Es war ein besonders herbes mediales Erlebnis, nach dem neuerlichen Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze die Berichterstattung über Geopolitik zu verfolgen.
Die Überschriften titeln: „USA befürchten Ukraine-Angriff“, „Ukraine-Konflikt: Was kostet die Rückkehr eines neuen Kalten Kriegs?“ und „Telefonat der beiden Statschefs: Biden warnt Putin vor Einmarsch in die Ukraine“.
Es ist immer wieder die Rede von den Interessen Russlands und den Interessen der NATO und wer wem welche Zusagen gemacht hat. Um eine kleine Partei in dieser Geschichte ist es allerdings verhältnismäßig still: die Einwohner der Ukraine.
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Das ist bereits seit 2013 so, als in der Ukraine aus einer gewaltsam aufgelösten studentischen Demo ein gewaltiger Massenprotest wurde, der sich zunächst gegen Polizeigewalt, dann gegen Korruption und schließlich gegen den Präsidenten wendete, der am Ende floh und durch eine Neuwahl ersetzt wurde.
Ich war damals auf dem Maidan und berichtete von dem tiefen Wunsch der Ukrainer dort, der Korruption und dem Diebstahl in ihrem Land zu entkommen und ein demokratischeres, westlicheres Land zu werden.
Diesen Moment nutzte Putin, um die Krim zu annektieren und die Ostukraine indirekt unter seinen Einfluss zu bringen. Zu groß war die Gefahr, die Ukraine könnte sich nach Westen orientieren.
Ost gegen West, Russland gegen NATO
Seitdem steht das Narrativ des kalten Krieges wieder in voller Blüte. Putins Anhänger monieren, dass die NATO zu viele Länder im Osten aufgenommen habe und Russland auf die Pelle rücke. Seine Gegner befürchten, dass er das gesamte Gebiet der ehemaligen UdSSR wieder unter seine Kontrolle bringen wolle. Immerhin bezeichnete er den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Es steht Ost gegen West, Russland gegen NATO.
Aber was ist eigentlich mit der Ukraine selbst? Ihr scheint von allen Beteiligten eine Selbstwirksamkeit abgesprochen zu werden.
Dabei ist es die Ukraine, in der bisher im Zuge der Aggression etwa 14.000 Menschen starben. In der zwei Millionen Menschen fliehen mussten und dadurch ihr aufgebautes Leben verloren. Es ist die Ukraine, in der Menschen davon geträumt haben, ein modernes demokratisches Land aufzubauen und stattdessen jeden Tag um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder fürchten müssen. Wenn meine Verwandten zum Geburtstag gratulieren, wünschen sie derzeit nur eines: Frieden.
Die ukrainische Perspektive
Man kann natürlich darüber schreiben, dass immer mehr an Russland grenzende Staaten der NATO beitreten. Aber gibt das irgendjemandem das Recht, eine Invasion in einen souveränen Staat zu führen?
Mir scheint, wenn man Geopolitik zu sehr als Schachspiel zwischen Großmächten betrachtet, geht verloren, dass hier die echten Leben echter Menschen beeinträchtigt oder beendet werden. Ich würde mich freuen, wenn die ukrainische Perspektive mehr Raum gewinnt.
Diese Perspektive ist die eines Landes, das eine eigene Sprache, eine eigene Kultur hat. Das enorm mit seinen eigenen Obrigkeiten zu kämpfen hat, aber auch kämpft. Das demokratischer werden will. Das ökonomische Reformen anstrebt.
Die Bedeutung von Erzählungen und Perspektiven
Das alles ist nicht zu machen mit Krieg auf der Türschwelle. Angst erstickt Hoffnung. Die Ukraine ist viel mehr als bloß ein „herrenloses“ Territorium, wie der russische Außenminister Lawrow sagte. Mehr als ein Spielfeld, wo Großmächte Stellvertreterkriege ausfechten. Sie ist weit mehr für mich und meine Familie.
Nicht noch einmal dürfen Menschenleben, aufgebaute Existenzen und Hoffnungen eines souveränen Landes geopolitischem Geschacher zum Opfer fallen. Und das beginnt mit den Erzählungen. Das beginnt mit Perspektiven.