Archiv


Marco Polo: "Die Wunder der Welt"

Ein "barbarisches Volk der Tartaren", sei aus "unbekannten Gegenden hergekommen". Niemand wisse warum. Nur eines sei sicher, "daß sie alle Christen gottlos verfolgen und töten wollen" - ließ Herzog Otto II. von Bayern dem Bischof von Augsburg mitteilen. Panik machte sich in Europa breit, die Mongolen waren 1241 bis Liegnitz, Schlesien, vorgedrungen. Das mobile Reitervolk schien nicht zu stoppen, außerdem hatte Europa eigentlich schon genug mit seinen Kreuzzügen zu tun. Gegen 1260 aber war der Spuk plötzlich zu Ende. Innermongolische Erbstreitigkeiten waren der Grund, das Reich partikularisierte sich. 1260 war auch das Jahr in dem Marco Polos Vater Nicolao und sein Onkel Maffeo, beide Kaufleute, nach Asien aufbrachen. Beim zweiten Mal, 1271, nahmen sie den 17jährigen Marco mit. Nur wie waren die Fahrten mit der mongolischen Bedrohung vereinbar? Handelskontakte, hieß das Zauberwort. Polos Vater und Onkel hatte es sogar bei der ersten Reise von der Handelsniederlassung in Konstantinopel bis zu Kublai Khan verschlagen. Der Großkhan habe sie dann beauftragt den Papst zu bitten,

Von Krischan Schroth |
    er möge ihm etwa hundert christliche Gelehrte schicken, die die Sieben Freien Künste* beherrschen und fähig seien, gut zu disputieren. (...) Des weitern beauftragte der Oberste Herrscher die zwei Polo, ihm Öl zu bringen von der Lampe, die auf dem Grabe des Herrn in Jerusalem brennt.

    Wie zweifelhaft solche Aussagen auch sein mögen. Die in Europa begehrten Güter, schufen auf jeden Fall eine kulturelle Brücke - denn Asien verfügte über Gewürze, Farbstoffe, Seide und Edelsteine. Im Gegenzug bot man Leinenstoffe, Edelmetalle oder mechanische Uhren an. Marco Polo war demnach keineswegs der erste Asienreisende des Mittelalters, aber kaum jemand hatte zuvor so umfangreich Kunde von den fernen Ländern gegeben.

    Doch hier beginnt ein Problem, die Festschreibung der Person und des Textes betreffend. Immerhin gibt es rund 150 Handschriften, über den 1254 geborenen Venezianer selbst ist indes fast nichts überliefert. Da Polo seine Erlebnisse vermutlich nicht eigenhändig aufschrieb und höchstens über Notizen verfügte, verkompliziert sich die Sache. Unter den vielen Handschriften befinden sich einige bedeutende. An dieser Stelle von besonderem Interesse, ein franko-italienischer Text und das lateinische Zelada-Manuskript, so benannt nach seinem früheren Besitzer. - Und hier öffnet sich das Türchen zu einem unglaublichen Labyrinth.

    Marco Polo war quer durch Asien gezogen und hatte sicher enorme Strapazen, Entbehrungen und Krankheiten auf sich genommen, wovon der Text im wesentlichen schweigt. Doch ausgerechnet in seinem Heimatland, dem er vierundzwanzig Jahre fern geblieben war, geriet er offenbar in Gefangenschaft. Während der Seekriege zwischen Genua und Venedig, soll Polo eine Kriegsgaleere befehligt haben, über die die Genueser den Sieg davon trugen. Polo kam nach Genua ins Gefängnis. Dort, so die Überlieferung, saß er mit einem Gefangenen zusammen, der Rustichello hieß und Ritterromane kompilierte. Diesem soll Polo seine Berichte vorgetragen haben, abgefasst wurden sie in franko-italienisch. Wahrscheinlich sprachen beide Französisch, die damalige Literatur- und Verständigungssprache. Jener franko-italienische Text, mit Unterstützung des Zelada-Manuskriptes, ist es nun, der im Insel Verlag unter dem Titel "Die Wunder der Welt" vorliegt. Übrigens in einer sehr schön leichten und flüssigen Übersetzung. Ein äußerst informativer Anhang ist beigefügt.

    Die weitgehend vorurteilslosen Beschreibungen Polos zu Sitten und Gebräuchen in Asien wurden von Rustichello geschickt in einen Vergleich zum höfischen Leben in Europa gesetzt; manches im Stil der Ritterromane ausgeschmückt. Herausgekommen ist ein überaus spannend zu lesendes Buch, das eine doppelte Autorschaft hat - was der Sache keinen Abbruch tut. In enzyklopädischer Fülle werden Nahrungsmittel, Wegenetze, z.B. Baumalleen, Tiere und Provinzen geschildert. Und da ist wahrlich wunderliches zu hören. Im Kapitel zu "Groß-Armenien" heißt es:

    In diesem Grenzgebiet entspringt eine ergiebige Erdölquelle. Hundert Schiffe können gleichzeitig mit Öl beladen werden. Das Öl ist ungenießbar, aber geeignet zum Brennen; es dient auch als Salbe gegen die Krätze und die Furunkel der Kamele. Die Leute kommen von weit her, um sich das Öl zu beschaffen. In jener Gegend ist es das einzige Brennmaterial.

    Hier noch das unbestechliche Händlerauge, hat er in Afghanistan ein offenes Ohr für Märchen:

    [In dieser Provinz gab es einst die gehörnten Pferde, die von Bucephalus, dem Pferde König Alexanders, abstammten. Sie kamen alle mit einem Horn auf der Stirne zur Welt; die Hengste und Stuten vererbten es weiter; später ist die Rasse dann ausgestorben.]

    Erlebtes und Gehörtes, Fabelhaftes und Reales verschmelzen auf wunderbare Weise. Städte und Provinzen werden in knappen aber prägnanten Strichen skizziert. Etwa die Stadt Sugiu, westlich von Shanghai:

    Sugiu ist eine glanzvolle Stadt. Die Bewohner sind Heiden, sie sind dem Großkhan tributpflichtig und gebrauchen Papiergeld. Sie haben Seide in Überfülle; (...) In Sugiu trifft man viele bedeutende Philosophen und berühmte Naturärzte, die die Geheimnisse der Natur kennen. (...) Und noch etwas müßt ihr euch merken: in Sugiu gibt es gut sechstausend steinerne Brücken; (...) In den nahen Bergen wächst viel Rhabarber und Ingwer; für einen venezianischen Groschen könnte man vierzig Pfund herrlich frischen Ingwer kaufen.

    Über Kublai Khan, als dessen Gesandter Polo unterwegs gewesen sei, erfahren wir, daß er weite, ornamentreiche Paläste bewohnte und eine Art Pferdepost unterhielt. Seinem Aufstieg und seinen Schlachten sind ganze Kapitel gewidmet. Ferner unterrichtet Polo uns über die Mediziner im Reiche des Khans - Schamanen.

    Doch weiter und weiter geht die Reise, bis nach Indien. Obgleich Polo nicht jede erwähnte Provinz gesehen hat, bleibt es ein einzigartiger Blick in die mittelalterliche Welt. Was hier an Religion und Kultur zusammengetragen wurde, nicht zu vergessen die riesigen Städte Chinas, von denen man praktisch nichts wusste, stieß bei den Europäern auf enormes Interesse. Zahlreich waren bald die Übersetzungen. Nicht zuletzt fand Christoph Kolumbus daran gefallen, besaß doch auch er eine Fassung der Reisebeschreibungen. Diese hatte er aus geographischem Interesse eingehend studiert. In Kolumbus' Schiffstagebuch der ersten Amerikareise sind deutlich die Spuren seiner Polo-Lektüre zu entdecken. So weiß Polo von Menschen mit Hundeköpfen im Golf von Bengalen zu berichten. Prompt hört Kolumbus davon in Amerika. Ja, in seinem Irrtum über Asien, suchte Kolumbus sogar den Rhabarber, von dem im Buch der "Wunder der Welt" geschrieben stand. Am nachhaltigsten wirkten aber Polos Geschichten über die reichen Länder des Khans und die Beschreibung einer Insel mit dem seltsamen Namen Cipangu - Japan. Ausgiebig fabulierte Polo, obwohl er Japan nie besuchte:

    das Dach des riesigen Palastes ist aus purem Gold. Genauso wie wir für unsere Häuser- und Kirchendächer Blei gebrauchen, wurde hier Gold verwendet. (...) Die Säle, die Fenster, wohin man schaut, alles im Palast ist mit Gold geschmückt.

    Und kaum war Kolumbus auf Cuba, fragte er sich, ob das nicht Cipangu sei. Christoph Kolumbus, angetrieben von den teils phantastischen Geschichten des Marco Polo. Dessen wahre Existenz vollkommen im Text verschwand; der zum Mythos geworden ist, ja, sprichwörtlich für alle Weltreisenden. Kolumbus diente dieser Mythos allemal für seine realen Entdeckungsfahrten - ein schönes Beispiel, wie sich bisweilen Literatur und Leben durchwirken.



    Marco Polo
    Die Wunder der Welt
    Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen
    und Nachwort von Elise Guignard
    Insel Verlag 2003 (insel taschenbuch)
    448 Seiten 12 Euro