Sie gehört zu den berühmtesten und umstrittensten zeitgenössischen Künstlerinnen: Die 1947 geborene Serbin Marina Abramović, der die Bundeskunsthalle gerade eine große Retrospektive widmet. Dabei steht zunächst die Frage im Raum, wie man die immaterielle Kunst der Performance überhaupt ausstellen kann, da sie ursprünglich in einem bestimmten zeitlichen, gesellschaftlichen und politischen Kontext stand.
Messer als Hörspiel
In Bonn gelingt das durch vielschichtige Dokumentation einerseits, und Re-Performance andererseits. Aktionen wie "Rhythm 10", bei denen sie ihre Hand auf ein weißes Blatt Papier legte und dann mit zwanzig verschiedenen Messern immer wieder in die Zwischenräume stach, und dabei gelegentlich auch ihre Hand verletzte, werden akustisch aufbereitet: Tack tack tack tack tack, rattert es aus Lautsprechern - die Messer als Hörspiel. In einem schmalen Durchgang zwei Räume weiter stehen eine nackte Frau und ein nackter Mann, eine Re-Performance von "Imponderabilia" in Bologna 1977 zusammen mit ihrem damaligen Partner Ulay.
Trotz des dokumentarischen Charakters haben die frühen Werke von Marina Abramović eine ungeheure Kraft, sowohl die dokumentierten als auch die Re-Performances. Gesten, Rituale, Beziehungsmuster werden aus ihrem Alltagskontext gelöst. Plötzlich wirken Küsse, liebevolle Berührungen, zwischenmenschliche Interaktionen wie ihr Gegenteil. Und manchmal auch ironisch – eine Komponente, die man später bei der Künstlerin nicht mehr findet. Gerade in den Arbeiten mit Ulay steht die Frage nach Symbiose und Differenz immer wieder unausgesprochen im Raum.
Im Spätwerk dominiert das Ritual
Mit dem "Great Wall Walk" findet ein Bruch statt: Alles ist ab jetzt von größter Bedeutung. Egal, ob Marina Abramović und Ulay auf der Chinesischen Mauer 90 Tage lang aufeinander zulaufen, ob sie tagelang blutige Knochen schrubbt oder mit der Performance "The Artist Is Present" fremden Menschen stundenlang gegenüber sitzt: Immer dominiert das Ritual, das quasireligiöse Diktum der Erlösung durch Überwindung von Schmerz, Angst und Scham.
Gelegentlich hat Marina Abramović die Aura einer Sekten-Großmeisterin – zumindest in den Performances. Dass die 71-jährige in den letzten Jahren Superstarstatus erlangt ist, ist sicher kein Zufall: Umso krisenhafter die Gegenwart empfunden wird, desto größer die Empfänglichkeit für alles, was Transzendenz und Rettung verspricht.