Aus der Perspektive nach 1948, nach der Staatsgründung Israels, ist der Befund eindeutig: Das Diaspora-Judentum ist heute allein in christlich geprägten Zivilisationen zu Hause, und das nicht zufällig: In den katholischen oder protestantischen Kulturen Nord- und Südamerikas, Australiens, Europas – hier hat sich das Judentum bis heute gehalten. Unter dem Schutz säkularer Verfassungen, im Geiste von Menschenrechten und Aufklärung, leben Christen und Juden relativ friedlich zusammen. In islamischen Ländern dagegen existieren nur noch versprengte Reste jüdischer Gemeinschaften: Im Irak, in Syrien, in Marokko können und wollen Juden heute nicht mehr leben. Die islamischen Mehrheitsgesellschaften sehen in den Übriggebliebenen Boten des Erzfeindes, Repräsentanten Israels. So die Bestandsaufnahme heute. Ganz ähnlich klang das auch schon beim jüdischen Philosophen Moses Maimonides. -- Maimonides lebte im 12. Jahrhundert im islamischen Ägypten. In einem Brief an die verfolgten Juden im Jemen schrieb er über die jüdische Existenz unter Muslimen, die er als Ismaeliten bezeichnete:
" Meine Brüder! Vergesst nicht, dass Gott uns wegen unserer schweren Vergehen der Verstrickung mit diesem Volk – ich meine die Ismaeliten – ausgesetzt hat, die uns heftig schikanieren und uns ihre verhängnisvollen und diskriminierenden Gesetze aufzwingen. (...) Niemals hat es ein Volk gegeben, das Israel so großen Schaden zugefügt hat wie die Ismaeliten, die uns bis zum äußersten gedemütigt, erniedrigt und uns mit ihrem extremen Hass verfolgt haben.“
Aber halt! Wer hier allzu schnell Linien zieht vom Mittelalter ins Jetzt, von der jüdischen Existenz unter mittelalterlichen Kalifen in das zeitgenössische arabisch-israelische Dilemma, der sollte Mark Cohens vorzügliches Überblickswerk lesen. Cohen unternimmt einen mutigen Vergleich. Auf gut 200 Seiten vergleicht er das jüdische Leben im Mittelalter auf der einen Seite, im lateinischen Westen, mit der anderen, im islamischen Orient. Dabei bemüht sich Mark Cohen, zwei Mythen der jüdischen Geschichtsschreibung aus der Welt zu schaffen: Zum einen den Mythos, die islamischen Gesellschaften des Mittelalters seien ein interreligiöses Utopia gewesen. Zum zweiten die „neue‚ ‚wehleidige‘ Deutung der jüdisch-arabischen Geschichte“, wonach ein friedliches Zusammenleben nie möglich gewesen sein soll. Der Historiker aus dem amerikanischen Princeton sucht die Grautöne der Wirklichkeit zwischen den Mythen. Keineswegs, findet Cohen, hat der mittelalterliche Islam dem Judentum stets einen friedlichen Zufluchtsort gewährt. Im islamischen Spanien, schrieben jüdische Chronisten nach der gewaltsamen Vertreibung durch die Reconquista 1492, habe das Volk Israel Wohlwollen, Toleranz und kulturelle Integration genossen. Falsch, sagt Cohen. Auch islamische Gesellschaften demütigten und diskriminierten die Juden. Zwei Seiten später aber wehrt sich Cohen ebenso gegen die zionistisch bestimmte Geschichtsdeutung, als hätten Juden unter Arabern vor allem Verfolgung und Tod zu erleiden gehabt. Cohens Forschen nach der geschichtlichen Wirklichkeit zwischen den Mythen führt über Vergleiche. Zum Beispiel über den Vergleich, den der Jude Jacob Ben-Elija im 13. Jahrhundert anstellte. Ben-Elija sah die Zwickmühle, in der sich die Juden im Okzident befanden. Sie wurden von den Christen in das weniger anständige Gewerbe des Geldverleihs gedrängt – und dann von ihnen dafür gehasst und ausgebeutet. Im islamischen Osten konnten Juden auch als Ackerbauern oder Gärtner arbeiten, waren beruflich nicht auf den Handel und auf das Zinsnehmen angewiesen. Jacob Ben-Elija kannte beide Welten. Er floh aus seiner Heimat Frankreich in den muslimischen Osten – und schrieb:
" Unter den Orientalen verdient jeder seinen Lebensunterhalt mit seinem jeweiligen Beruf. Selbst wenn die arabischen Herrscher böse und sündhaft sind, besitzen sie doch Verstand und Einsicht. Sie verlangen jedes Jahr eine vorgeschriebene Steuer, von den Älteren gemäß ihrem Alter und von den Jüngeren gemäß ihrer Jugend. In unseren Landen verhält sich dies nicht so. Unsere Könige und Prinzen denken nur daran, wie sie uns angreifen und uns überwältigen können, um uns unser Gold und Silber fortzunehmen.“
Im Vergleich des Juden Ben Elija – wie in den meisten Vergleichen, die Mark Cohen selbst anstellt, wird immer wieder eine These dekliniert: Den Juden im islamischen Osten ging es schlecht – denen im christlichen Westen aber noch viel schlechter. Zum Beispiel rechtlich. Im Westen geriet das von den Römern übernommene Prinzip der Toleranz im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr in Vergessenheit. Im Zuge des Vierten Laterankonzils im Jahre 1215 erließen die Päpste scharfe Gesetze zur Diskriminierung der Juden: Diese mussten sich durch ihre Kleidung unterscheiden. Sie mussten eine „Überprüfung“ des Talmud über sich ergehen lassen. Das heißt: Er wurde öffentlich verbrannt – wegen der darin enthaltenen Irrlehren gegen Nichtjuden. Das Volk Israel, der Stachel im Fleisch der homogen christlichen Gesellschaft, wurde ausgegrenzt, zwangsbekehrt und vertrieben. Mark Cohen resümiert:
" Dabei wird sichtbar, wie sich in den christlich beherrschten Ländern die im frühen Mittelalter noch günstigen Beziehungen seit den Kreuzzügen und vor allem während des dreizehnten Jahrhunderts soweit verschlechtern, dass man nur noch von einer „Verfolgungsgesellschaft“ sprechen kann.“
Anders in den islamischen Gesellschaften: Dort galten Juden nicht als Jesus-Mörder, Brunnenvergifter und Ritualmörder. Sie wurden im religiösen Pluralismus der islamischen Gesellschaften – natürlich unter der Vorherrschaft des Islam – geduldet und konnten ihre Religion weitgehend ungehindert leben. Die Muslime erniedrigten ihre jüdischen Nachbarn auf ihre Weise – sicherlich aber weniger aggressiv als die Christen es taten. Juden galten als „dimmis“, als Ungläubige – wie Christen oder Zoroastrer auch. Die israelitischen „dimmis“ aber waren ein geduldeter Teil des islamischen Rechtssystems: weniger wert als Muslime, aber doch Teil der Gesellschaft. Sie sollten weder Pferdesattel besteigen noch Waffen tragen, mussten eine Kopfsteuer entrichten und ihre Häuser niedriger bauen als die Muslime. Im Alltag spielten die strengen Vorschriften aber oft keine Rolle. Juden bekleideten wichtige Ämter in der Verwaltung, waren bekannt als herausragende Ärzte, handelten auf den Marktplätzen praktisch gleichberechtigt mit den Muslimen.
Ein erhellender Vergleich, den Mark Cohen da anstellt. Erhellend, weil Islam und Toleranz in den Köpfen der meisten Zeitgenossen heute so gar nicht zusammenpassen. Das bessere Toleranz-Zeugnis stellt Cohen eindeutig dem Islam aus – während zumindest das spätmittelalterliche Christentum in seiner Studie geradezu als barbarisch erscheint. Cohen hat den Mut zum großen Bogen, er besitzt die Courage, mal eben tausend Jahre jüdisch-mittelalterlicher Geschichte im Orient und im Okzident nebeneinander zu stellen. Das geht auf Kosten der Präzision, fördert aber die Erkenntnis. Der überheblichen westlichen Welt mag dieser Blick in die eigene Geschichte der Intoleranz den Weg der Demut weisen.
Sebastian Engelbrecht besprach: Mark R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter. Erschienen ist das Buch im Verlag C. H. Beck München. 224 Seiten. 24,90 Euro.
" Meine Brüder! Vergesst nicht, dass Gott uns wegen unserer schweren Vergehen der Verstrickung mit diesem Volk – ich meine die Ismaeliten – ausgesetzt hat, die uns heftig schikanieren und uns ihre verhängnisvollen und diskriminierenden Gesetze aufzwingen. (...) Niemals hat es ein Volk gegeben, das Israel so großen Schaden zugefügt hat wie die Ismaeliten, die uns bis zum äußersten gedemütigt, erniedrigt und uns mit ihrem extremen Hass verfolgt haben.“
Aber halt! Wer hier allzu schnell Linien zieht vom Mittelalter ins Jetzt, von der jüdischen Existenz unter mittelalterlichen Kalifen in das zeitgenössische arabisch-israelische Dilemma, der sollte Mark Cohens vorzügliches Überblickswerk lesen. Cohen unternimmt einen mutigen Vergleich. Auf gut 200 Seiten vergleicht er das jüdische Leben im Mittelalter auf der einen Seite, im lateinischen Westen, mit der anderen, im islamischen Orient. Dabei bemüht sich Mark Cohen, zwei Mythen der jüdischen Geschichtsschreibung aus der Welt zu schaffen: Zum einen den Mythos, die islamischen Gesellschaften des Mittelalters seien ein interreligiöses Utopia gewesen. Zum zweiten die „neue‚ ‚wehleidige‘ Deutung der jüdisch-arabischen Geschichte“, wonach ein friedliches Zusammenleben nie möglich gewesen sein soll. Der Historiker aus dem amerikanischen Princeton sucht die Grautöne der Wirklichkeit zwischen den Mythen. Keineswegs, findet Cohen, hat der mittelalterliche Islam dem Judentum stets einen friedlichen Zufluchtsort gewährt. Im islamischen Spanien, schrieben jüdische Chronisten nach der gewaltsamen Vertreibung durch die Reconquista 1492, habe das Volk Israel Wohlwollen, Toleranz und kulturelle Integration genossen. Falsch, sagt Cohen. Auch islamische Gesellschaften demütigten und diskriminierten die Juden. Zwei Seiten später aber wehrt sich Cohen ebenso gegen die zionistisch bestimmte Geschichtsdeutung, als hätten Juden unter Arabern vor allem Verfolgung und Tod zu erleiden gehabt. Cohens Forschen nach der geschichtlichen Wirklichkeit zwischen den Mythen führt über Vergleiche. Zum Beispiel über den Vergleich, den der Jude Jacob Ben-Elija im 13. Jahrhundert anstellte. Ben-Elija sah die Zwickmühle, in der sich die Juden im Okzident befanden. Sie wurden von den Christen in das weniger anständige Gewerbe des Geldverleihs gedrängt – und dann von ihnen dafür gehasst und ausgebeutet. Im islamischen Osten konnten Juden auch als Ackerbauern oder Gärtner arbeiten, waren beruflich nicht auf den Handel und auf das Zinsnehmen angewiesen. Jacob Ben-Elija kannte beide Welten. Er floh aus seiner Heimat Frankreich in den muslimischen Osten – und schrieb:
" Unter den Orientalen verdient jeder seinen Lebensunterhalt mit seinem jeweiligen Beruf. Selbst wenn die arabischen Herrscher böse und sündhaft sind, besitzen sie doch Verstand und Einsicht. Sie verlangen jedes Jahr eine vorgeschriebene Steuer, von den Älteren gemäß ihrem Alter und von den Jüngeren gemäß ihrer Jugend. In unseren Landen verhält sich dies nicht so. Unsere Könige und Prinzen denken nur daran, wie sie uns angreifen und uns überwältigen können, um uns unser Gold und Silber fortzunehmen.“
Im Vergleich des Juden Ben Elija – wie in den meisten Vergleichen, die Mark Cohen selbst anstellt, wird immer wieder eine These dekliniert: Den Juden im islamischen Osten ging es schlecht – denen im christlichen Westen aber noch viel schlechter. Zum Beispiel rechtlich. Im Westen geriet das von den Römern übernommene Prinzip der Toleranz im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr in Vergessenheit. Im Zuge des Vierten Laterankonzils im Jahre 1215 erließen die Päpste scharfe Gesetze zur Diskriminierung der Juden: Diese mussten sich durch ihre Kleidung unterscheiden. Sie mussten eine „Überprüfung“ des Talmud über sich ergehen lassen. Das heißt: Er wurde öffentlich verbrannt – wegen der darin enthaltenen Irrlehren gegen Nichtjuden. Das Volk Israel, der Stachel im Fleisch der homogen christlichen Gesellschaft, wurde ausgegrenzt, zwangsbekehrt und vertrieben. Mark Cohen resümiert:
" Dabei wird sichtbar, wie sich in den christlich beherrschten Ländern die im frühen Mittelalter noch günstigen Beziehungen seit den Kreuzzügen und vor allem während des dreizehnten Jahrhunderts soweit verschlechtern, dass man nur noch von einer „Verfolgungsgesellschaft“ sprechen kann.“
Anders in den islamischen Gesellschaften: Dort galten Juden nicht als Jesus-Mörder, Brunnenvergifter und Ritualmörder. Sie wurden im religiösen Pluralismus der islamischen Gesellschaften – natürlich unter der Vorherrschaft des Islam – geduldet und konnten ihre Religion weitgehend ungehindert leben. Die Muslime erniedrigten ihre jüdischen Nachbarn auf ihre Weise – sicherlich aber weniger aggressiv als die Christen es taten. Juden galten als „dimmis“, als Ungläubige – wie Christen oder Zoroastrer auch. Die israelitischen „dimmis“ aber waren ein geduldeter Teil des islamischen Rechtssystems: weniger wert als Muslime, aber doch Teil der Gesellschaft. Sie sollten weder Pferdesattel besteigen noch Waffen tragen, mussten eine Kopfsteuer entrichten und ihre Häuser niedriger bauen als die Muslime. Im Alltag spielten die strengen Vorschriften aber oft keine Rolle. Juden bekleideten wichtige Ämter in der Verwaltung, waren bekannt als herausragende Ärzte, handelten auf den Marktplätzen praktisch gleichberechtigt mit den Muslimen.
Ein erhellender Vergleich, den Mark Cohen da anstellt. Erhellend, weil Islam und Toleranz in den Köpfen der meisten Zeitgenossen heute so gar nicht zusammenpassen. Das bessere Toleranz-Zeugnis stellt Cohen eindeutig dem Islam aus – während zumindest das spätmittelalterliche Christentum in seiner Studie geradezu als barbarisch erscheint. Cohen hat den Mut zum großen Bogen, er besitzt die Courage, mal eben tausend Jahre jüdisch-mittelalterlicher Geschichte im Orient und im Okzident nebeneinander zu stellen. Das geht auf Kosten der Präzision, fördert aber die Erkenntnis. Der überheblichen westlichen Welt mag dieser Blick in die eigene Geschichte der Intoleranz den Weg der Demut weisen.
Sebastian Engelbrecht besprach: Mark R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter. Erschienen ist das Buch im Verlag C. H. Beck München. 224 Seiten. 24,90 Euro.