Von der Marktkirche in Witebsk klingen die Glocken über den Fluss Düna. Marc Chagall hat der Kirche auf vielen seiner Gemälde ein Denkmal gesetzt. Hier, in diesem kleinen Haus auf der anderen Seite des Stroms, muss er das Geläut jeden Morgen gehört haben, sagt Museumsdirektorin Iryna Voranava:
"Ende des 19. Jahrhunderts kaufte Chagalls Familie ein Stück Land in diesem Teil der Stadt. Als die Familie hier einzog, war Marc Chagall zehn Jahre alt."
Chagall floh schon früh vor Lenins bornierter Kulturpolitik. Der hatte 1920 einen Befehl zur Säuberung des Landes vom sogenannten antisowjetischen Geist erlassen. Zu modern, zu verspielt, zu religiös - Chagalls Bilder widersprachen allem, was die Jünger des sozialistischen Realismus von der Kunst forderten. Bis heute tun sich belarussische Kunstlehrer schwer, ihre Schüler mit dem Werk von Marc Chagall bekannt zu machen. Doch der Kunsthistoriker und Universitätsdozent Aliaksander Zimenka sieht noch einen anderen Grund für die späte Rückkehr des Werkes von Marc Chagall nach Witebsk.
"Es war unmöglich, zu denken, dass er als Emigrant, als jüdischer Emigrant, der im Ausland lebte, dass er seinen Platz in der sowjetischen Kunst kriegen konnte. Das war undenkbar."
Ausstattung mit deutscher Hilfe
Auch Antisemitismus spielte also eine Rolle, als das sowjetische Kulturministerium nach dem Tod des Künstlers im März 1985 eine Offerte von Chagalls Witwe ablehnte, die der Sowjetunion einen großen Teil des Nachlasses von Chagall schenken wollte. So brauchte es erst den Zusammenbruch der UdSSR und mehr als 70 Jahre, bis sich die Stadt Witebsk ihres berühmtesten Sohnes erinnerte und in seinem Elternhaus ein Museum einrichtete. Iryna Voranava:
"Die Möbel, die heute hier zu sehen sind, stammen aus Antiquitätenläden in Witebsk, Sankt-Petersburg und Moskau. Die Wohnung wurde nach Chagalls Zeichnungen rekonstruiert. Diese ganze Renovierung wurde dank der finanziellen Hilfe aus der deutschen Stadt Nienburg möglich. Später stiftete ein Sammler aus Rheinland-Pfalz dem Museum eine Sammlung von 100 Original-Lithografien Chagalls und eine Chagall-Bibliothek."
Seitdem bemüht sich Direktorin Iryna Voranava, das kulturelle Erbe Marc Chagalls in Belarus wieder bekannt zu machen. Auch deshalb lädt sie immer wieder Künstler aus dem Ausland in das zum Museum gehörende Atelier des Marc-Chagall-Zentrums für zeitgenössische Kunst ein. Das Haus liegt an einer vielbefahrenen Straße. Der Künstler hat es auf einem seiner berühmtesten Bilder verewigt, erklärt Mitarbeiterin Helena Ge einer Gruppe Besucher und hält einen Druck hoch.
"Das ist dieses Haus da. Auf der rechten Seite des Gemäldes 'Über der Stadt'. Sehen Sie dieses rot-graue Gebäude? Früher war das ein Wohnhaus, in den 80er-Jahren eine Stadtgalerie. Jetzt ist es unser Chagall-Art-Zentrum."
Chagall-Museum als Ort der Kunst
In den Ateliers im Obergeschoss arbeiten zurzeit mehrere internationale Künstler aus dem Baltikum, Deutschland und den Niederlanden. Ihre Werke bleiben in der Stadt. Die Auseinandersetzung mit dem Werk Chagalls soll in Zukunft das Bild von Witebsk im In- und Ausland prägen. Bisher ist Chagall in der Stadt immer noch viel zu wenig präsent, meint der niederländische Künstler Rene de Rooze:
"Nur ein paar touristische Sachen, dass man Porträts von Chagall hier und da auf Fassaden von Häusern sieht und so. Ja, dieses Schtetl-Gefühl, das gibt es nicht. Auch die Archive, die Dokumentationen, alles ist in der Kriegszeit verloren gegangen."
Eine Lücke, die das mit deutscher Hilfe errichtete Chagall-Museum zu schließen versucht. Nicht nur mit dem rekonstruierten ehemaligen Wohnhaus der Familie, sondern auch mit ständig wechselnden Ausstellungen von Original-Lithographien des Künstlers im Chagall-Art-Zentrum.