Angela Gutzeit: Wer schreibt eine Geschichte der Tränen, fragte 1977 der französische Philosoph Roland Barthes. Der Büchner-Preisträger Marcel Beyer hat diese Frage aufgegriffen in seinem neuen Buch "Das blindgeweinte Jahrhundert".
Eine Geschichte der Tränen ist es nun nicht geworden und sollte es auch nicht werden. Aber das Motiv des Tränenflusses im kulturellen Wandel, in der Heimlichkeit wie in der Öffentlichkeit, in den Medien, besonders im Fernsehen, wie in der Politik – nicht selten zum Zweck der emotionalen Aufladung politischer Ereignisse eingesetzt – das hat Beyer interessiert. Wenn man Marcel Beyers literarisches und essayistisches Werk insgesamt in den Blick nimmt, dann wird deutlich, dass für den 1965 im baden-württembergischen Tailfingen geborenen Schriftsteller der Geschichte, besonders der jüngeren deutschen Geschichte, ein großer Stellenwert zukommt. Das zeigt sich auch wieder in diesem neuen Buch, in dem die 80er-Jahre, die Ära des gerade verstorbenen Altkanzlers Kohl, bis zur Wiedervereinigung eine besondere Rolle spielen. In seinem kürzlich in Düsseldorf gehaltenen Vortrag "Demütigung. Politik der ledernen Herzen" hat der schon viele Jahre in Dresden lebende Schriftsteller das Ost-West-Verhältnis problematisiert. Ich habe mit Marcel Beyer über Buch und Vortrag gesprochen und ihn zuerst gefragt, welche Ereignisse es waren, die ihn für die deutsche Geschichte besonders sensibilisiert haben.
Marcel Beyer: Ich habe 23 Jahre im Rheinland verbracht, in der Nähe von Düsseldorf bin ich aufgewachsen, dann habe ich in Köln gelebt, und das ist ja eine Gegend, in der man so auf freundliche Weise sich selbst ins Zentrum stellt, aber schon auf der anderen Rheinseite beginnt eigentlich die russische Steppe.
Das heißt, als im Jahr 1989 schon so langsam die deutsch-deutsche Grenze begann, durchlässiger zu werden und etwa gleichaltrige Schriftstellerkollegen aus Ostberlin viel leichter Reisegenehmigungen nach Westdeutschland bekommen haben, da habe ich erst so langsam eine Neugier entwickelt für dieses merkwürdige andere Deutschland, für die DDR, in der man ganz anders sprach, in der man von ganz anderen kulturellen Momenten umgeben war. Und als dann tatsächlich, wirklich von einem auf den anderen Tag die Möglichkeit bestand, sich hin und her zu bewegen, habe ich gewusst, das ist jetzt etwas, was unsere Welt grundlegend verändert. Eine Epoche geht zu Ende, mein bisheriges Leben geht zu Ende.
In der Politik spielen Fantasien und Selbstentwürfe eine eine große Rolle
Gutzeit: Also das mit Ost und West und DDR und BRD ist ein schöner Aspekt, den werden wir gleich noch mal aufgreifen. Ich wollte mich aber erstmal Ihrem neuen Buch widmen, auch wenn es in ähnlicher Weise weitergeht, was die Geschichte angeht, in Ihrem neuen Buch "Das blindgeweinte Jahrhundert" schwingt zumindest als Subtext die deutsche Geschichte mit, genauer gesagt, die deutsche Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und ihre spätere unter anderem mediale Bearbeitung. Allerdings nicht als lückenlose Geschichtserzählung, sondern als eine, ich würde sagen, beziehungsreiche Ansammlung von Beobachtungen und Fundstücken, die bewusst Lücken lässt. Nun ist Ihr neues Buch kein Roman, aber vielleicht auch nicht unbedingt ein Sachbuch, und wenn, dann eins mit eventuell fiktionalen Elementen. Wie würden Sie das formulieren?
Beyer: Mich hatte eben Anfang der 90er-Jahre deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts zu interessieren begonnen, und das ist immer europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und wo immer ich versucht habe zu recherchieren und so gewissermaßen so in dem Sinn, wie, wenn man einen historischen Roman schreibt, erstmal die Fakten zu eruieren und dann darauf aufzubauen, bin ich in Bereiche vorgestoßen, in denen von vornherein mit fiktionalen Elementen gearbeitet wird. Zum Beispiel, als ich an "Flughunde", meinem Roman um die Familie Goebbels, schrieb, habe ich auch ausführlich die Tagebücher von Joseph Goebbels gelesen. Nun hat aber der Propagandaminister auch immer so ein ökonomisches Gespür gehabt und seine Tagebücher halt nicht als intimes Dokument angefertigt, sondern von vornherein unter dem Gesichtspunkt, dass die veröffentlicht und ein Riesenerfolg werden und so weiter, und so fort.
Und das heißt, dass er dort auch bestimmte Erzählstränge, sage ich jetzt schon, entwickelt und einbaut und weiterverfolgt, die aber mit den realen Hintergründen seines alltäglichen Lebens gar nichts zu tun haben. Das heißt, diese Vorstellung der Historiker oder der Sachbuchautor hält sich an die Fakten und wägt sie ab, der literarische Schriftsteller dagegen nimmt sich die künstlerische Freiheit, Dinge dazuzuerfinden oder Lücken mithilfe seiner Fantasie aufzufüllen – diese Dichotomie hat mich nicht nur wenig interessiert, sondern ich habe sie immer schon skeptisch betrachtet, sodass jetzt im Verlauf der letzten 25 Jahre mein Interesse immer stärker geworden ist, Texte zu schreiben, bei denen ich selbst gar nicht richtig weiß, wie entwickelt sich dieser Text im Schreiben. Ich gehe von einem historischen Detail aus oder einem zeitgenössischen – das sind ja oft auch kleine Zeitungsmeldungen – irgendwelchen Momenten am Rand der laufenden Politik zum Beispiel, und beginne, diesen Moment von allen Seiten zu betrachten, schreibend. Und dann heften sich Fantasien daran, wobei aber auch, wenn wir etwa im Bereich der Politik sind, Fantasien und Selbstentwürfe immer eine große Rolle spielen, also auch für die Agierenden.
"Die Träne ist ein flüchtiges Moment"
Gutzeit: Sie sprachen eben davon, dass Sie ein bestimmtes Detail finden, eine bestimmte Kleinigkeit, irgendwo eine Meldung oder wie auch immer, die Sie aufgreifen und die Sie weiter verfolgen. Man kann ja sagen, für dieses Buch, "Das blindgeweinte Jahrhundert", ist es das Motiv der Tränen, des Tränenvergießens, das sich in der heutigen Zeit verknüpft mit Formen medialer Inszenierung von Gefühlen – so habe ich Ihr Buch gelesen. Mit welcher Konsequenz?
Beyer: Das Tolle an der Träne ist: Sie ist so ein kleines Moment, und sie ist so ein flüchtiges Moment. Eine Träne ist ja auch rasch verdunstet oder abgewischt vom Gesicht. Es heftet sich aber so viel daran und lässt sich so viel daran heften. Wie wandert die Träne aus der Geschlechterkonfrontation – Mädchen weinen, Jungen weinen nicht –, wie wandert sie in die religiöse Sphäre? Oder kommt sie auch vielleicht schon daher?
Also, so Momente der Ekstase, der Gnadenerweis des Tränenflusses und so weiter. Und wenn wir ins 20. Jahrhundert kommen mit dieser ganzen Durchmilitarisierung des Jugendalters, dann sind die Tränen wieder ein Signal des Feiglings. Und sie sind eben ein Zeichen für "Mädchenhaftigkeit". Dann wird die Träne in der Kunst aufgegriffen, in der Literatur, würde ich bis heute sagen, würde man sagen, geweint wird eher in so Büchern, die im Bahnhofsbuchhandel verkauft werden, oder im Kiosk. Diese Heftchenromane "Dr. Gurkensalat und die Schwarzwaldklinik" oder so.
Es geht da dann um Tränen der Rührung in erster Linie. Aber irgendwann macht die Träne so einen Sprung oder einen Weg auch in die Politik hinein, also in das öffentliche Auftreten von Politikern, wo ich selbst große Schwierigkeiten habe, zu sagen, das ist immer inszeniert. Wenn Helmut Kohl, sobald er gelobt wurde im Bundestag oder seine Verdienste aufgelistet wurden, in Tränen der Rührung ausbrach, dann muss man sagen, ja, da er in der Öffentlichkeit agiert, gehört das zu dem Bild, das er von sich selbst abgibt. Aber es ist natürlich trotzdem fast eine reflexhafte, fast psychomotorische Reaktion, dass er in Tränen ausbricht. Da hat er die Tränen nicht eingesetzt.
Dann gibt es Politiker, denen ich nicht unterstellen will, aber ich glaube schon, man kann gewissermaßen empirisch beobachten, dass sie sehr genau wissen, wie man auch mit Tränen arbeitet, wie man ein Publikum auf seine Seite zieht. Und in den letzten Jahren, also auch im Zuge der Eurokrise und im Zuge weltweiter ökonomischer Verwerfungen merkt man, dass in Managerratgebern durchaus die Träne auch mal erwähnt wird. Dass es einfach in bestimmten Situationen, wo man mit Argumenten nicht mehr weiterkomme oder wo man eigentlich mit den Worten ans Ende gelangt, doch auch mal Tränen sprechen lassen dürfe. Und das sei kein Zeichen, dass man verweichlicht ist oder leicht beeinflussbar oder so etwas.
Serie "Holocaust" als Zäsur
Gutzeit: Was mich eigentlich interessiert an Ihrem Buch, ist auch im Grunde genommen die Zäsur. Der Tränenfluss, das öffentliche Tränenvergießen, die Medialisierung, die öffentliche Zurschaustellung und damit auch etwas zu bezwecken.
Ich gehe noch mal ein Stück zurück und greife mal etwas auf, wo ich denke, wir teilen beide ein- und dieselbe Erinnerung, und die haben Sie einmal in einem Interview formuliert. Ein nicht geringer Teil unserer Eltern beziehungsweise Großelterngeneration hatte sich in der Nachkriegszeit gegenüber der Erinnerung an die Grauen der Judenvernichtung emotional verschlossen. Das wissen wir ja, ist oft diskutiert worden. Aber als 1978 die amerikanische Serie "Holocaust" im deutschen Fernsehen lief, da flossen plötzlich die Tränen. Daran kann ich mich auch noch sehr gut erinnern, deswegen ist mir das sofort ins Auge gefallen. Welche Auswirkungen hatte das auf die Darstellung und Betrachtung der jüngeren deutschen Geschichte? Ich habe das Gefühl gehabt, das war für Sie eine Zäsur.
Beyer: Oh ja, das war eine Zäsur, oder beziehungsweise heute sehe ich es als Zäsur. Damals, in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre war ich ja selbst noch Schüler und habe zwar natürlich die enorme Resonanz der Fernsehserie "Holocaust" mitbekommen, aber habe das noch nicht so reflektiert, dass ich sehen konnte gewissermaßen, dass eigentlich mit der Anwendung von Hollywood-Mechanismen, also mit Mechanismen aus dem Zusammenhang von Blockbusterkino, mit der Übernahme solcher Mechanismen – man muss das Publikum emotional ansprechen, und emotional heißt immer in Richtung Rührung, man muss das Publikum gewissermaßen über die Tränen auf den Bildschirmen dazu kriegen, dass es selbst Tränen vergießt.
Dann hat man die Aufmerksamkeit, und dann wird das Publikum nicht umschalten. Das ist etwas, was aus dem Kino kommt, das ist eine Kinoweisheit. Und dann wandert sie in die Fernsehserie. Das ist ja auch noch mal so was Interessantes, dass "Holocaust" eine Serie war und nicht ein einzelner Fernsehfilm. Das heißt, es geht ja darum, das Publikum dazu zu bringen, auch nächste Woche wieder einzuschalten. Und das hat ja offenbar in vielen unterschiedlichen Kulturen funktioniert. Es funktionierte in den USA, und es funktionierte auch in Deutschland. Damit war eine Aufmerksamkeit für die Shoa geweckt, also eigentlich wurde das Ziel erreicht, das aufklärerische Ziel, Aufmerksamkeit wecken, die Shoa ins Bewusstsein rücken auch derer, die sie vorher verdrängt haben oder beiseitegeschoben haben, und vielleicht auch tatsächlich über eine – es ist ja nun eine Fernsehunterhaltungsserie, über eine Fernsehunterhaltungsserie dazu zu führen, dass auch die Generationen miteinander ins Gespräch kommen.
"Es kommen völlig neue dramaturgische Anforderungen ans Erzählen"
Gutzeit: Vielleicht steigen wir da jetzt mal kurz wieder ein in das Buch "Das blindgeweinte Jahrelang". Da spielt ja Helmut Kohl, den Sie eben schon erwähnt haben, eine besondere Rolle – und jetzt führen wir mal einfach das Ganze, was wir eben besprochen haben, weiter –, der sich ja, wie Sie das so zusammengeführt haben, offensichtlich gern auch auf Verse von Rainer-Maria Rilke bezog. Und Sie schreiben, dass er im April 1989 Rilkes Grab im Schweizer Wallis besuchte, kurz vor dem Fall der Mauer.
Jetzt meine Frage, gibt es eine in Ihrem Sinne jetzt, im Sinne Ihres Buches, eine Art Tränenspur, die sich von der "Holocaust"-Fernsehserie über Kohls öffentlich zur Schau getragene gefühlsduselige Rilke-Leidenschaft bis, wie Sie es ja auch erwähnen, bis zum Abzug der Truppen der sowjetischen Streitkräfte nach der Wiedervereinigung zieht? Ich weiß, ich mache jetzt einen großen Bogen, aber ich finde das ungeheuer interessant.
Beyer: Ja, ich glaube bestimmt, dass man das sehen kann. Jetzt gehe ich aber schon, indem ich gewissermaßen fantasiere und versuche, die Spur nachzuziehen oder zu bestätigen, damit gehe ich ja schon ins Spekulative, also da arbeite ich schon als Schriftsteller.
Natürlich kommt eine amerikanische Fernsehserie aus dem Zusammenhang des Privatfernsehens. Sie kommt nicht aus dem Zusammenhang des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Das Privatfernsehen unterliegt anderen Gesetzmäßigkeiten, Pflichten und Einschränkungen als das öffentlich-rechtliche Fernsehen.
Und es war, und ich glaube, das ist fast das Entscheidende in der Regierungszeit Helmut Kohls, es war ein wichtiges Bestreben von Helmut Kohl die Alleinstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu brechen. Also hat er sich stark gemacht dafür, Privatfernsehen einzuführen. Gewissermaßen kommt das, was in Form der Fernsehserie "Holocaust" schon in den 70er-Jahren im öffentlich-rechtlichen möglich war, kommt als Riesengegenentwurf Mitte der 80er-Jahre zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinzu. Und Privatrundfunk lebt eben von der sogenannten Emotionalisierung. Man muss es auch schaffen, die Zuschauer über die Werbepause hinweg zu halten und so weiter. Es kommen völlig neue dramaturgische Anforderungen ans Erzählen, ans filmische Erzählen, Serienerzählen und so weiter. Und auf eine merkwürdige Weise schlägt das irgendwann zurück, könnte man fast sagen. Wenn man heute so anfängt, skeptisch zu sein, aber zugleich auch süchtig ist, Polittalkshows zu gucken und sich das anschaut und hofft, da werden Argumente ausgetauscht, und am Ende sagt man immer wieder, das war jetzt alles doch eigentlich nur Show, und jeder hat nur versucht, lauter zu reden als die anderen oder mehr Sekunden von der Kamera eingefangen zu werden als die anderen, dann sind das natürlich genau die Gesetzmäßigkeiten, die auch fürs Privatfernsehen gelten, die sich durchsetzen im politischen Diskurs.
"Auf eine Weise erzählt sich der Westen immer noch als der Westen, der er immer war"
Gutzeit: Marcel Beyer, Sie haben kürzlich in Düsseldorf, in der Ausweichspielstätte des Schauspielhauses eine Rede gehalten. Der Titel: "Demütigung – Poltik der ledernen Herzen". Es ging um die unterschiedlichen Mastererzählungen von DDR und BRD und wie sich diese auch wieder, so habe ich es verstanden, medial überformt bis heute erhalten beziehungsweise zu Zerrbildern verfestigt haben.
Sie leben ja seit 30 Jahren in Dresden, das haben Sie schon am Anfang gesagt, und betrachten als Westler den Osten vom Osten her. Wodurch werden diese Zerrbilder immer wieder bestärkt?
Beyer: Ich bin seit Anfang der 90er-Jahre immer wieder gern "im Osten" gewesen und bin 1996 hierher nach Dresden gezogen und komme in den Westen zu Besuch, habe eigentlich lange Zeit das Gefühl gehabt, der Osten verändert sich rasant, der Westen bleibt immer, wie er in den 80er-Jahren war. Und jetzt nach 20 Jahren merke ich, nein, der Westen hat sich aber auch enorm verändert. Auf eine Weise erzählt sich der Westen immer noch als der Westen, der er immer war in Anführungszeichen. Zugleich gibt es ein großes Missbehagen im Westen, ein Missbehagen, das auch ich empfinde, demgegenüber der Osten sich auch immer noch so erzählt, wie er sich immer erzählt hat. Nun hat es im Westen natürlich viel weniger äußere Brüche gegeben, 1990/91, so gut wie gar nichts. Es wurden neue Märkte erschlossen in der ehemaligen DDR. Hier aber hat sich alles geändert.
Alles, was es an Mastererzählungen gegeben hat, an offizieller und inoffizieller und so weiter, das war alles vom Tisch gewischt. Auf einmal galt die Marktwirtschaft, und man musste sich da irgendwie durchschlagen. Und schon mit diesem Wort "durchschlagen", das ich jetzt so ganz selbstverständlich sage, kommt ja so was merkwürdig Martialisches hinein. Es kommt so eine sozialdarwinistische Komponente hinein. Wenn ich es schaffen will, muss ich eigentlich dafür sorgen, dass du es nicht schaffst.
Lebt die AfD in einer Schizophrenie?
Und ich glaube, in dieser Konstellation sieht sich hier mancher im Vergleich zum Westen. Das heißt, wenn 2015 auf einmal dieses Phänomen der Migranten aus dem Mittelmeerraum so eine enorme Rolle spielt und sich daran so viel entzündet, und wenn dies zu solchen enormen Konfrontationen im Erzählen von diesem Land führt, habe ich eigentlich fast den Eindruck, da bricht etwas auf, was schon längst hätte aufbrechen müssen, im Aneinander-vorbei-Erzählen von sich selbst im Osten und Westen. Und auf eine Weise sind dann die Migranten fast nur so etwas wie ein Katalysator.
Man macht an den Menschen, die aus dem Mittelmeerraum kommen – oder die geben gewissermaßen dem Konfliktpotenzial Gestalt. Ich bin einfach west-sozialisiert, ich bin Rheinländer. In Köln ist das so: Wer nach Köln kommt und in Köln sein mag, der ist dann eben Kölner. Wenn nun aber um die AfD herum und in der AfD und so weiter das Profil darüber gewonnen wird, dass man davon spricht, man setze sich für Deutschland ein und man sei der Einzige, der sich für Deutschland einsetzt, zugleich aber den ganzen Westen mit seinen Werten, die seit 1945 gewachsen sind, davon ausschließt, dann lebt man doch da in einer Schizophrenie eigentlich. Denn man weiß von vornherein, man wird nicht mehrheitsfähig sein, und an diesem Außenseitertum selbst wieder berauscht man sich. Und das ist was ganz Beunruhigendes für mich. Es geht eben nicht darum, sich konsensfähig zu machen und möglichst viele gesellschaftliche Bereiche für die eigene Politik oder die eigenen Vorstellungen von Politik zu begeistern oder einzunehmen, sondern es geht eigentlich von vornherein darum, "Widerstand" zu leisten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.