Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die wenigen Überlebenden im Konzentrationslager Auschwitz. Auf jungen Juden laste die große Verantwortung, die Erinnerung daran zu tragen und wach zu halten, sagte Marina Weisband im Deutschlandfunk. "Das ist unsere Aufgabe." Ihr ganzes Leben sei von der Geschichte der Shoah getränkt, sie habe die Traumata ihrer Großeltern vererbt bekommen und werde sie möglicherweise auch an ihre Tochter vererben. Das schmerze sie sehr. Doch das Judentum müsse auch unabhängig vom Gedenken an die Shoah wahrgenommen werden.
Marina Weisband ist Jüdin und wurde 1987 in der Ukraine geboren. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Seit 2018 ist die Diplom-Psychologin Mitglied der Grünen, wo sie sich in den Themenbereichen Digitalisierung und Bildung engagiert.
"Außerhalb des Gedenkens finden wir nicht statt", kritisierte Weisband. "Ich würde gerne mehr aus meinem Alltag teilen." Sie wolle über jüdischen Humor, jüdische Küche oder die digitale Vernetzung weltweit zerstreuter Familien sprechen. Für Jüdinnen und Juden sei es aber schwer, sich im Alltag selbst mehr in den Vordergrund zu bringen. Sie habe mal die Termine und den Ort eines jüdischen Stammtischs in der Zeitung inserieren wollen, laut Polizei sei das aber zu gefährlich gewesen. Und diese Gefahr spüre sie auch: "Natürlich habe ich Angst in Deutschland", sagte Weisband. Das sei aber nicht auf Deutschland begrenzt, die anderen europäischen Länder könnten ihr auch nicht mehr Sicherheit bieten.
"Wir stehen an einer großen Veränderung der Gedenkkultur"
Im Rahmen von Holocaust-Gedenken sei es richtig, nicht über andere Themen jüdischer Kultur zu sprechen, sondern die Erinnerung in den Vordergrund zu stellen. Weil Zeitzeugen bald nicht mehr von der Shoah erzählten könnten, müsse man neue Wege des Gedenkens finden. Das Gedenken dürfe nicht zum bloßen Ritual werden. "Wir stehen an einer großen Veränderung der Gedenkkultur", sagte Weisband. Die neuen Medien könnten bei dieser Umwandlung sehr hilfreich werden.
Um gegen Antisemitismus vorzugehen, kommt es laut Weisband vor allem auf Austausch an. Bildung helfe hingegen nur bedingt. Denn Antisemitismus entstehe aus Erzählungen, die Menschen als wahr betrachten wollten. Fakten kämen dagegen kaum an. "Der Kern des Antisemitismus ist, dass Juden das Menschsein abgesprochen wird. Uns menschlich kennen zu lernen und zu begreifen, dass wir echte Menschen sind – und wir sind nicht schwarz-weiß, wir sind nicht alle reich, wir sind nicht irgendwo obskur in den Wolken, sondern wir leben hier –, könnte helfen, diesen Bezug wieder herzustellen."
Ein solcher Austausch helfe insbesondere bei muslimischen Jugendlichen, deren antisemitische Abneigung oft auf politischer Ebene gepflanzt worden sei. Dieser Antisemitismus sei mit Begegnung relativ einfach zu bekämpfen, meint Weisband.