Es ist der Nikolaustag im vergangenen Jahr, der Amanal Petros wohl besonders in Erinnerung bleiben wird. Eine Verwechslung verhilft ihm mit zum Rekord. Denn er erwischt nach dem Start den falschen Pacemaker - und ist viel zu schnell unterwegs.
"Als ich bei Kilometer 15 war, hatte ich genau das Gefühl wie bei Kilometer 5 und dann dachte ich - wow, mein Gott, mit so einem geilen Gefühl darf man nicht unsicher sein. Ich dachte, ich habe das jetzt angefangen, und ich muss das durchziehen."
Höhentraining vor dem deutschen Rekord
Mental stark und körperlich fit hat das geklappt. Petros hat durchgezogen und lief 2:07:18.
Trainer Tono Kirschbaum muss kaum überrascht gewesen sein:
"Er verfügt über die notwenige Lockerheit, an Wettkämpfe ranzugehen - hat keine Angst vor großen Namen und großen Rennen. Ist dann, wenn es darauf ankommt, fokussiert und - wie man in Valencia gesehen hat – eben auch mal bereit, ein Risiko zu gehen."
Vorher hatte der 25-Jährige wochenlang in der Höhe trainiert, ist Umfänge von mehr als 200 Kilometern pro Woche gelaufen - und das - nachdem das Jahr 2020 alles andere als einfach war.
"Ich persönlich habe brutal hart für Olympia vorbereitet. Finanzierung, Zeit, Kraft verloren. Es war trotzdem wieder sehr hart, um wieder reinzukommen, weil ich hatte schon mehrere Monate Pause gemacht. Und das hat so viel Kraft gekostet."
Zwei Fluchten - bis nach Deutschland
Amanal Petros ist in Eritrea geboren. Er war zwei Jahre alt, als seine Familie mit ihm nach Äthiopien floh. Dort wuchs er auf einer kleinen Farm auf. Mit 16 floh er dann ein zweites Mal - alleine nach Deutschland.
"Es gab immer Bürgerkrieg. Man fühlte sich unsicher. Klar, man kann leben, aber ist dann halt unsicher. Du weißt gar nicht, ob du morgen lebst oder nicht."
Deshalb ist er weggegangen, seine Mutter und die beiden jüngeren Schwestern blieben. Und sie lebten bis zuletzt in der äthiopischen Region Tigray. Jetzt ist das Krisengebiet von der Außenwelt abgeschnitten. Es herrscht Krieg. Es gibt keinen Strom, kein Wasser - kein Telefon und kein Internet.
Sorge um die Familie
"Da sterben so viele unschuldige Menschen und die tun mir so leid. Die Flucht dauert mehr als drei Tage. Und sterben auf dem Weg auch so viele Leute. Es werden viele Frauen vergewaltigt. Es ist eine sehr traurige Sache und das macht mich echt fertig. Und dass ich selber persönlich keinen Kontakt habe - das ist so schlimm."
Seit mittlerweile rund zwei Monaten hat Petros keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Rund 70.000 Äthiopier sollen schon in den Sudan geflüchtet sein.
"Ich gehe davon aus, dass die immer noch in Tigray sind. Aber ich weiß wirklich nicht, wo die sind. Die können nicht zu Hause sein. Also Leute in der Stadt wurden schon erschossen - einfach so, ohne Grund."
Am liebsten würde er sich selbst auf die Suche machen. Aber das ist zu gefährlich. Außerdem könnte seine Familie überall sein.
"Ich weiß, dass die irgendwo versteckt sind – irgendwo im Wald, wo es sicher ist, wo keiner ist."
Ablenkung durch Training
Das tägliche Training lenkt ihn von den Sorgen ab. Sobald er aber wieder zu Hause ist, durchforstet er das Internet nach Neuigkeiten. Immer wieder findet er Videos von der Situation in Tigray - die Menschen nach ihrer Flucht ins Internet gestellt haben, erzählt er:
"Wenn ich das sehe, dann macht mich das natürlich fertig. Und ich bin natürlich traurig. Aber davor muss ich vormittags und nachmittags trainieren. Und Gott sei Dank, das hilft mir dann. Dadurch werde ich dann irgendwann müde."
Es hilft ihm, überhaupt einschlafen zu können. Seine Idee, dass Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes ihn bei der Suche nach seiner Familie vor Ort unterstützen könnten, ist schwierig umzusetzen.
"Man braucht Zeit dafür. Viele schlafen einfach irgendwo auf dem Boden irgendwo in einem Ort. Deshalb wird es natürlich nicht leicht sein."
Das Ziel: Die Olympischen Spiele in Tokio
Die Gedanken an seine Familie begleiten ihn jeden Tag. So wie bei seiner Ankunft in Bielefeld vor neun Jahren. Da war Petros 16 Jahre alt. Er machte seinen Realschulabschluss, fand Anschluss durch den Sport und wurde deutscher Staatsbürger. Mittlerweile ist er Sportsoldat und trainiert am Olympiastützpunkt in Bochum.
"Das ist so krass. Selbst einige Leute aus der Heimat, die sagen jetzt: Du bist echt zu deutsch für mich. Diese Pünktlichkeit war sehr schwer für mich am Anfang. Jetzt habe ich mich mehr oder weniger verbessert."
Der 25-Jährige möchte nicht nur Vorbild sein für andere geflüchtete Menschen in Deutschland - sondern auch im Sommer bei den Olympischen Spielen in Tokio seinen erst dritten Marathon laufen. Und wenn er daran denkt, strahlen seine braunen Augen.
"Ich kann noch mehr und ich möchte noch mehr zeigen."