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Margaret Atwood: "Die steinerne Matratze"
So geht es eben zu in der Welt

Eine Endsechzigerin, die aus später Rache einen Peiniger im ewigen Eis verschwinden lässt; ein Horrorgeschichten-Schreiber, der seinen Erfolg mit anderen teilen muss und dann sind da noch rote und grüne Männchen: Die Protagonisten in Margaret Atwoods "Die steinerne Matratze" sind keine echten Sympathieträger. Am Ende empfindet man dennoch Mitleid.

Von Jochen Schimmang |
    Die kanadische Autorin Margaret Atwood
    Die kanadische Autorin Margaret Atwood (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    Worum es in diesen neuen Erzählungen geht, lässt sich in vier Begriffen kurz und knapp sagen: um Sex, Geld, Karriere und Alter. Dass es sich nicht um gemütliche Stimmungsbilder handelt, obwohl der Beginn der ersten Geschichte das zunächst zu suggerieren scheint, versteht sich bei dem Namen Margaret Atwood von selbst. Mehr noch: Es ist schwer, im Panoptikum der Figuren welche zu finden, denen man als Leser eine gewisse Anteilnahme und Sympathie entgegenbringen kann. Am ehesten wären da noch Constance und Wilma zu nennen.
    Constance hat ihren geliebten Ehemann Ewan verloren, der gleichwohl noch manchmal mit ihr spricht und ihr praktische Ratschläge erteilt. Sie weiß sehr gut, dass ihr Mann tot ist und dass man dieses durchaus gängige Phänomen "akustische Halluzinationen" nennt. Sie weiß, dass sie deshalb nicht verrückt ist. Vor langer Zeit, als sie eine Weile mit einem Dichter zusammenlebte, hat sie, um die schmale Kasse aufzufüllen, eine Fantasiewelt entwickelt, Alphinland genannt. Ihre Geschichten haben schnell viele Leser gefunden, und jetzt im Alter hat sie eine riesige Fangemeinde und lebt sehr gut von ihrer Schöpfung, die längst natürlich auch den Weg ins Internet gefunden hat. Was an dieser Figur so anrührt, ist ihre aufrechte Trauer um Ewan. Der Erzählband befindet sich hier gewissermaßen noch im Stand der Unschuld.
    Das ändert sich mit den beiden folgenden Erzählungen, die mit der Eingangsgeschichte ein Tryptichon bilden, organisiert nach dem Muster von Schnitzlers Reigen. Nur, dass eben die jungen Herren, die süßen Mädeln und die Dichter zwar einmal jung waren, dereinst in den wilden Sechzigern, heute aber unter allerlei Gebrechen leiden und einer, der Dichter Gavin, damals ein echter Beatnik, am Ende sogar ganz von der Bühne abtritt.
    Ein Horrorgeschichten-Schreiber mit Blutsaugern
    Es ist eine Mischung aus Sarkasmus und Trauer, mit der diese Figuren auf ihr eigenes Leben und das der Anderen zurückschauen, und eine ebensolche Mischung konstituiert auch den Blick der Autorin auf ihre Geschöpfe. Denn alle Erzählungen beschreiben, zum Teil bis in die feinsten Verästelungen, Gewaltverhältnisse.
    Da ist ein erfolgreicher Autor von Horror-Stories der Knecht eines Vertrages, den er als Student mit seinen drei Mitbewohnern geschlossen hat, als er mit den Mieten im Rückstand war. Aufgrund dieses unauflösbaren Vertrages profitieren sie später finanziell von seinem Erfolg.
    Verna, die Heldin der Titelgeschichte, hat es auf andere Art geschafft und geht jetzt, als Endsechzigerin, auf Kreuzfahrt in der Arktis. Anfangs heißt es: "Sie hat sich fest vorgenommen, auf Flirtversuche und alle möglichen daraus resultierenden Konsequenzen zu verzichten. Das Geld hat sie nicht nötig, nicht mehr. Sie ist weder extravagant noch habgierig, sagt sie zu sich. Sie wollte nur immer durch dicke Schichten gutes, weiches, wärmeisolierendes Geld geschützt sein, damit nichts und niemand ihr zu nahe kommen kann."
    Nun begegnet sie auf der Kreuzfahrt dem Footballstar aus ihrer Schule wieder, der sie vergewaltigt hat, als sie vierzehn war. Er erkennt sie nicht, und doch ist ihr da etwas und jemand zu nahe gekommen. Sie bringt ihn nach sorgfältiger Planung während eines Landgangs um und bettet ihn im ewigen Eis. Der Schluss deutet an, dass sie nicht nur davonkommt, sondern auch ihren Frieden findet.
    In der letzten Geschichte macht sich eine Bewegung junger Leute mit dem Namen "Wir sind dran" daran, Altenheime abzufackeln, weil die Alten ihre Zeit gehabt hätten und nun abtreten müssten. Erzählt wird das aus der Perspektive von Wilma, die in einem luxuriösen Seniorenheim lebt und zuweilen von kleinen Leuten heimgesucht wird, die ihren Nachttisch hinaufklettern, in merkwürdige Kostüme gekleidet, mal in grün, mal in rot.
    "Wilma ist sich vollkommen bewusst", heißt es in der Geschichte, "dass diese Erscheinungen nicht real sind. Es sind nur Symptome: Das Charles-Bonnet-Syndrom kommt in ihrem Alter häufig vor, vor allem bei Augenproblemen."
    Am Ende kommt doch etwas Mitleid auf
    Und die hat Wilma allerdings: Sie sieht nur noch peripher und sehr schwach, das Zentrum ihres Gesichtsfelds ist leer. Deshalb mag es sein, dass die altenfeindliche Bewegung am Ende nur ein Produkt von Wilmas Fantasietätigkeit ist, das darf gern der Leser entscheiden.
    Dies alles – Generationenkampf, Geschlechterkampf, Umweltzerstörung, Kampf um die Fleischtöpfe, Kampf mit dem eigenen Alter und Rückblick auf ein in den meisten Fällen nicht gelungenes Leben – wird in Atwoods Erzählungen geradezu beiläufig abgebildet, gewissermaßen als Beifang und im Schleppnetz von Geschichten, die anfangs immer ganz sanft, ja harmlos daherkommen und nie ohne Humor sind, wenn dieser auch meist sehr grimmig ist. Darin besteht Margaret Atwoods Kunst. Sie verkündet keine Botschaften, außer vielleicht dieser einen: So geht es zu in der Welt – wobei dieser Satz eher gemurmelt als laut ausgesprochen wird.
    Das genau ist es natürlich, was die Form der Erzählung leisten kann, was ihren Mehrwert ausmacht. Sie kann im Gegensatz zum Roman darauf verzichten, auf die Totalität zu schielen, kann in erheblich größerem Ausmaß mit der Andeutung, den Leerstellen, dem Unausgesprochenen arbeiten. Dabei sind Atwoods Geschichten alles andere als zarte Gebilde, sondern meistens reichlich handfest. Aber diese Autorin ist so höflich und zivilisiert, uns selbst unsere Schlüsse ziehen zu lassen. Das macht die zusätzliche Qualität bei der Lektüre aus. Am Ende, ohne dass es in den Geschichten angelegt zu sein schien, empfinden wir für ihre Figuren mehrheitlich etwas, was sie selbst einander selten entgegenbringen: Mitleid.
    Margaret Atwood: "Die steinerne Matratze" Erzählungen aus dem Englischen von Monika Baark. Berlin Verlag, München und Berlin 2016, 20 Euro.