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Marina Weisband
Öffentlichkeit und Meinung

Wie können Massenmedien Fakten so berichten, dass sie Zugang zu allen Weltbildern finden und tatsächlich der Meinungsbildung dienlich sein können? Fragt Marina Weisband in ihrer Kolumne - und hat eine Idee.

Von Marina Weisband |
    Porträtfoto von Marina Weisband
    Marina Weisband (Lars Borges)
    Sprechen wir einmal über Öffentlichkeit und Meinung. Es ist eine zentrale Aufgabe von Medien, am öffentlichen Meinungsbildungsprozess mitzuwirken, indem sie alle relevanten Nachrichten und Informationen liefern, die jeder Einzelne benötigt, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Dabei braucht es Massenmedien, um aus vielen Teilöffentlichkeiten wie einzelnen Schulen oder Dörfern die Debatte in eine größere Öffentlichkeit zu überführen. In letzter Zeit scheint es allerdings, als gäbe es sogar auf der ganz großen Ebene - auf der nationalen und sogar auf der internationalen - mehrere Öffentlichkeiten, mehrere Wahrheiten, die gleichzeitig nebeneinander existieren, obwohl sie sich widersprechen.
    In einer Öffentlichkeit zum Beispiel hat Krieg einige Asylsuchende in das Land getrieben, die gefährdet sind durch eine neue Welle von Neonazis; in der anderen Öffentlichkeit ist Deutschland überrannt von Migranten, die selbst akute Gefahr und Terror bedeuten. Obwohl viele Zeitungen versuchen, mit Statistiken und Reportagen Fakten bereitzustellen, anhand derer eine objektivere Bewertung der Situation möglich sein soll, existieren beide Wahrnehmungen voneinander völlig unbeeindruckt parallel vor sich hin. Aber wie kann das sein?
    Ist es alleine die Filterblase?
    Ein häufig beschriebener Effekt ist der der Filterblasen. Gerade in sozialen Netzwerken suchen sich Leute demnach genau die Quellen und Unterhaltungspartner, die ihre eigene Meinung bestätigen, während sie sich mit der Gegenseite nie konfrontieren müssen. Demnach hätten beispielsweise Anhänger von Pegida einfach nie Kriminalitätsstatistiken von Geflohenen gesehen und könnten die Faktenlage darum nicht in ihre Meinung integrieren.
    Allerdings sind soziale Medien wie Facebook auch nach Studien von 2016 noch lange nicht die Hauptinformationsquelle. Fast drei Viertel schauen regelmäßig Nachrichten im klassischen Fernsehen, weniger als ein Drittel nutzt dafür soziale Netzwerke. Die Süddeutsche Zeitung hat außerdem eine Datenrecherche veröffentlicht, die zeigt, dass auch auf Facebook-Anhänger unterschiedlicher politischer Parteien durchaus Verbindungen zu einander haben und der Effekt von Filterblasen eher eingeschränkt ist.
    Menschen sehen also durchaus die gleichen Untersuchungen, Statistiken und Fakten. Sie kommen aber dennoch oft zu überraschend unterschiedlichen Eindrücken über die Welt. Normalerweise würde man davon ausgehen, dass ein Mensch, konfrontiert mit einer Information, die seinem Weltbild widerspricht, sein Weltbild anpasst. Doch dem ist nicht so. Im Gegenteil sogar: Konfrontation mit widersprechenden Informationen kann Menschen in ihrer Haltung bestärken.
    Starke vorgefasste Meinung
    Ein klassisches Experiment dazu haben vor 30 Jahren der Psychologe Charles Lord und seine Kollegen durchgeführt. Zwei Gruppen von Menschen - überzeugten Befürwortern und überzeugten Gegnern der Todesstrafe - wurden zwei Dossiers vorgelegt. Das eine enthielt Studien und Statistiken, die die Effektivität der Todesstrafe belegten, das andere enthielt gegenteilige Studien und Statistiken. Wie zu erwarten war, fühlten sich die Gruppen, die das zu ihrer Ursprungsmeinung passende Dossier bekamen, in ihrer Meinung noch gefestigter. Jene, die das widersprechende Dossier hatten, sollten ihre Meinung eigentlich revidieren - doch auch sie fühlten sich in ihrer ursprünglichen Meinung noch gefestigter! Sie fanden stattdessen Schwächen an den vorliegenden Statistiken oder angebliche Befangenheit der Autoren. Die bestätigenden Berichte hingegen wurden handwerklich hochwertig eingeschätzt.
    So können zwei Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern auf dieselbe Kriminalitätsstatistik gucken und werden sie jeweils für "endlich mal fundierte Aufklärung" oder "linksgrünversiffte Propaganda" halten. Die scheinbare Identifikation angeblicher Propaganda oder methodischer Fehler stärkt das Individuum sogar noch mehr in seiner vorgefassten Meinung.
    Letztlich liegt es bem Leser persönlich
    Der Effekt heißt Bestätigungsfehler und ist einer der wichtigsten kognitiven Fehler, die wir bei Entscheidungen machen. Er geschieht nicht immer mit Absicht. Sogar wenn wir uns bemühen, möglichst objektiv zu sein, wollen Menschen ihr Weltbild möglichst bestätigt wissen. Deshalb suchen sie auch tendenziell eher Quellen auf, von denen sie vermuten, dass sie ihnen Recht geben.
    Wie können Massenmedien Fakten so berichten, dass sie Zugang zu allen Weltbildern finden und tatsächlich der Meinungsbildung dienlich sein können? Man könnte zum Beispiel zuerst eine Studie vorstellen, während sie erhoben wird und dann - zeitversetzt - ihre Ergebnisse. So müssen Menschen sich schon vorher eine Meinung fassen, ob sie die Studie für methodisch gut oder vertrauenswürdig halten. Letztlich liegt es aber doch bei den Lesern persönlich. Einen Hinweis dazu gibt ein Folgeexperiment von Charles Lord: Gibt man Menschen dieselben Dossiers mit der Anweisung, bei jedem Schritt zu bewerten, ob sie ein gegenteiliges Ergebnis genauso akzeptiert hätten, passen sie ihr Weltbild eher Fakten an als andersrum. Vielleicht müssen wir uns also immer fragen: Hätte ich diese Statistik auch angenommen, wenn sie genau das Gegenteil ausgesagt hätte?
    Das ist die etwas längere Version als die der Kolumne in ihrer Audio-Version.
    Marina Weisband, 1987 in der Ukraine geboren und seit 1994 als "Kontingentflüchtling" in Deutschland, war von 2011 bis 2012 politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Vor allem aber ist die Autorin und Diplompsychologin seit langem eine kluge Beobachterin der Medienwelt und sieht das Internet als Möglichkeit ganz neuer politischer Partizipation. Seit 2014 leitet sie bei politik-digital.de das aula-Projekt zur Demokratisierung von Schulen.