Antike funktioniert immer, dachte sich der britische Komponist Mark-Anthony Turnage, als er vor rund 30 Jahren seine Ödipus-Oper "Greek" schrieb. Uraufführung war bei der Münchener Musiktheaterbiennale, die Hans Werner Henze ins Leben rief. Henze wollte für sein Festival erzählende Stücke, anstelle von abstrakten formalen Experimenten, dabei durfte es durchaus auch mal eingängig tönen. Turnage erwies sich als Idealbesetzung, er schuf einen energischen, oft schrillen, aber immer bunten und gut hörbaren Soundtrack mit tollen Soli für Klavier und Harfe und mächtigem Schlagzeugpart.
2017 klingt das im Postpalast, den die Bayerische Staatsoper heuer für ihre Werkstattproduktionen nutzt, immer noch prächtig und nervenaufreibend - was freilich nicht nur an der guten Akustik, sondern zuallererst an Oksana Lyniv und einem munteren Musikerensemble liegt. Lyniv wird kommende Saison Chefin in Graz, als langjährige Assistentin Kirill Petrenkos hat sie von ihm gelernt, wie sich genaues Strukturieren und Emphase zur idealen Mischung verbinden.
Das Publikum guckt Lyniv und dem Orchester den ganzen Abend zu und sieht auch eine Subdirigentin und die Souffleuse und Bühnenarbeiter - im Postpalast gibt es nämlich keine 'Schutzräume' zum Verstecken. Somit erlebt man tatsächlich eine Art Opernwerkstatt und bekommt mit, wie die Aufführung gemacht wird.
Regisseur Wolfgang Nägele lässt die eigenwillige Variante des Ödipus-Mythos in einer tristen Gegenwart spielen, alle tragen biedere Kostüme. Der junge Eddy wehrt sich irgendwann gegen die Spießerhölle und robbt in langer Unterhose über die Gleise. Welche Gleise? Die ganze Spielfläche ist durchzogen von Bahngleisen, es gibt sogar eine Weiche. Immer wieder kommt knirschend, stöhnend, keuchend eine Lore heran gefahren, mal transportiert sie Menschen, mal Müllsäcke. Die Lore macht ungeheuren Krach, eigentlich ist sie ein zusätzliches Instrument, das Turnages testosteronreichen Tonsatz prima erweitert.
Wolfgang Nägele erzählt klar und ohne Schnickschnack von Eddys Vatermord, seiner ungewollten Affäre mit der Mama und dem krassen Aufdecken dieser Wahrheit. Die mythologische Sphinx ist hier ein doppeltes weibliches Wesen im Fatsuit, die beiden erdrücken buchstäblich alles, was ihnen in die Quere kommt.
Okka von der Damerau und Miranda Keys performen großartig und singen hinreißend, Tim Kuypers brilliert als schicksalsverwirrter Muttersöhnchenliebhaber. Die radikale Schlusspointe besteht in der Auflösung des Inzestverbots. Wo Liebe oder Eros hinstürzen, da ist das eben so, lautet die Botschaft. Also 'Ehe für alle' in einem äußerst weit gefassten Rahmen.
Vor diesem musikalisch eher milde gestalteten Finale gibt es noch allerhand auf die Ohren, sogar die Orchestermusiker stampfen manchmal im Takt oder skandieren Parolen. Bei "Greek" dürfte es sich um eine der heißesten Premieren der Saison handeln, künstlerisch, aber auch, weil die Temperaturen im Postpalast an die Grenze des Erträglichen kamen. Da mutierten kurzerhand Programmhefte zu Fächern und man fragte sich öfters, wie das vom Schicksal derart gepeinigte Personal auf der Bühne unter solch tropischen Bedingungen die Sache übersteht. Es klappte überraschenderweise alles und niemand zusammen und der finale Jubel war äußerst erfrischend.