Musik: Marin Marais – aus "Simphonie du sommeil"
Eine Steintafel, übersät von unzähligen, winzigen Zeichen. Striche, Haken, Pfeile und andere Symbole wurden mit größter Genauigkeit in die Oberfläche eingeritzt. 196 vor Christus haben Menschen diesen Stein beschriftet: den Stein von Rosette. Mithilfe dieses uralten Brockens wurden die Hieroglyphen der alten Ägypter entziffert. Auf dem Stein von Rosette steht dreimal derselbe Text in drei verschiedenen Sprachen – wer eine versteht, kann sich die anderen beiden erschließen.
Auf einer ähnlichen Übersetzungshilfe basiert die CD, die ich Ihnen heute vorstellen möchte: "Le secret de Monsieur Marais". Gamben- und Orchestermusik von Marin Marais, durch die Musikwissenschaft neu beleuchtet und gespielt vom italienischen Gambisten Vittorio Ghielmi und dem Ensemble Il Suonar Parlante.
Musik: Marin Marais – "Ballet en rondeau"
Marin Marais war Komponist und Gambist am Hof des Sonnenkönigs Louis Quatorze. Er schrieb nur wenige Bühnen- und Vokalwerke, dafür aber rund 600 Stücke für Gambe. Darüber hinaus gibt es weitere Musik- und Schriftstücke von Marais, sie schlummern in Archiven und sind teilweise nicht öffentlich zugänglich. Einige dieser noch nicht erschlossenen Manuskripte hat Vittorio Ghielmi entdeckt und erforscht.
Und an diesem Punkt kommen wir wieder zurück zu den Hieroglyphen der Ägypter. Denn auch Marais hat eine geheime Buchstaben- und Zahlenschrift entwickelt, mit der er seine Noten versah. Was Marais mit diesen Zeichen gemeint hat, verraten die neuen Quellen – sie sind ein Schlüssel zum Verständnis seiner Musik. Für Vittorio Ghielmi ein Stein von Rosette für die französische Barockmusik.
Rätselhafte Codes aus Ziffern und Buchstaben
Auf dem CD-Cover ist ein metallenes Schloss mit einem großen Schlüssel abgebildet. Im Begleitheft öffnet sich die Tür schon einmal einen Spalt breit und gewährt einen Blick auf Marais’ Hieroglyphen. Auf einem Buch notierte er beispielsweise Codes aus Ziffern und Buchstaben – wofür sie gedacht waren, erfährt man nicht. Dann gibt es aber auch das Foto einer Partitur, in der Marais kryptische Buchstabenkürzel eingetragen hat. Mit dünner Feder hat er die Schriftzeichen "Tap", "jt", "e" und "el" über, unter und neben die Noten geschrieben. So klingt die bezeichnete Stelle aus einem Prélude von Marais.
Musik: Marin Marais – "Prélude"
Die Kürzel, die jetzt entziffert werden konnten, bedeuten "tapé", "jeté", "enflé" und "élevé", übersetzt "geklopft", "geworfen", "lauter werdend" und "erhöht". Jeder Ton soll also seine eigene Charakteristik bekommen.
An manchen Stellen übertreibt Marais regelrecht und notiert sechs Kürzel über einem einzigen Ton. Demnach soll er gleichzeitig "springend", "gezogen", "anschwellend", "unterdrückt", "abgeschnitten" und "still" gespielt werden. Wie das gehen soll, erklärt Vittorio Ghielmi im Begleitheft: Die Kürzel seien keine statischen Anweisungen, sondern Marais habe versucht, das Gambenspiel in Aktion zu beschreiben. Er meine nicht den Klang, sondern die Gesten – die dann den richtigen Ton automatisch erzeugen.
Leider kann ich Ihnen jetzt kein Video zeigen – aber man kann sich gut vorstellen, wie der Spieler den Bogen aufsetzt, ihn zieht oder springen lässt, wenn man diese Klänge hört.
Die genauen Quellen bleiben ein Geheimnis
Vittorio Ghielmi und an der Laute Luca Pianca. Die neuen Quellen erforschte Ghielmi zusammen mit seinem Kollegen Christoph Urbanetz. Er ist ebenfalls Gambist und am Mozarteum Salzburg tätig. Im Rahmen einer laufenden Forschungsarbeit entschlüsselten sie die Unterlagen gemeinsam.
Um welche Quellen genau es sich handelt, warum sie erst jetzt entdeckt wurden und wo sie liegen, möchte Christoph Urbanetz noch nicht verraten. Einige der Unterlagen seien noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, und mit den Resultaten müsse er noch bis zur Publikation warten, schreibt er als Antwort auf meine Anfrage. Uns bleiben die klingenden Ergebnisse.
Musik: Marin Marais – "Les voix humaines" aus Pièces de viole, Livre II No. 63
Fast wie aus einer anderen Welt klingt dieser tiefe Ton der Theorbe. "Les voix humaines" ist ein sehr bekanntes Stück aus den "Pièces de viole" von Marin Marais. Bei Vittorio Ghielmi und Luca Pianca klingt es aber anders, als man es kennt. In vielen Interpretationen perlen die Akkorde gleichmäßig und leise dahin. Vittorio Ghielmi versteht das Stück nicht als warme Dusche, sondern spielt es differenziert und mit dynamischen Entwicklungen.
"Die menschlichen Stimmen" heißt der Titel auf Deutsch, und hier wirkt es tatsächlich, als würde die Musik als Person auftreten und ihre Gedanken aussprechen – mit Denkpausen und Zeit zum Atemholen.
Musik mit Denkpausen und Zeit zum Atemholen
Fast wie aus einer anderen Welt klingt dieser tiefe Ton der Theorbe. "Les voix humaines" ist ein sehr bekanntes Stück aus den "Pièces de viole" von Marin Marais. Bei Vittorio Ghielmi und Luca Pianca klingt es aber anders, als man es kennt. In vielen Interpretationen perlen die Akkorde gleichmäßig und leise dahin. Vittorio Ghielmi versteht das Stück nicht als warme Dusche, sondern spielt es differenziert und mit dynamischen Entwicklungen.
"Die menschlichen Stimmen" heißt der Titel auf Deutsch, und hier wirkt es tatsächlich, als würde die Musik als Person auftreten und ihre Gedanken aussprechen – mit Denkpausen und Zeit zum Atemholen.
Musik: Marin Marais – "Polonaise"
Interpreten: Paolo Pandolfo, Thomas Boysen
Interpreten: Paolo Pandolfo, Thomas Boysen
Während diese Polonaise eher gemütlich klingt, entwickelt "Il Suonar Parlante" anhand der neuen Anmerkungen einen richtigen Groove. Zur leichten, energetischen Interpretation des Ensembles kann man hervorragend tanzen – und vielleicht liegt das auch am Cembalo, das mit seinem leisen Ticken und Zupfen als Percussion-Instrument auftritt.
Musik: Marin Marais – "Polonaise"
"Il Suonar Parlante" klingt hier wie eine Swing-Band, die man nur allzu gerne einmal in Club-Atmosphäre erleben würde. Die Soli- und Ensemblepassagen wechseln sich mühelos ab, alle Musikerinnen und Musiker scheinen zusammen zu atmen – und ihre Präsenz ist auch über die Kopfhörer zu spüren.
Einen ganz anderen Ton schlägt das Ensemble mit dem Eingangsstück "Tempeste" an, einer Sturmszene aus der Oper "Alcione".
Musik: Marin Marais – "Tempeste"
Diese Klangwucht überrumpelt. Zunächst macht es Spaß, sich von der Spielfreude mitreißen zu lassen – aber durch das hohe Tempo fällt der Ensembleklang stellenweise auseinander. Als Eröffnungsstück passt dieser brutale Sturm nicht so ganz zu einer CD, die sich durch ihre Feinfühligkeit auszeichnet.
Musik: Marin Marais – "Les Regrets"
Diese geschmierten, verschliffenen Töne klingen ungewohnt, aber auch dafür finden sich Anweisungen in den Manuskripten. "Cercar della nota" heißt eine Anmerkung, laut derer man die Note suchen soll – bedeutet: ein Glissando am Anfang oder Ende der Töne. "Les Regrets" – "das Bedauern" ist der Titel des Stückes, das wir im Hintergrund hören.
Es ist eines von zwei ganz neuen, aus den Manuskripten rekonstruierten Werken, die hier als Weltersteinspielung erscheinen. Durch Ghielmis federleichte Spielweise kommen sich Gambe und Theorbe im Klang ganz nah.
Trügerische Traditionen und ein schlaues Buch
In seiner Spieltechnik orientiert sich Vittorio Ghielmi an einem Buch, das im Jahr 1740 erschienen ist. Der Autor heißt Hubert le Blanc, er war Rechtsgelehrter und leidenschaftlicher Amateur-Gambist. Sein Buch "Défense de la basse de viole" ist eine der wichtigsten Quellen über das Gambenspiel. Darin werden beispielsweise die Bogen- und Grifftechniken – die anders als beim Cello funktionieren – genau erläutert.
Die heutigen Mainstream-Gambisten verwenden aber meistens eine ganz andere Technik und lassen Le Blanc beiseite, schreibt Ghielmi im Begleitheft. Ich zitiere: "Die von den "Pionieren" in den 1970er Jahren entwickelten Aufführungsformeln, die heute universell eingesetzt werden, [werden] den alten Notentexten nicht gerecht." Zitat Ende.
Im Klartext heißt das: Nur, weil sich ein Klang eingebürgert hat, muss er noch lange nicht richtig sein. Dem richtigen Gamben-Klang scheint Ghielmi jetzt noch näher gekommen zu sein, denn die neuen Quellen stützen Le Blancs Buch und also auch Ghielmis Technik.
Abgesehen von all diesen musikwissenschaftlichen Spitzfindigkeiten lässt sich auch hören, dass zwischen Ghielmis Interpretation und der seiner Kolleginnen und Kollegen Welten liegen. Ein gutes Beispiel dafür ist die "Badinage" von Marin Marais. Wir hören zum Vergleich die Version der Gambistin Hille Perl, die das Stück mit Lee Santana aufgenommen hat.
Musik: Marin Marais – "Le Badinage"
Interpreten: Hille Perl, Lee Santana
Interpreten: Hille Perl, Lee Santana
Während diese Stelle bei Hille Perl beinahe harmlos klingt, fordert Vittorio Ghielmis Interpretation Aufmerksamkeit.
Musik: Marin Marais – "Le Badinage"
"Le Secret de Monsieur Marais" ist eine Entdeckungsreise in die Welt der Gambe. Mit jedem Titel zeigen sich neue Töne, Laute, Silben, Ausdrücke – so vielfältig hört man dieses Instrument selten.
Der archäologisch-musikwissenschaftliche Ansatz der CD macht Spaß, allerdings ist es schade, dass nicht alle Quellen offengelegt werden. Vittorio Ghielmi und Christoph Urbanetz, der übrigens auch im Ensemble mitspielt, bewerten sie als einzigartig und grundlegend für die französische Barockmusik. Das sollten sie auch beweisen und erklären können.
Den Stein von Rosette gibt seit einigen Monaten digital: Auf einer Internetseite kann man ihn selbst entziffern. Für die Hieroglyphen und Codes von Marin Marais wäre ein ähnliches Angebot wünschenswert.
"Le secret de Monsieur Marais"
Vittorio Ghielmi, Viola da Gamba & Leitung
Luca Pianca, Laute & Theorbe
Il Suonar Parlante
Label: alpha Classics
Vittorio Ghielmi, Viola da Gamba & Leitung
Luca Pianca, Laute & Theorbe
Il Suonar Parlante
Label: alpha Classics