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Marie Kondo
Aufräumen als Weg zur Selbsterkenntnis

Die Japanerin Marie Kondo macht Aufräumen zum lukrativen Geschäftsmodell, unter anderem auf Netflix. Für sie ist Aussortieren ein Weg zu Selbsterkenntnis und einem erfüllteren Leben. In ihren Ritualen der Entrümpelung finden sich Bezüge zum Shintoismus.

Von Sven Ahnert |
Die japanische Autorin Marie Kondo in Tokio
Im Zentrum ihres Ordnungs- und Aufräumstils ist der geheiligte Raum - sagt Marie Kondo (picture alliance / The Yomiuri Shimbun)
Hoch im Kurs des weltweiten Aufräumbooms steht die Japanerin Marie Kondo, die ihrer Entrümpelungs-Methode einen magischen Dreh gegeben hat. In zahlreichen Büchern, einem Netflix-Format und - wer es sich leisten kann - auch persönlich, bietet sie ein Tabula Rasa-Programm an, das nicht nur blaue Säcke füllen lässt, sondern auch die Seele aufhellen soll.
Woman praying outside. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Copyright: PascalxDelochex/xGodong 971_07_fr492259a.JPEG

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Spiritualität - Die Reise zum Ich
Wanderfasten, Klosterauszeiten, historische Pilgerrouten: Spirituelle Reisen sind ein Trend, aber noch kein Massenmarkt. Kirchen, die keine Gemeinden mehr haben, sind als Konzert- und Meditationsorte attraktiv.
Marie Kondo lehrt: "Meiner Meinung nach ist das Aufräumen der kürzeste Weg zur Selbsterkenntnis. Ihr Besitz, also alles, was Sie umgibt, erzählt ihnen die Geschichte Ihrer Entscheidungen. Das Aufräumen ist wie eine Inventur Ihrer Persönlichkeit, bei der Sie entdecken, wer Sie sind und was Sie wirklich wollen."
"Gegenstände sind Rudelwesen"
Marie Kondos Methode gleicht einem Ritual: Stehen wir einmal vor dem Haufen Gerümpel, dass wir in der Mitte eines Zimmers aufgetürmt haben, schenken wir den Dingen unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Was uns glücklich macht, behalten wir und legen es systematisch in Kästen und Regale. Dem Rest, der ausgedient hat, sagen wir Lebewohl und danken für die Mühen, die beispielsweise Socken auf sich genommen haben, um unsere Füße zu schützen. Haringke Fugmann sieht Marie Kondos Aufräumwelt in bester japanischer Tradition. In seinem Aufsatz "Aufräumen als heilige Handlung" analysiert er Marie Kondos spirituelle Dimension.
"Sie beschreibt, dass Dinge eine Pause brauchen, also die Reisetasche, die braucht dann eben die Pause, die muss sich ausruhen. Sie beschreibt, dass Gegenstände Rudelwesen sind, also Socken zum Beispiel würden sich eben einsam fühlen, wenn sie alleine sind. Deswegen muss man sie mit anderen Socken zusammen aufbewahren. Das sind alles Metaphern, wo sie von einer starken Lebendigkeit der Gegenstände ausgeht. Ich vermute mal, dass das im japanischen Kontext nicht wirklich überraschend ist, sondern dass es wahrscheinlich da eher eine sehr populäre Vorstellung ist. Vor dem Hintergrund erklärt sich dann eben ihre Empfehlung, dass wenn man Dinge gehen lässt, sie wegschenkt, wegwirft und so weiter, dass man sie eben vorher auch segnen kann."
Eine Art Offenbarungserlebnis
Auch wenn Marie Kondo mit ihrer Aufräummethode explizit keine esoterischen Ideen vermitteln will, streift sie doch spirituelles Terrain und hat scheinbar Höheres im Sinn. Besucht sie eine Klientin, setzt sie sich zunächst auf den Boden, begrüßt die Wohnung und bedankt sich bei ihr. Ein durchaus theatralischer Akt, dessen Wurzeln bis in die japanische Volksreligion, dem Shinto, reichen und ihr eigenes Erweckungserlebnis dokumentieren. Nach einem nervösen Zusammenbruch, als Folge einer Aufräumneurose, fand sie angeblich den Schlüssel zu ihrer KonMari-Welt:
Fugmann sagt: "Das ist eine Vorstellung, die man wahrscheinlich in Japan ganz normal findet, kann ich mir erklären, eben dass selbst Häuser, Wohnungen, Zimmer, ja sozusagen eine Art von Lebendigkeit oder von Göttlichkeit haben. Hier findet quasi eine Art Offenbarungserlebnis statt und in diesem Augenblick erkennt sie eben diese Schlüsselregel, die dann für ihre Aufräummethode so relevant ist. In dem Moment, wo sie dann wieder erwacht, hat sie eben diesen Schlüssel. Man muss den Gegenstand in die Hand nehmen und wenn er einen glücklich macht, dann darf man ihn behalten."
Ort der spirituellen Reinheit
Haringke Fugmann sieht darin Bezüge zum Shintoismus, der im 19. Jahrhundert formulierten Staatsreligion Japans. Als Japan dabei war, ein Nationalstaat zu werden, entwickelte sich diese Form der Religiosität, um den japanischen Bürgern eine spirituelle Identifikation im neuen Nationalstaat zu geben. Im Kern ist der Shinto eine unsystematische Religion, die Raum bietet für sehr individuelle Vorstellungen von Göttlichkeit und der Beseeltheit der Dinge.
Fugmann erklärt: "Es gibt im Shinto keinen Gründer. Es gibt so gut wie keine Lehren, die man glauben müsste, es gibt keine heiligen Schriften, die verehrt oder gelesen würden. Der Shinto passiert im Grunde genommen auf dem rituellen Tun in Schreinen. Man besucht einen Schrein und nimmt Teil an einem Ritual."
Marie Kondo schreibt: "Das tiefer liegende, geheime Thema meines Ordnungs- und Aufräumstils ist der geheiligte Raum. Es geht mir darum, Ihnen zu vermitteln, wie Sie ein Zimmer in einen geheiligten Raum verwandeln können und somit aus Ihrem Zuhause einen Kraft-Ort machen, an dem eine Atmosphäre der spirituellen Reinheit herrscht."
Aus christlicher Perspektive fragwürdig
Bis zu einem halben Jahr kann dieser meditative und doch so handfeste Aufräum-Zyklus in Anspruch nehmen. Am Ende ist die heimische Welt in Ordnung und die Seele entlastet. Ob dieses private Ordnungs-Glück dann spirituelle Gefühle vermittelt, steht auf einem anderen Blatt. Aus christlicher Perspektive jedenfalls ist die Transformation der eigenen vier Wände in einen heiligen Schrein schwer nachvollziehbar, meint Haringke Fugmann und gibt vorsichtig zu bedenken:
"Ich kann mir gut vorstellen, dass das im Kontext einer shintoistisch japanischen Kultur gut verstanden wird, was sie damit meint. Aus einer christlichen Perspektive heraus würde ich immer sagen: Ich glaube, wir als Menschen haben nicht die Verfügungsgewalt, um einen Ort heilig zu machen. Schon gar nicht dadurch, dass wir ihn einfach aufräumen. Das kann ich mir gut vorstellen, dass der dann irgendwie psychologisch angenehmer ist und vielleicht auch ästhetisch schöner, aber heiliger wird er aus meiner Sicht durchs Aufräumen an sich ganz bestimmt nicht. Da haben wir einfach unterschiedliche Vorstellungen von Heiligkeit."