"Nicht teilnehmen an dem geistigen Fortschreiten seiner Zeit, heißt moralisch im Rückschritt zu sein."
Die Welt- und Lebenszeit, die die 1830 auf dem tschechisch-mährischen Schloss Zdislawice in Kremsier geborene Marie von Ebner-Eschenbach bis zu ihrem Tod am 12. März 1916 in Wien schreibend zu gestalten versuchte, war die Zeit des von Kaiser Franz Joseph I. regierten alten Österreichs. Geprägt vor allem von der 1848er-Revolution, deren Auswirkungen die gebürtige Gräfin Marie Dubsky als 18-Jährige auch in ihrer mährischen Heimat erfuhr. Später, nach ihrer Heirat mit Moritz von Ebner-Eschenbach, von Wien aus das Erlebnis des österreichisch-ungarischen Ausgleichsvertrags mit der entstandenen Doppel-Monarchie, gegen Ende Ereignisse wie die Ermordung der Kaiserin, das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs – politische Veränderungen, die zugleich korrespondierten mit dem Erlebnis einer ungeheuren Beschleunigung der Zeit durch neue fernmeldetechnische Erfindungen oder das Aufkommen der Eisenbahn: "Ein gewaltiger Andrang von fremden Zuzüglern, von unternehmenden Leuten, die ihr Glück versuchten wollten in der im Aufschwung begriffenen Stadt Wien".
Als Marie von Ebner-Eschenbach dies notierte, hatte sie sich über die Vorurteile ihrer adeligen Herkunft hinweggesetzt und ihre Veränderungswünsche gegenüber den alten Kräften sehr deutlich mitgeteilt: "Es gäbe keine soziale Frage, wenn die Reichen von jeher Menschenfreunde gewesen wären."
"Man muss das Gute tun, damit es in der Welt sei."
Zu den bestimmenden historischen Ereignissen ihrer Zeit finden sich zwar nur am Rande ihres Werkes konkret bezogene Kommentare. Sie erzählte lieber in Büchern wie "Aus Franzensbad" oder "Das Gemeindekind" Dorf- und Schlossgeschichten, die sie aus der Kindheit kannte, oder schrieb, später in die Schulbücher aufgenommene Tiergeschichten wie "Crambambuli", aber sie erzählte sie in einem realistischen Ton wie neu, nach ihrer Grundsatz-Devise: "Man muss das Gute tun, damit es in der Welt sei."
Dass die Welt der alten Traditionen und Bindungen sich in einem Erosionsprozess befinde, dieser Prozess nicht aufzuhalten und sogar zu begrüßen sei, dafür finden sich in den Büchern sprechende Szenen zuhauf. "In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich’s schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, dass der Teller seines Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den völlig geistig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben – dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst."
Karriere als Theaterautorin misslang
Es war ein weiter und auch mühseliger Weg zu solchen Prosaszenen. Erste Gedichte schickte Marie von Ebner-Eschenbach Bettina von Arnim-Brentano zur Begutachtung, die aber sehr reserviert ausfiel. Auch der Traum, als Theaterautorin zum Beispiel mit dem 1873 uraufgeführten Stück "Das Waldfräulein" zu reüssieren, misslang: "Ich getraue mich kaum auf die Straße. Die Zeitungen überschütten mich mit Hohn. Grausam!"
Erst mit ihren kurz darauf vermehrt geschriebenen Prosatexten kam der triumphierende Erfolg. Er zeichnete sich ab, als 1879 die in Berlin erscheinende Literaturzeitschrift "Deutsche Rundschau" als das führende Forum eines bürgerlichen Realismus ihren Roman "Lotti, die Uhrmacherin2 vorabdruckte. Neben den anderen Autoren der Zeitschrift wie Theodor Storm, Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller und Theodor Fontane war Marie von Ebner-Eschenbach nun als erste Frau in den Kreis der anerkanntesten deutschsprachigen Schriftsteller ihrer Zeit aufgenommen. Auch öffentliche Auszeichnungen häuften sich wie die Ehrendoktorwürde, die die Universität Wien ihr als erster Frau zum 70. Geburtstag verlieh. Über allem Stolz angesichts solcher Anerkennungen vergaß sie nicht: "Wie vieles wurde nur aufgeschrieben, um wieder ausgestrichen zu werden, und hat doch aufgeschrieben werden müssen."
Dass die äußeren und inneren Veränderungen in ihrer Zeit 1918 zum Untergang des alten Österreich führten, hat Marie von Ebner-Eschenbach nicht mehr erlebt. Zwei Jahre zuvor und ein knappes halbes Jahr vor Kaiser Franz Joseph I. starb sie in Wien und wurde in ihrer mährischen Heimat begraben.