"Maria Magdalena hat in der frühen Gemeinde eine sehr hohe Stellung gehabt, ein hohes Ansehen auf jeden Fall. Es war eine Frau, die namentlich bekannt war und mit der man auch etwas verbunden hat." (Katharina Ceming)
"Maria Magdalena wurde damals sogar öfter als "Partnerin" Jesu bezeichnet. Aber man darf das nicht falsch verstehen und auf eine sexuelle Ebene reduzieren: Gemeint ist vielmehr eine spirituelle Einheit." (Philipp Luisier)
"Die Frage ist: Hätte es ohne Maria Magdalena je eine christliche Kirche gegeben? War sie die entscheidende Person, die bewirkte, dass die von Jesus begründete Bewegung nach seiner Kreuzigung fortbestand und nicht zerfiel?" (Silke Petersen)
Die Philosophin Katharina Ceming, der Jesuit Phillip Luisier und die Theologin Silke Petersen: Drei moderne Stimmen zu einer Frau, die vor fast 2000 Jahren zum engsten Kreis Jesu gehörte, aber in der Kirchengeschichte umstrittener war als jede andere biblische Gestalt: Mirjam aus der Hafenstadt Magdala in Galiläa - kurz Maria Magdalena.
Raum für Spekulationen
Die Bibel verrät wenige Details über das Leben Maria Magdalenas. Es heißt nur, dass sie Jesus folgte und ihn unterstützte, dankbar, dass er sie von "sieben Dämonen" befreit hatte, das heißt von einer großen Gefahr.
Die historischen Lücken in den biblischen Texten gaben von jeher Raum zu Spekulationen, den Künstler mit viel Fantasie füllten. Die Schriftstellerin Luise Rinser etwa lässt in dem Roman "Mirjam" Maria Magdalena von ihrer letzten Begegnung mit Jesus vor dessen Tod am Kreuz erzählen:
Er sagte zu mir: "Mirjam, stärke mich,… auch am morgigen Tag… Ich werde dich stärken in den Tagen danach". - Er zog mich an sich, und zum ersten, einzigen, letzten Mal legte er seine Lippen auf die meinen. Mehr ein Einhauchen seines Atems als ein Kuss. Dann schob mich sanft von sich: "Und nun stärke die anderen in ihrer Schwäche. Sie bedürfen des Hirtenhundes, der die Herde zusammenhält. Ich zähle auf Dich Mirjam!" - "Rabbi, lass mich Dir folgen!" - "Wohin ich gehe, kannst Du mir noch nicht folgen." - Er hatte mich verstanden, und ich verstand ihn.
Die Evangelien überliefern keine Szene dieser Art. Doch sie berichten, dass Mirjam aus Magdala unter dem Kreuz Jesu stand. Als die Jünger sich noch in Todesangst versteckten, suchte Magdalena sein Grab auf. Sie fand es leer vor, hörte aber plötzlich seine Stimme:
"Mirjam!" - Da wandte sie sich ihm zu und sagte: "Rabbuni! Mein Meister!" - Jesus sagte: "Halte mich nicht auf! … Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen: "Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott." - Da ging Mirjam von Magdala zurück zu den Jüngern und verkündete ihnen: "Ich habe den Herren gesehen…!"
Ob Magdalena Jesus an jenem Tag leibhaftig oder in Form einer Vision begegnete, sei in der Forschung umstritten, meint Silke Petersen. Fest stehe aber, so die Hamburger Theologin, die eine Monografie zu dem Thema veröffentlicht hat:
"Die ältesten Überlieferungen zu Maria Magdalena betonen alle ihre Rolle als Zeugin der Auferstehung Jesu. Dass dies von den Verfassern der Evangelien frei erfunden wurde, ist äußerst unwahrscheinlich, schon aufgrund der wenig rühmlichen Rolle die den männlichen Jüngern Jesu in denselben Erzählungen zukommt…. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Erfahrung Magdalenas wirklich einen entscheidenden Impuls gab, der nach der Kreuzigung Jesu die um ihn entstandene Bewegung neu aufleben ließ."
Gregor zerstörte den Ruf nachhaltig
Die Bibel schweigt über das weitere Schicksal der Jüngerin aus Magdala. Spätantike Texte belegen, dass sie als "Zeugin" Jesu vielerorts verehrt wurde. Doch dann erhält der Name Maria Magdalenas in Europa plötzlich einen fragwürdigen Beigeschmack. Die Philosophin und Theologin Katharina Ceming:
"Historisch haben wir dann eine Entwicklung, wo wir feststellen können: In dieser Person von Maria Magdalena sind verschiedene Personen kombiniert worden. Das geht auf Papst Gregor I zurück im 6. Jahrhundert, wo verschiedene Bibelstellen so zusammen gefasst werden, dass man auf einmal Maria Magdalena als die "Sünderin" hat…"
Gregor I, auch Gregor der Große genannt, zerstörte Maria Magdalenas Ruf nachhaltig.
Aus Lust und Laune, so scheint es, identifizierte der Papst die Jüngerin Jesu mit zwei anderen biblischen Gestalten: einer wohlhabenden Frau namens Maria und einer unbekannten "Sünderin", die Jesus gemäß dem Lukasevangelium die Füße salbte. Gregor schrieb:
Von dieser, welche Lukas eine "sündige Frau" nennt, glauben wir, dass sie jene Mirjam ist, aus der 7 Dämonen ausgetrieben wurden. Und was bedeuten diese 7 Dämonen, wenn nicht sämtliche Laster? Denn die Siebenzahl bildet die Gesamtheit ab. Mirjam von Magdala hatte also 7 Dämonen, welche von sämtlichen Lastern waren.
Im 13. Jahrhundert bekam das Zerrbild weitere Nahrung durch die sog. "Legenda Aureum" - die "Goldene Legende". In ihr erfindet ein französischer Dominikaner zahlreiche Details zum Leben mancher Heiliger, so auch zu dem der Maria Magdalena:
"Sie war von edler Geburt und stammte aus königlichem Geschlecht… Nach der Himmelfahrt des Herren gab sich Maria Magdalena aber ganz der leiblichen Wollust hin. Denn die Wollust ist allezeit eine Gesellin des Reichtums. So nannte man sie schließlich nur noch die "Sünderin"."
Im Fortgang der Legende soll Magdalena auf abenteuerliche Weise mit einem Schiff nach Südfrankreich gelangt sein. Dort habe sie allerdings ihre Sünden bereut und die letzten Jahre ihres Lebens als büßende Einsiedlerin in einer Grotte verbracht.
Zwar gibt es für all dies keine Beweise, doch der hier begründete Ruf Magdalenas als lasterhafte Prostituierte haftet der Jüngerin Jesu seither in der westlichen Kirche gnadenlos an.
Das Ende der Sünderin
Erstaunlicherweise wird das Leben Magdalenas im östlichen Mittelmeerraum völlig anders geschildert: Hier identifizierte man die Frau aus Magdalena nie mit einer "Sünderin" oder "Büßerin", sondern würdigte sie fast immer als bedeutende "Zeugin" Jesu. In ostkirchlichen Legenden heißt es:
"Nach der Auferstehung Jesu verließ Maria Magdalena mit den anderen Aposteln Jerusalem, um das Evangelium in der ganzen Welt zu verkünden. Sie ging zunächst nach Rom, wurde sogar von Kaiser Tiberias empfangen und predigte in ganz Italien. Dann reiste sie nach Ephesus und half Johannes bei der Abfassung seines Evangeliums. Dort verehrt man bis heute ihr Grab."
In der westlichen Kirche begann man den Rufmord an der Jüngerin Jesu erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu korrigieren: Das Zweite Vatikanische Konzil setzte in seiner Liturgiereform der Identifikation Maria Magdalenas mit der großen "Sünderin" offiziell ein Ende. Kurz darauf brachte die feministische Theologie Magdalena und andere Frauen in der Nachfolge Jesu positiv ins Gespräch.
Was führte zu dem Sinneswandel? Den Ausschlag gab wohl in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein sensationeller archäologischer Fund in Oberägypten. Durch ihn kamen bislang unbekannte Texte aus dem 2. Jahrhundert zum Vorschein, die auf Maria Magdalena ein völlig neues Licht warfen:
1945 stieß der Feldarbeiter Muhammed Ali Samman in den Bergen nahe des Ortes Nag Hammadi auf einen großen roten Tonkrug. In der Hoffnung, darin Gold zu finden, öffnete er ihn. Doch der Inhalt war für Ali enttäuschend: Dutzende alte, in Leder gebundene Papyrus-Bücher! Sie wurden im Stall gelagert und zum Feueranzünden verwendet…
Mariam, Mirjam, Maria
Einige Papyri gelangten jedoch auf abenteuerlichen Umwegen über Mönche und Antiquitätenhändler in den Besitz des koptischen Museums von Kairo. Dort erkannte man sofort ihren unschätzbaren Wert, erklärt der Ägyptologe Phillip Luisier:
"Diese Texte von Nag Hammadi sind in koptischer Sprache verfasst und stammen aus dem 4. Jahrhundert nach Christus. Die meisten sind aber Übersetzungen älterer griechischer Schriften aus dem 2. Jahrhundert. Etliche spiegeln Gedanken der damals verbreiteten Geistesströmung der Gnosis."
Die meisten Texte auf den Papyri seien sog. Apokryphen, erläutert Philippe Luisier: Schriften, die sich mit den Ereignissen rund um Jesus befassen, aber von der offiziellen Kirchentradition nicht oder nur eingeschränkt anerkannt werden.
"Das Problem ist immer, diese Apokryphen richtig einzuordnen: Manche füllen historische Lücken innerhalb der biblischen Schriften und können für das Verständnis der christlichen Tradition sehr wertvoll sein. Andere Texte bemühen sich, die Lehre der sog. Gnosis darzustellen. Sie wurde von führenden Theologen der offiziellen Kirche wie Irenäus von Lyon abgelehnt. Doch man muss sehen, dass es auch unter den Gnostikern große Denker gab."
Zu den apokryphen Schriften, auf die man durch den Fund von Nag Hammadi aufmerksam wurde, gehört ein Text, der als "Evangelium der Mariam" bezeichnet wird. "Mariam" sei der koptische Name von "Maria" bzw. "Mirjam" und stehe hier für "Maria Magdalena", erläutert der Koptologe Luisier:
"Dieses "Evangelium der Maria" ist Teil einer Sammlung von Papyri, die man heute im Ägyptischen Museum in Berlin aufbewahrt. Interessant ist, dass Maria Magdalena hier, ebenso wie in weiteren gnostischen Schriften, als Vermittlerin wahrer Lehre und Erkenntnis eine wichtige Rolle spielt."
Petrus wird wütend
Die Augsburger Theologen Katharina Ceming und Jürgen Werlitz haben unlängst eine Auswahl der koptischen Texte einem breiten Publikum in deutscher Sprache zugänglich gemacht.
Zwar ist nur ein Teil des Evangeliums erhalten, doch dieser beeindruckte die Fachwelt. Er beginnt mit Abschiedsworten, in denen der auferstandene Jesus die Jünger nachdrücklich auffordert, seine Lehre zu verkünden.
Ceming: "Aber sie haben wahnsinnig Angst und fragen sich: Wer wird uns denn hören, wenn schon der Meister kein Gehör fand und man ihn getötet hat? Und hier tritt Maria auf: Sie ist die Person, die angstfrei die anderen ermutigt, diesen Auftrag anzunehmen, weil sie in besonderer Weise mit Jesus, dem Meister, verbunden ist."
"Da stand Maria auf, umarmte sie alle und sagte zu den Jüngern: "Weint nicht und seid nicht betrübt und lasst keinen Zweifel in eurem Herzen zu! Denn seine Gnade wird in Fülle mit euch sein und sie wird euch beschützen." … Da Maria das sagte, wandte sich das Herz der anderen zum Guten…." (Evangelium der Maria")
Petrus bittet daraufhin Maria Magdalena, von ihren Begegnungen mit Jesus zu erzählen:
Magdalena berichtet nun von ihren Visionen und Gesprächen mit Jesus. Sie geben Anweisungen, wie man schrittweise zu wahrer Erkenntnis gelangt und Hindernisse wie "Begierden", das "Nichtwissen" oder den "Zorn" überwindet. Ziel aller Bemühungen sei ein Zustand der "Ruhe", versichert Magdalena. Als sie anschließend schweigt, reagiert Petrus wütend. Im Evangelium der Maria heißt es:
"Hat der Erlöser wirklich zu einer Frau gesprochen ohne unser Wissen, nicht öffentlich? Sollten wir umkehren und alle auf sie hören? Hat er sie uns gegenüber dermaßen bevorzugt?" - Da weinte Maria: "Petrus, denkst du etwa, dass ich mir das in meinem Herzen ausgedacht habe und die Unwahrheit über den Erlöser sage?"
Die "Liebe" zwischen Maria Magdalena und Jesus, die der Text ausdrücklich benennt, gab in modernen Romanen und Filmen Anlass zu blühenden Spekulationen:
So ließ etwa Nikos Kazantzakis in "Die letzte Versuchung" Jesus am Kreuz von einer Ehe mit Magdalena träumen. Dan Brown machte Jahre später Schlagzeilen mit dem Thriller "Sakrileg". Darin behauptet der Autor, es sei historisch verbürgt, dass Magdalena als Ehefrau Jesu ein Kind von ihm zur Welt brachte.
All diese literarischen Werke ließen völlig außer Acht, so die Philosophin Ceming, dass das Evangelium der Maria in der Tradition der Gnosis stehe. Diese Geisteshaltung wolle den Menschen dazu befähigen, durch Einsicht zum Göttlichen aufzusteigen.
Küsse und Eifersucht
Ceming sagt: "Magdalena ist diejenige, die diese Welt des Geistigen durchdrungen hat. Ihre Seele hat diesen Aufstieg in die tiefen Erkenntnisse durchlaufen. Sie ist die Person, die angstfrei die anderen ermutigt, weil sie in besonderer Weise mit Jesus, mit dem Meister, verbunden ist."
Das Motiv einer großen geistigen bzw. platonischen Liebe zwischen Magdalena und Jesus findet man auch in anderen apokryphen Texten aus dem Umfeld von Hag Hamadi.
Besonders eindrücklich sind Fragmente des sog. Philippus-Evangeliums, die Magdalena auf Griechisch als "Koinonos" bezeichnen - als "Partnerin" oder "Gefährtin" Jesu.
Darin heißt es:
Die Gefährtin des Erlösers ist Maria Magdalena. Der Erlöser liebte sie mehr als alle Jünger, und er küsste sie oft auf den Mund.
Die Theologin Silke Petersen hat die vielschichtige Bedeutung des "Kusses" in antiken und frühchristlichen Traditionen herausgearbeitet. Sie kommt zu dem Schluss:
"Das Küssen auf den Mund ist in diesem Kontext nicht primär erotisch zu verstehen. Es stiftet vielmehr Gemeinschaft und spirituellen Austausch, ja, es steht für die Weitergabe geistigen Wissens an Auserwählte."
Den Küssen zwischen Jesus und Magdalena, von denen die Papyri sprechen, eine rein sexuelle Dimension zu geben, würde den Texten keinesfalls gerecht, betont auch der Koptologe Luisier:
"Maria Magdalena steht in der gnostischen Tradition oft symbolisch für den "Geist" - auf Griechisch Pneuma - und Jesus für die "Erkenntnis" - griechisch Nous. Wenn also gesagt wird, dass Maria und Jesus sich "küssen", dann bedeutet das, dass der Geist und die Erkenntnis eins werden. In diesem Sinn wurde Maria Magdalena als "Schwester" oder "Partnerin" Jesu bezeichnet."
Protagonistin mit männlichem Gegenspieler
Das Evangelium der Maria ist das einzige bekannte "Evangelium", dessen Protagonist eine Frau ist: Magdalena steht symbolhaft für Liebe und Erkenntnis, ihr Gegenspieler Petrus repräsentiert Macht und Dominanz.
"Das eine, was hier durchschimmert, ist die Frage nach der Führungsposition von Frauen in der Kirche. Wir haben es mit klassisch patriarchalen Gesellschaften zu tun. Wir haben durch Jesus eine Wertschätzung des Weiblichen. In den ersten Jahrzehnten haben die Frauen wohl in der Gemeindebildung eine wichtige Rolle gespielt. Es gab wahrscheinlich Gemeindeleiterinnen. Wir können aber erkennen, dass in dem Moment, in dem das Christentum sich immer stärker etabliert, ganz klar Bestrebungen da sind, die Frauen wieder zurückzudrängen."
Die Abwertung Maria Magdalenas durch Petrus, die in dem apokryphen Evangelium anklingt, wiederholte sich im Lauf der Kirchengeschichte in vielen verschiedenen Formen. Das frivole Urteil Papst Gregors über die Jüngerin Jesu ist nur ein Beispiel. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Frauen in kirchlichen Leitungsämtern tabu - in fast allen Kirchen.
Dann erst begann man in einigen kirchlichen Traditionen langsam umzudenken. 2016 würdigte Papst Franziskus Maria Magdalena offiziell als "Apostelin der Apostel" - als "Apostola Apostolorum". Diese Bezeichnung kam ihr in der Spätantike öfter zu. So schrieb etwa Bischof Hieronymus im 4. Jahrhundert augenzwinkernd in einem Bibelkommentar:
"Als Jesus auferstanden war, erschien er zuerst den Frauen. Jene wurden "Apostelinnen der Apostel". Und die Männer sollten schamrot werden, weil sie den nicht suchten, den das zartere Geschlecht schon gefunden hatte."