, deutliche Widersprüche und zwar deswegen, weil alle Arten immer wieder auch Ausnahmen enthalten."
Wale sehen zwar Fischen sehr ähnlich, sind aber Säugetiere. Ein anderes Beispiel sind die Geier der neuen Welt, zu denen der Kondor gehört.
"Die sehen aus wie unsere Geier mit nacktem Hals, sie gehen an Aas, sie kreisen ohne Flügelschlag in der Thermik. Aber heute weiß man mit Sicherheit, dass es überhaupt keine Geier sind. Geier gibt es nur in der Alten Welt in Europa, Asien und Afrika und Australien. Die sind nur deshalb so wie Geier aussehend, weil sie gleiche Verhaltensweisen haben und verwandtschaftlich gehören sie ganz nah an die Störche."
Das zweite große Artkonzept, das kladistische , orientiert sich denn auch am Verwandtschaftsgrad der Organismen. Alle Organismen, die voneinander abstammen, gehören zu einer Art. Mit Hilfe von Genanalysen untersucht die Kladistik, wann sich Organismen von ihren Vorfahren abkoppeln und so zu einer neuen Art werden. Das führt zu dem bekannten Stammbaum des Lebens, bei dem sich bestimmte Abstammungsäste immer wieder zu neuen Arten verzweigen. Allerdings gehen die meisten Wissenschaftler heute davon aus, dass das gesamte Leben auf der Erde einen gemeinsamen Vorfahren hatte. Wenn aber alle Organismen miteinander verwandt sind, scheint es willkürlich zu sein, Arten zu unterscheiden. Für James Mallet von der Harvard University geht das kladistische Artkonzept auch aus anderen Gründen in die Irre.
"Die Kladistik geht davon aus, dass es nur Verzweigungen aber kein Netzwerk zwischen den Arten gibt. Aber Genvernetzungen sind extrem häufig. Zum Beispiel ahmen in einer Schmetterlingsgruppe der so genannten Heliconiiden bestimmte Arten das Farbmuster anderer Schmetterlingsarten nach. Außerdem haben diese Schmetterlinge auch Regionen ihres Genoms untereinander ausgetauscht. Zumindest zwei dieser Genregionen, die das übernommene Farbmuster kodieren, haben eine völlig andere Abstammung als die restlichen Gene. Offenbar hat sich hier ein altes Genmuster allmählich auf ganz verschiedene Arten ausgebreitet. Seit wir Gene sequenzieren wird immer deutlicher, dass der Baum des Lebens von Gentransfers durchsiebt ist. Man sollte daher gar nicht mehr vom Baum des Lebens sprechen, sondern vom Netz des Lebens."
Wegen dieser Probleme des typologischen und kladistischen Artkonzepts spielt heute vor allem das so genannte biologische Artkonzept die Hauptrolle. Demnach gehören alle Lebewesen zu einer Art, die sich untereinander fortpflanzen und dabei wiederum fortpflanzungsfähigen Nachwuchs erzeugen. Die Mitglieder schaffen dabei durch sexuellen Austausch einen gemeinsamen Genpool. Werner Kunz:
"Darunter versteht man ganz einfach, dass die Gene sich alle vermischen und das schafft völlig klar und sehr gut einsehbar eine Gemeinsamkeit zwischen allen Individuen einer Art. Das ist der Artbegriff der Reproduktionsgemeinschaft."
In Reproduktionsgemeinschaften sollen sich die Artmitglieder direkt sexuell miteinander reproduzieren können. Der Begriff der Genflussgemeinschaft fasst den biologischen Artbegriff dagegen etwas weiter. Entscheidend ist, dass zwischen verschiedenen Lebewesen Gene geflossen sind, manchmal bestand dabei nur indirekt Kontakt. Kunz:
"Die ostasiatische Kohlmeise ist dann mit der chinesischen über Genfluss verbunden, die chinesische mit der russischen, die russische mit der polnischen und die polnische mit der westeuropäischen. Also es geht wie die Glieder einer Kette Stück für Stück, und damit entfällt der Zwang, der in der Definition der Reproduktionsgemeinschaft steht, dass tatsächlich die entfernten Individuen sich miteinander reproduzieren können müssen. Sie sind trotzdem verbunden, über den Genfluss nach dem Modell einer Kette."
Schon die Tatsache, dass die Wissenschaftler verschiedene Begriffe verwenden, zeigt, dass auch das biologische Artkonzept Probleme aufweist. Zum Beispiel gilt es nur für Organismen, die sich sexuell fortpflanzen. Er schließt daher ungeschlechtlich sich fortpflanzende Lebewesen wie einzellige Bakterien, Algen oder viele Pflanzen aus. Eine andere Schwierigkeit sind die Bastarde oder Hybride. Kunz:
"Auch das weiß man heute viel mehr als man das früher geglaubt hat. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass zwei Arten, die durchaus nicht mehr sehr nahe miteinander verwandt sind, immer noch gelegentlich die Artschranke missachten und dann miteinander hybridisieren. Und das hat sehr häufig keine üblen oder schadbringenden Konsequenzen. Ein Hybrid hat zur Hälfte die Gene und Merkmale der einen Elternart und zur anderen Hälfte der anderen Elternart, also kann ein Hybrid überhaupt nicht zugeordnet werden. Die Logik sagt, dass es ein artloser Organismus ist oder einer, der zu beiden Arten gleichzeitig gehört. Und das ist schon nicht so einfach lösbar und ist eine große Schwierigkeit des Artkonzeptes der Genflussgemeinschaft."
Immer mehr Hybride werden entdeckt, im Pflanzenreich zum Beispiel bei den Bedecktsamern, zu denen Süßgräser, Hülsenfrüchte oder Rauten- und Rosengewächse gehören. Aber auch Schmetterlinge, Vögel, Enten, Wasserflöhe, Muscheln und Schnecken neigen dazu. Auch bei der Hausmaus scheint es Hybride zu geben. Eine neuere Studie legt sogar nahe, dass Homo sapiens und Neandertaler miteinander hybridisiert haben könnten.
Im Keller des Biologicums der Universität Frankfurt. Privatdozent Martin Plath vom Institut für Ökologie und Evolution führt durch Räume, vorbei an Dutzenden von Aquarien. In ihnen tummeln sich Fische aus den unterschiedlichsten Regionen der Erde. Mit raffinierten Methoden werden sie untersucht.
"Wir arbeiten immer weniger naturnah, wir arbeiten immer mehr mit Versuchsbecken, die komplett eingefasst sind, wo mit Animationen gearbeitet wird, mit Computersimulation, mit 3-D- Erfassung. Das Schöne daran ist nicht nur der technische Aufwand, das Schöne da dran ist, dass wir den Fisch gar nicht mehr stören."
Etwa wenn es um Weibchen einer Population geht, die gerade dabei sind, eine neue Art auszubilden. Sie sehen dann auf einem Monitor, wie lebensecht animierte Männchen ihrer Herkunftsart oder anderer Arten auf sie zuschwimmen. Die Wissenschaftler registrieren dann die Neigung der Weibchen, sich mit einem dieser Männchen zu paaren. Will Martin Plath mit solchen Experimenten ermitteln, zu welcher Art das Weibchen gehört?
"Wenn Sie mich pragmatisch fragen, dann ist es eine Frage, die ich dankend abgebe, über Arten und Artennamen nachzudenken."
Stattdessen interessiert Martin Plath, unter welchen ökologischen Bedingungen Tiere ihre Eigenarten verändern. Zum Beispiel schwach elektrische Fische im Kongo, die verschiedene Morphe, also Gestalten entwickelt haben.
"Eine Morphe frisst mehr kleine, in der offenen Wassersäule befindliche Insekten, eine andere Morphe stochert mehr im Schlamm, eine andere mehr zwischen den Steinen und sofort haben Sie eine Aufspaltung von verschiedenen ökologischen Möglichkeiten oder ökologischen Nischen. Das Spannende an den elektrischen Fischen ist nun, dass sie für das Aufspüren von Nahrung schwache elektrische Signale abgeben. Wenn sie nun unterschiedliche Nahrung zu sich nehmen, werden sie auch unterschiedliche elektrische Signale verwenden, um diese unterschiedlichen Nahrungspartikel besser finden zu können. Wir haben zeigen können, dass die elektrischen Signale auch eine Rolle spielen bei der Partnerfindung. Und dadurch hatten wir einen Mechanismus, der automatisch reproduktive Isolation erzeugt."
Nur ein paar Kilometer Luftlinie von Martin Plaths Institut entfernt liegt das Forschungszentrum "Biodiversität und Klima". Es wird von der Universität Frankfurt und den Senckenberg Forschungsinstituten und Naturmuseen getragen. Hier forsche man in die gleiche Richtung, betont Klaus Schwenk von der Universität Koblenz-Landau, der in das Frankfurter Institut eingebunden ist
"Es gibt eben Arten, die sich in der Artbildung befinden und deswegen sind sie eben nicht so eindeutig abgrenzbar. Und weil Evolution ein gradueller Prozess ist, ist es natürlicherweise so, dass sie Arten finden, die entweder komplett getrennt sind oder sich auch in diesem Auftrennungsprozess befinden - das liegt in der Natur der Evolution."
Für die Frankfurter Forscher ist es kein Problem, wenn Arten nicht eindeutig voneinander unterscheidbar sind. Man müsse nur verstehen, in welchem evolutionären Stadium sie sich gerade befinden. Schwenk:
"Viele, viele Gruppen, die wir untersuchen, die sind in der klassischen taxonomischen Literatur beschrieben als 'schwierigste Gruppe' und es gibt Publikationen, da steht in den Überschriften drin, das ist eine kontinuierliche Frustration, mit denen zu arbeiten, also die Taxonomen seit 100 Jahren sind frustriert. Jetzt wissen wir, warum! Es gibt Hybride, es gibt kryptische Arten, wir können das jetzt erklären, warum diese Probleme auftreten und wir können sie auch jetzt beschreiben, denn wir können die Merkmale, die die klassischen Taxonomen benutzt haben, die Körpergröße, Breite und so weiter, wir können das vermessen und direkt einen Bezug herstellen: das sind die problematischen Gruppen, die nicht einzuordnen sind und wir finden in der Genetik, aha, das sind Hybride, damit haben wir das Problem erklärt!"
Geklärt werden konnte so immerhin der Fall von Wasserschnecken der Gattung Radix. Die Tiere sind bis zu 2,5 Zentimeter groß, leben gerne im Schlamm und besitzen ein hellbraunes Gehäuse mit nur wenigen Windungen. Allerdings unterscheiden sich die Gehäuse auch. Handelt es sich dabei um verschiedene Arten oder nur um Varianten ein und derselben Art? Um diese Frage zu beantworten, sammelten die Frankfurter an 280 Orten in Europa jeweils mehrere Exemplare und dokumentierten deren Lebensweise. Dann verglichen sie detailliert die Gestalt der Schneckenhäuser. Professor Markus Pfenniger vom Frankfurter Forschungsinstitut.
"Wir haben jedes einzelne Individuum auf den Scanner gelegt und haben für jedes einzelne Individuum entsprechende Formparameter dann entnehmen können: das Schneckengehäuse. Und was wir festgestellt haben ist, dass es sich bei diesen Arten sehr wohl um klar getrennte Arten handelt, dass es aber absolut unmöglich ist, aufgrund der Morphologie diese Arten voneinander abzugrenzen. Wir haben sie als Arten identifizieren können, weil die genetischen Daten darauf hinweisen, dass es keinerlei Genfluss zwischen ihnen gibt."
Integrative Ansätze nutzen ökologische Daten über die Lebensweise und Merkmale der Organismen. Und sie nutzen Genanalysen. Diese gewinnen allerdings immer mehr an Gewicht, weil immer neue Methoden zur Verfügung stehen. Zum Beispiel das so genannte Barcoding. Hier vergleicht man kleine Genabschnitte wie bei einem Strichcode. Die Barcoding-Maschinen arbeiten schnell, sollen eine Erfolgsrate von circa 90 Prozent haben und gelten als moderner Ersatz für die klassische Taxonomie. Da es immer weniger Taxonomen gibt, hat man begonnen, die Arten der Erde mit Hilfe dieser Methode zu durchforsten. Die Wissenschaftler analysieren aber auch ganze Genome, bestimmen, wie stark sich die Basenpaare verschiedener Lebewesen unterscheiden. Für James Mallet von der Harvard University steckt darin bereits die Lösung des Artenproblems.
"Mit der Analyse des gesamten Genoms und den computergestützten statistischen Methoden haben wir jetzt neue Möglichkeiten. Wir können Arten identifizieren, ohne zu wissen, ob sich ihre Mitglieder mit anderen noch fortpflanzen können. Es genügt, wenn wir leicht voneinander unterscheidbare genetische Gruppen von Lebewesen in einem Gebiet finden. Dann sind es verschiedene Arten."
Für James Mallet haben die alten Artbegriffe ihre Dominanz verloren. Ähnlich sieht es Markus Pfenniger:
"Wir kommen jetzt ja durch die methodische Revolution einfach zu einem sehr viel dynamischeren Bild des Genoms. Das heißt aber nicht, dass unbedingt das Artkonzept jetzt obsolet wird. Wir können Inseln der Artbildung innerhalb des Genoms behalten trotz und in Gegenwart von Genfluss zwischen verschiedenen Arten. Also bestimmte Bereiche des Genoms können frei ausgetauscht werden, während andere Teile trotzdem als Blöcke erhalten bleiben. Also das wird in Zukunft noch sehr, sehr viel dynamischer werden unser Bild der Artbildung und der Art, und ich hoffe, dass es nicht 250 Jahre dauert, bis die Taxonomie die Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie mit in ihre Forschung einbezieht."
Das Biozentrum der Universität Köln. Privatdozentin Kerstin Hoef-Emden präsentiert hier Besuchern gerne die Algensammlung. Auf silbernen Regalen Dutzende Wasserbehälter aus Glas. In einigen von ihnen leben winzige Einzeller, die in Süßgewässern oder Meeren vorkommen: so genannte Cryptophyceen. Die Cryptophyceen besitzen kaum hervorstechende äußere Merkmale. Schon von daher hat Kerstin Hoef-Emden mit ganz besonderen Problemen zu kämpfen, wenn sie die Algenarten bestimmen will. Dennoch betrachtet sie den Trend, Arten mit Hilfe gentechnischer, statistischer Analysen zu bestimmen, skeptisch.
"Das ist von Evolutionslinie zu Evolutionslinie wahrscheinlich unterschiedlich. Es gibt einfach keine Möglichkeit, wo man übergreifend sagt: hier, vier Prozent genetische Divergenz, das ist dann eine neue Art. Das funktioniert in der einen Gruppe aber in der anderen nicht."
Generell, unterstreicht Kerstin Hoef-Emden, seien alle Genanalyseverfahren fehleranfällig. Und es kann passieren, dass einfach zu wenige Lebewesen gesammelt und untersucht wurden. Dann entdecken die Sequenzierapparate wegen der wenig repräsentativen Stichprobe womöglich größere genetische Lücken, obwohl sie innerhalb einer Tier-oder Pflanzengruppe so gar nicht existieren. Hoef-Emden:
"Es gibt, glaube ich, keine computergestützte oder überhaupt keine Methode, sagen wir mal so, wo man absolut sicher sein kann. Computer arbeiten nach Algorithmen, die Programme sind immer nur so gut wie die Programmierer gut sind. Und egal, was man macht, man muss immer ein menschliches Gehirn im Hintergrund haben, was den erweiterten Horizont sieht. Man muss es immer überprüfen, das wird, je größer die Datenmengen werden, umso schwieriger wird es natürlich."
Bei unklaren Fällen sprechen die Forscher heute nicht mehr von Arten, sondern von "operationalen taxonomischen Einheiten". Damit lässt sich auch beim Artenschutz arbeiten. Einige Wissenschaftler haben sogar vorgeschlagen, nicht mehr Artennamen zu vergeben, sondern einfach Nummern für bestimmte Gruppen von Lebewesen: Technische Lösungen, die das Kernproblem nicht lösen – und womöglich ein neues schaffen:
Im Labor des Instituts für Zellbiologie der Universität Bern klopft Professor Eduardo Moreno ein Glasröhrchen mehrfach auf einen Tisch. Mehrere Exemplare von Drosophila melanogaster fliegen darin herum, zwei bis 2,5 Millimeter kleine "schwarzbauchige Taufliegen". Vom Klopfen ermattet liegen die Tiere schließlich auf dem Boden des Röhrchens. Eduardo Moreno schüttelt einige vorsichtig unter ein Mikroskop. Dort sieht man, dass diese Fliegen ein anderes Flügeladermuster haben als die normale Taufliege. Außerdem sind sie blind. Eduardo Moreno hat die erste synthetische Art der Welt geschaffen, indem er gezielt in die genetischen Merkmale der Fliege eingriff. Er nennt sein Geschöpf "Drosophila synthetica".
"Normalerweise sind wir Wissenschaftler Detektive. Wir versuchen herauszufinden, was in der Natur passiert. Aber das ändert sich und wir werden zu Ingenieuren oder Architekten."
Eduardo Moreno hat in der herkömmlichen Taufliege einen Genfaktor entfernt, der nötig ist, um ihre Augen auszubilden. So wurden die Fliegen blind. Außerdem veränderte sich das Adermuster ihrer Flügel. Eduardo Moreno baute in die Tiere aber auch noch etwas anderes ein: einen Tötungsmechanismus, auslösbar durch den entfernten Genfaktor.
"Wir haben also diese blinden Tiere, bei denen dieser Genfaktor und damit der Tötungsmechanismus ausgeschaltet ist. Wenn diese Tiere sich aber mit der alten Drosophila kreuzen, besitzen die Nachkommen diesen Genfaktor ja wieder. Das löst den Tötungsmechanismus aus und die Tiere sterben. Die natürliche und die synthetische Drosophila können sich daher niemals miteinander erfolgreich fortpflanzen."
Eduardo Moreno glaubt, auf diese Weise mehr Akzeptanz für die Biotechnologie schaffen zu können. Wenn die Nachkommen gentechnisch veränderter Organismen sterben, sobald sie sich mit ihren natürlichen Schwesterarten kreuzen, würden die Menschen weniger Angst vor ihnen haben. Moreno träumt von einem ganzen Reich solcher künstlicher Arten.
"Wir wollen den Mechanismus jetzt verallgemeinern. Wenn es bei Drosophila geklappt hat, kann ich das auch nutzen, um neue Arten von Pflanzen, Hunden, Katzen oder Schafen zu kreieren. Mich interessiert ein übertragbarer Mechanismus, der in verschiedenen Arten funktioniert."
Es gäbe dann also Katzen, Hunde, Pflanzen oder Schafe in doppelter Ausführung: die natürliche und die künstliche Art. Abgesehen davon, dass das die Artenzahl noch einmal aufblähen würde: ist das ein legitimer Schritt, nun plötzlich künstliche Arten ins Reich der Natur einzugliedern? Darwin hatte noch von der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl gesprochen. Werner Kunz von der Universität Düsseldorf meint zwar, dass künstliche Fortpflanzungsschranken wie die natürlichen nie absolut sei können. Aber er hat keine prinzipiellen Einwände, künstliche Arten anzuerkennen
"Selbstverständlich ist das künstlich, aber es ist vollkommen logisch gerechtfertigt, das als eine neue Art zu bezeichnen."
Was genetische Unterschiede, eigene Merkmale und Fortpflanzungsschranken aufweist, ist eine eigene Art: der technische Umgang mit den klassischen Artbegriffen erlaubt es, die Natur zu überschreiten.
Am Anfang schuf Gott die Arten. Dann kam Darwin und unterwarf die Arten dem Prinzip der Evolution. Heute ist klar, dass Leben ein dynamisch vernetztes System ist. Arten sind bloße Verdichtungen in diesem Netz und dabei stetigem Wandel unterworfen. Warum versucht der Mensch immer noch, hier Grenzen zu ziehen? Zwischen Herings-und Silbermöwe, Zitronen-und Schafstelze, Einkorn und Zweikorn, natürlich und künstlich? James Mallet:
"Mein Freund John Maynard Smith meinte einmal, es komme daher, weil der Mensch generell zum Klassifizieren neigt."
Der Begriff der Art stammt aus vordarwinistischer Zeit und erfüllte über Jahrhunderte hinweg seinen Zweck. Er bot der Forschung Orientierung, befeuerte Entdecker. Werner Kunz:
"Sagen Sie mal einem begeisterten Schmetterlings-oder Käfersammler: Na, was Du da immer neu findest sind immer deine eigenen Konzepte!"
Abschaffen will den Begriff sowieso niemand. Man behilft sich, mit einem integrativen Ansatz zum Beispiel können die meisten leben. Nur die große, philosophische Frage muss nach wie vor als ungelöst gelten. Kunz:
"Ich nehme einfach sage ich mal verschiedene Kriterien, 'Reproduktion', 'gemeinsame Abstammung bestimmter Merkmale', 'bestimmter Gene', nicht ein, sondern gleich zehn, 20 oder 100 Merkmale, aber welche Merkmale ich nehme und ob zehn oder 100 oder gar 1000, dafür gibt es keine zu Grunde liegende Regel. Und das ist, was die Befriedigung einer theoretischen Lösung des Artproblems angeht, äußerst unbefriedigend. Es ist wunderbar in der Praxis, aber es ist keine Antwort auf die Frage: was ist eine Art?"