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Marieke Lucas Rijneveld: „Mein kleines Prachttier“
Die Geschichte einer Obsession

„Mein kleines Prachttier“ erzählt von einem Mädchen und einem deutlich älteren Mann. Er will vor einem Trauma fliehen, sie lebt in einem Reich der Fantasie. Marieke Lucas Rijnevelds Roman ist eine Reise ins Herz der Finsternis und bis an die Grenze des Sagbaren.

Von Nora Karches |
Marieke Lucas Rijneveld: "Mein kleines Prachttier"
Ein ästhetisch wie erzählerisch gewagter Roman: „Mein kleines Prachttier“ von Marieke Lucas Rijneveld (Foto und Buchcover: © Suhrkamp Verlag)
Der Roman "Mein kleines Prachttier" ist eine Reise ins Herz der Finsternis.
"Manchmal schlüpfte ich leise zwischen den Laken heraus und tappte ins Badezimmer, wo ich am Fenster eine Zigarette anzündete und den Rauch durch das Fliegengitter hinausblies, damit Camillia nichts röche, wenn sie am Morgen auf die Toilette ging, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich keine Angst mehr hätte zu sterben, und sie sagen würde: Denk an die Kinder. Aber ich konnte ihr nicht erzählen, dass nur noch ein Kind meinen Kopf ausfüllte"

Die Perspektive des Täters

Marieke Lucas Rijneveld erzählt von Pädophilie aus der Perspektive des Täters. Dass er das Kind durch sein Begehren zerstören wird, dessen ist er sich bereits auf Seite eins bewusst. In einer dunkel irisierenden Sprache macht er uns zu seinen Verbündeten, zu Gefangenen seiner verzerrten Wahrnehmung.
"Du lagst in jenem störrischen Sommer wie ein Kalb in Steißlage im Kreißsaal meines vergifteten Verlangens, ich war der Handlanger des Wahnsinns."
Doch der Reihe nach.

Suche nach dem bestätigenden Blick

Es ist das Jahr 2005, ein langer, heißer Sommer in der niederländischen Provinz. Ein Mann und ein Mädchen, er Ende vierzig, Tierarzt, sie die vierzehnjährige Tochter des Milchbauern, auf dessen Hof er arbeitet. Dass sie, die am Finger noch einen Marienkäfer-Ring trägt, ihre aufkeimende Sexualität nicht versteht, spürt er. Sie sucht den bestätigenden Blick. Er sieht sie, schickt ihr Songtexte und gibt ihr Worte für Gefühle, die sie nur zu empfinden glaubt.
"Du sagtest mit kleiner Stimme, dass ich nicht verrückt sei, doch ich erzählte dir, dass Jule und ihre Mutter sie das glauben machen würden, und du sagtest lahm, dass du dich für mich entscheiden würdest, und ich sagte, ich könne dich nicht hören, ich hörte dich nicht, und du riefst über das Wasser: Kurt, ich entscheide mich für dich, I’m going for you, I’m Juliet. Und ich fasste dich um die Taille und hob dich über die Wellen hinaus."

Eine ausdrucksreiche Sprache

Seit dem Weggang der Mutter ist die Familie des Mädchens tief zerrüttet, und so knüpft sie eine verzweifelte Beziehung zu dem 35 Jahre älteren Mann. Begehren verwechselt sie mit väterlicher Zuneigung. Ausdrucksstarke, der Tierwelt entlehnte Sprachbilder legen seine Pädophilie in all ihrer Monstrosität frei.
"Ich kroch langsam unter deine Haut, wie ein Leberegel in ein Rind."
Weder die Frau des Tierarztes noch seine Söhne ahnen, was vor sich geht. Es folgt das Unvermeidliche: Die Implosion zweier Familien.
"Und du würdest flüstern, dass du mich liebtest, dass du mich wirklich liebtest, nur wüsstest du nicht, ob du das Küssen auch wolltest, und dein Pa tobte, dass das nicht ging, dass du mich nicht lieben konntest, weil ich der Teufel sei, und niemand liebe den Teufel, denn das bedeute, dass man einer seiner Abgesandten sei, und das seist du nicht, sagte er, und jetzt benutzte er beide Daumen, um deine Lippen sauber zu wischen, um den Kuss wegzuschrubben."

Bis an die Grenze des Sagbaren

Der namenlose Protagonist macht das Mädchen glauben, echte Liebe kenne kein Alter. Doch tief im Innern erkennt er seinen Wahn: Er liebt nicht sie, er liebt ihre Jugend.
"Ich wollte nicht, dass du dich jemals in eine Frau verwandelst, ich wollte das schöne Kind behalten."
Marieke Lucas Rijneveld folgt dem Mann bis an die Grenze des Sagbaren, bis in den Kofferraum seines Transporters, wo Poster von Nirvana und der Königin Beatrix über der Matratze hängen. Wir sehen seine schmutzige Entschlossenheit, aber auch seine Versehrtheit. Denn der Roman deutet eine weitere Missbrauchserfahrung an.
Marieke Lucas Rijneveld: "Was man sät"
Das Leben auf dem Land ist bei der niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld alles andere als idyllisch. Hier wird den Menschen nichts geschenkt. Unterschwellige und offene Gewalt dominiert das Dasein. Dann stirbt auch noch ein Kind.
"Wenn meine Mutter zu mir ins Bett kroch und sagte, wie sündig und schmutzig ich sei, während sie mich betastete, konnte ich nicht anders, als das Erwachsensein zu verabscheuen, […] ich spürte, wie ihr kalter Ehering mein Geweih entlangfuhr."

Bezüge zu Vladimir Nabokovs "Lolita"

Man liest, und weiß nicht wohin mit dieser Ambivalenz. Dass wir einer Figur unser Mitgefühl schenken, wenn wir um ihr Trauma wissen, ist Teil des literarischen Kalküls von Marieke Lucas Rijneveld. Ein Mann begeht eins der übelsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann, und ist doch kein Monster. Er bleibt Mensch. Wie Humbert Humbert, der Protagonist in Vladimir Nabokovs "Lolita", sitzt er im Gefängnis und bekennt seine Schuld.
"Manchmal schrak ich aus dem Schlaf hoch und fühlte mich wie der Widder aus dem Ersten Buch Mose, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hatte und anstelle von Abrahams Sohn geopfert werden sollte, ich war das Urteil des Jüngsten Gerichts, ich war der Tod, und manchmal schien es, als wäre das glühend heiße Bett, in dem ich lag, die Opferstätte, es brannte."

Querverweise auf die Bibel

Wie das Debüt "Was man sät" enthält auch "Mein kleines Prachttier" zahlreiche Verweise auf das Alte Testament. Sie unterstreichen das Apokalyptische der Handlung. "Mein kleines Prachttier" ist ein ästhetisch wie erzählerisch gewagter Roman. Doch nirgends verherrlicht er Pädophilie. Marieke Lucas Rijnevelds erzählerisches Anliegen ist es, sich in das Innere einer klaustrophobischen Welt zu begeben, auf literarisch nicht erschlossenes Gebiet. Und nicht nur findet sie dort, wo Sprachlosigkeit und Stille herrschen, Worte, ihr gelingt sogar ein sprachliches Kunstwerk. "Mein kleines Prachttier" ist ein Roman, dem allein aufgrund seines Themas explosive Ablehnung entgegenschlagen wird, und der doch in seiner Komplexität überzeugt.
Marieke Lucas Rijneveld: "Mein kleines Prachttier"
aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp Verlag, Berlin. 364 Seiten, 24 Euro.