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Marcel-Duchamp-Ausstellung in Stuttgart
Der Meister der Ideen

Die Stuttgarter Staatgalerie besitzt viele Werke von Marcel Duchamp, einem der einflussreichsten Künstler der Moderne. Jetzt zeigt das Haus seinen wertvollen Schatz in einer großen Ausstellung. Man kann sich unter einer „Sound-Dusche“ von Duchamp-Noten berieseln lassen oder Duchamps Herzschlag beobachten.

Von Christian Gampert |
    Das Kunstwerk 'Fountain' (1917) von Marcel Duchamp ist in einer Ausstellung im Landesmuseum in Zürich in der Schweiz zu sehen.
    Das Kunstwerk "Fountain" (1917) von Marcel Duchamp (hier in einer Ausstellung im Landesmuseum in Zürich) (picture alliance / dpa / Ennio Leanza)
    Man sieht zuerst einen großen Zettelkasten aus dem Archiv des Serge Stauffer, dahinter, an den Wänden, jede Menge Skizzen und Karteikarten, und daraus entfaltet sich die ganze Ausstellung. Ganz schön theoretisch, möchte man meinen. Aber nein, ganz und gar nicht: Die Stuttgarter Annäherung an Marcel Duchamp ist durchaus auch sinnlich und direkt. Sie zeigt uns Flaschentrockner und Speichenrad, also einige der bekanntesten Ready-Mades, die Mona Lisa mit und ohne Bart, Beispiele der berühmten Boîtes-en-valise, Pappschachteln, in denen Duchamp Reproduktionen seiner Werke wie in einem Musterkoffer zusammenstellte, und Filme, die den Künstler personenkultisch begleiten.
    Theoretische Überlegungen
    Aber die Kuratorin Susanne M. Kaufmann, die den Duchamp-Bestand der Staatsgalerie in den letzten Jahren aufarbeitete, möchte nicht nur zeigen, wie aus Dada und Surrealismus eine neue, konzeptuelle Kunstform aufstieg. Sie will vor allem klarmachen, dass hinter Duchamps Werken ein Höchstmaß an theoretischer Reflexion steckt.
    "Was wir mit dieser Ausstellung erreichen möchten, ist auch dass man sieht, dass das Werk Duchamps vor allem aus Ideen besteht. Es ist so, dass wir im Hauptbereich der Ausstellung das große Glas zeigen, das eines der Hauptwerke Marcel Duchamps darstellt. Und wir zeigen aber eigentlich die gedankliche Vorbereitung. Denn Marcel Duchamp hat eine ganze Schachtel mit Ideen zusammengesammelt. 93 Notizen in eine grüne Schachtel gepackt. Und all die beziehen sich auf seine Gedanken zum Ready-Made, aber auch auf seine Gedanken zum großen Glas."
    Das "große Glas" ist hier in einer Replik zu sehen, das Original ging 1927 zu Bruch. Die surrealistische Idee, eine Braut und die sie begehrenden "Junggesellen" als technische Apparate darzustellen, etwa als Schokoladenmühle, verleiht dieser riesigen, ikonischen Glastafel auch heute noch eine völlig absurde Aura.
    "Es ist so, wenn man davor steht, dass man das Gefühl hat, man befindet sich direkt in einem Experiment. Und das ist auch das, was Duchamp daran interessiert hat. Er hat sich viel mit Physik, mit den Naturwissenschaften dieser Zeit beschäftigt, mit der vierten Dimension, er hat sich mit Bewegung beschäftigt – und all das in den Versuchsaufbau seines großen Glases mit hineingegeben."
    100 Fragen an Marcel Duchamp
    Wer sich also auf den archivarischen Charakter der Ausstellung einlässt, der kann tief in das Universum des Marcel Duchamp eintauchen. Es besteht aus einer Vielzahl von Skizzen und Vorarbeiten, in denen sich Musiknoten, Zeichnungen, Fotos, theoretische Erwägungen und Gedichtzeilen abwechseln, oft auf einem Blatt. Der Züricher Künstler und besessene Duchamp-Forscher Serge Stauffer hat das alles gesammelt und übersetzt, vor allem aber hat er seinem Halbgott im Juli 1960 einhundert hochspezialisierte Fragen geschickt, die dieser tatsächlich beantwortete, allerdings in vielen Fällen mit einer gewissen Lässigkeit.
    Diese wie in einem sektenartigen Parallelkosmos stattfindende Unterredung kann man nun im Original betrachten. Man kann sich auch unter eine "Sound-Dusche" stellen und sich mit Duchamp-Notaten berieseln lassen – etwa mit der surreal-kabarettistischen Idee einer Gesellschaft, in der man die Luft bezahlen muss, die man atmet. Duchamps früher Beitrag - immerhin von 1919 - zur Gender-Debatte, die schnurrbartverzierte Mona Lisa, ist mittlerweile so ikonisch, dass einem etwas fehlt, wenn man dann auf einer Reproduktion die echte sieht. Serge Stauffer übrigens ließ 25 Studenten das Lächeln der Mona Lisa nachmachen – sehr komisch. Als Zugabe dann Duchamps Werke en miniature in den Pappkoffern – in einer Sonder-Edition dieses Mini-Museums darf man hier selber herumwühlen. Die Staatsgalerie verteilt 100 Postkarten mit einem Duchamp-Frage-Antwort-Spiel des Konzeptkünstler Joseph Kosuth, und irgendwo hängt auch das flimmernde Werk des irischen Künstlers Brian O’Doherty, der Duchamps Herzschlag aufgezeichnet hat. Duchamps Herz schlägt tatsächlich in dieser grandiosen Schau, es schlägt in Stuttgart. Die anspruchsvollste Ausstellung der Staatsgalerie seit langem – und eine der schönsten!