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Markus Meckel, letzter Außenminister der DDR
"Demokratie zu lernen, ist eine Aufgabe für Generationen"

Seine politische Arbeit begann mit einem Höhepunkt: Markus Meckel war der letzte Außenminister der DDR und verhandelte 1990 den einheitsvorbereitenden Zwei-plus-Vier-Vertrag. Der Gründer der ostdeutschen SPD hat sich auch danach der politischen Arbeit verschrieben - als Bundestagsabgeordneter und mit seinem Einsatz für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Markus Meckel im Gespräch mit Sabine Adler |
Markus Meckel nimmt an der Eröffnung der Ausstellungen «Umbruch Ost» und «Einheitsbilder» der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur in der Mall of Berlin teil.
"Es ist außergewöhnlich, dass ich meine politische Arbeit mit dem politischen Höhepunkt begonnen habe", sagt Markus Meckel über seine Zeit als Außenminister der DDR. (dpa/picture alliance/ Wolfgang Kumm)
Ein kritischer Geist war Markus Meckel, Jahrgang 1952, von früher Jugend an. Als Pfarrer und Oppositioneller mischte er in der DDR-Friedensbewegung aktiv mit und gründete im Oktober 1989 die SDP, die Sozialdemokratische Partei der DDR, um die Sozialdemokratie im Osten Deutschland aus der Umklammerung der SED zu befreien. Die SDP trat bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl in der DDR an. Meckel nahm für seine Partei an den Gesprächen des Runden Tisches teil, an dem die Bürgerrechtler*innen die Vertreter des SED-Staates mit ihren Forderungen für die Machtübergabe und die Entwicklung zu einer freien demokratischen Gesellschaft konfrontierten.
Außerdem leitete er als letzter Außenminister der DDR 1990 die ostdeutsche Verhandlungsdelegation bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen, in denen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges die Bedingungen der Wiedervereinigung Deutschlands ausgehandelt wurden. Bis heute ärgern ihn die wiederholten Alleingänge von Bundeskanzler Helmut Kohl, der der DDR-Delegation wiederholt Informationen vorenthielt.
In seiner fast 20-jährigen Abgeordnetentätigkeit im Bundestag für die SPD machte sich der profilierte Außenpolitiker zudem für die Gründung der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur stark. In der von ihm ins Leben gerufenen Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur ist er bis heute aktiv.

Sabine Adler: Markus Meckel ist in das Schloss Schönhausen in den Norden von Berlin gekommen, die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, die heute die Schlossherrin von Schönhausen ist, hat uns freundlicherweise den historischen Saal hier zur Verfügung gestellt. Wir sitzen ganz Corona-gerecht mit großem Abstand am runden Tisch, der hier nur ein Viertelecktisch ist heute, und an dem Sie, Markus Meckel, hier mit Ihren Freundinnen und Freunden von der DDR-Opposition zum ersten Mal mit dem SED-Regime den Machtübergang und die Gestaltung einer künftig freien Gesellschaft verhandelt haben. Außerdem war dieser Saal Schauplatz der zweiten Verhandlungsrunde der Zwei-plus-Vier-Gespräche, in denen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem Fall der Mauer mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges geregelt wurde. Beide Gesprächsrunden fanden zum Teil gleichzeitig statt, das Jahr 1990 war sozusagen das Sterbejahr der DDR, es war ein ereignisreiches, ein arbeitsreiches, ein intensives Jahr. Spüren Sie etwas von der Last der Verantwortung von vor 30 Jahren, wenn Sie hier in diesem Raum sitzen?
Markus Meckel: Nicht unbedingt, wenn es um diesen Raum geht. Ich bin in den letzten 30 Jahren öfter mal hier gewesen. Der runde Tisch war ja ein Instrument, das wir gewissermaßen aus Polen oder auch Ungarn ausgeliehen haben. Es war eine Situation, in der die Frage war, wie schafft man den Übergang gewaltfrei? Wir waren natürlich nicht bereit, dass die nicht gewählte Volkskammer etwa ein Parteiengesetz macht oder dann eben auch ein Wahlgesetz. Das musste ausgehandelt werden. Deshalb war der runde Tisch zentral. Und viele machen sich heute gar nicht deutlich, wenn man so die öffentlichen Gedenkreden hört, dass ja überhaupt noch die Frage einer freien Wahl nach dem Fall der Mauer Thema war. Viele denken, mit der Mauer war alles klar, dann hat Kohl übernommen und dann kam die deutsche Einheit. Nein!


Adler: Jetzt machen wir erst mal einen ganz großen Schritt zurück. Markus Meckel, Sie haben, ich möchte fast sagen, qua Geburt, jedenfalls ganz, ganz früh schon auf der Seite der DDR-Opposition gestanden. Sie sind Jahrgang '52, Ihr Vater war Pfarrer, der sich ganz bewusst entschieden hat, in die DDR zu gehen – und zwar zunächst in eine ganz kleine Gemeinde. Sie sind behütet aufgewachsen, würden Sie das so sagen?

Meckel: Ja, absolut. Mein Vater ging in die DDR, um bei diesen unter Druck stehenden christlichen Gemeinden zu sein. Und er war nicht alleine, es gab ja eine ganze Reihe Pastoren, die aus dem Westen in den Osten kamen. Mein Vater war gerade aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, hatte ein Angebot, nach Hannover zu gehen als Jugendpfarrer, er stammte aus Wuppertal – und entschied sich, nach Heimersdorf bei Frankfurt/Oder zu gehen. Für mich war diese Kindheit erst auf dem Dorf, aber daran erinnere ich mich kaum, aufgewachsen, in der ersten Klasse war ich dann in Berlin in der Nähe des Alexanderplatzes in dem dortigen roten Backsteinhaus, wo heute die evangelische Kirche ihr Zentrum hat. Und dort bin ich in einer ganzen Gruppe von christlichen Familien, die dort lebten, wir fühlten uns heimisch, wir fühlten uns in diesem Zusammenhalt auch stark, und es war anders als sonst in der DDR eben nicht diese Provinzialität, sondern hier kamen viele Menschen nicht nur aus Ost und West in Deutschland, sondern aus Südafrika, aus China, aus anderen Ländern. Insofern war das ein sehr offenes, internationales Haus, das hat mich sehr geprägt.
Zwei-plus-vier-Gespräche  (L-R) Außenminister James Baker (USA), Außenminister Eduard Schewardnadse (UdSSR), Außenminister Hans-Dietrich Genscher (Deutschland/FDP), Roland Dumas (Frankreich), Außenminister Markus Meckel (DDR) und Außenminister Douglas Hurt (Großbritannien)
Zwei-plus-vier-Gespräche der Außenminister James Baker (USA), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Hans-Dietrich Genscher (Deutschland/FDP), Roland Dumas (Frankreich), Markus Meckel (DDR) und Douglas Hurt (Großbritannien) (imago / Sepp Spiegl)

Schulwechsel aus politischen Gründen

Adler: Sie haben, das haben Sie immer wieder auch unter anderem in Ihrer Biografie geschrieben, dieses sehr weltoffene Klima in Ihrem Elternhaus, sagen Sie auch gerade, immer sehr genossen. Das war ja selbst in der DDR nicht so einfach, es war sogar in Richtung Osteuropa gar nicht so einfach. Wie hat das Ihre Familie, wie haben Sie es in diesem Umfeld geschafft schon sozusagen erste außenpolitische Erfahrungen in dieser Zeit zu sammeln?

Meckel: Na ja, ich würde nicht von außenpolitischen Erfahrungen sprechen, aber doch von Erfahrungen jenseits der Grenze. In diesem Missionshaus war mein Vater zuständig für Südafrika. Und da waren Missionare aus Südafrika, mein Lieblingsmissionar, Christian Fobbe, der mir auch so einen Speer schickte und Vögel, aus Hörnern gemacht, der wurde wegen seiner Gegnerschaft zur Apartheid, die er zum Ausdruck brachte, dann aus dem Land verwiesen.
Ein anderes Thema: Polen. Ich erinnere mich an einen Bischof der Evangelischen Kirche in Polen, der natürlich relativ klein war, der uns regelmäßig besuchte, und diese Gemeinde litt ja darunter, dass sie oft als deutsche Kirche angesehen wurde, dass sie also dann auch belastet wurde mit der deutschen Geschichte. Und wenn der zu uns kam, der liebte das Schweineschmalz meiner Mutter, sie gab ihm etwas, deshalb hieß er bei uns Kindern der Schmalzbischof. Das heißt, da waren dann die Themen Mitte der 60er-Jahre die Anerkennung der polnischen Grenze, die später für mich eine große Rolle spielen sollte, die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche, das wurde bei uns am Abendbrottisch verhandelt. Und ich war da ständig dabei und hörte ganz gespannt zu.
Proteste vor der erste freien Volkskammerwahl in der DDR
Freie DDR-Volkskammerwahl vor 30 Jahren - Durchbruch zur deutschen Einheit
Am 18. März 1990 wählten die DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger die erste und letzte frei gewählte Volkskammer. Diese Wahl ebnete den Weg zur deutschen Einheit. Dazu mussten sich die DDR-Parteien jedoch erneuern – und hinnehmen, dass bundesdeutsche Vertreter den Wahlkampf mitprägten.
Adler: Markus Meckel, Sie sind ja schon in der Schule ein kritischer Kopf gewesen, der sich, das kann ich mir auch vorstellen, wenn Sie an dem Abendbrottisch Ihrer Eltern gesessen haben oder mit den Gästen zusammen, nicht unbedingt immer leise verhalten hat, sondern, im Gegenteil, sich Gehört verschafft hat. Das haben Sie auch an der Schule gemacht. Deshalb sind Sie von der EOS geflogen und haben dann aber das Abitur am Kirchlichen Oberseminar in Potsdam Hermannswerder gemacht. Was ist da passiert? Wieso sind Sie von der Erweiterten Oberschule suspendiert worden?

Meckel: Schon da hinzukommen, war nicht einfach, eigentlich war ich erst abgelehnt, aber dann gelang es. Ich wollte dahin auf diese spezielle Schule, das graue Kloster, weil ich Latein und Griechisch lernen wollte, da gab es nur diese eine Schule in Berlin. Und das lief sich auch erst mal ganz gut an, aber dann gab es die Diskussion über die DDR-Verfassung '68, wo ich dann auch die Frage der Rechte von Kirchen, Gewissensfreiheit, also die bürgerlichen Rechte, zum Thema machte in den Diskussionen. Und das passte natürlich nicht, dann war '68 natürlich Prag ein zentrales Thema, wo ich dann immer sehr offen meine Meinung sagte. Und mir wurde schon relativ früh dann vorgeworfen, dass ich mich nicht genug gesellschaftlich engagiere. Das war durchaus der Fall, weil ich für die Schule irgendwie wenig Zeit hatte, weil ich so viel anderes machte. Ich hatte meinen eigenen Jugendkreis, den ich leitete, sodass ich auch an der Klassengemeinschaft, die natürlich normalerweise auf FDJ-Grundlage passierte, nahm ich nicht teil, denn ich war nicht Mitglied der FDJ. Insofern fiel ich schon strukturell etwas heraus. Und wenn man dann noch immer andere Positionen vertritt, kann ich meinen Klassenlehrer hervorheben, der das hervorragend gemanagt hat, der mich regelrecht gefordert hat, meine Argumentationsweise zu verbessern. Aber im Endeffekt führte das dazu, dass man mich nach der zehnten Klasse, obwohl ich eine eins hatte als Durchschnitt, dass man mich nicht delegierte, denn man musste delegiert werden zum Abitur. Das heißt, faktisch bin ich geflogen, rechtlich bin ich nur nicht delegiert worden.

"Der Widerstand im Nationalsozialismus war ein großes Vorbild"

Adler: Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung hat ja von Anfang an extrem mit dem System gehadert, erst recht als die Mauer '61 gebaut wurde. War das für Sie eigentlich eine Frage, die Sie sich gestellt haben ab und an, soll ich gehen oder bleiben, oder gab es das eigentlich nicht für Sie?

Meckel: Das Thema war ständig präsent, aber nie für mich. Das heißt, ich erlebte ständig unter Freunden, unter Bekannten, dass sie sich diese Frage stellten. Für mich selber stellte sich das nicht. Ich erkläre es mir nachträglich einfach auch durch die Entscheidung der Eltern, in den Osten zu kommen, um hier bei den Menschen zu sein und zu sagen: Hier ist unser Ort. Ich wollte nicht zu viele Kompromisse machen, mich nicht anpassen, aber ich wollte, dass sich etwas ändert. Und ich wollte hier meinen Mann stehen. Da war dann durchaus der Widerstand im Nationalsozialismus so ein großes Vorbild. Für etwas einstehen, das für das Land, für Deutschland, wichtig ist, selbst dann, wenn das keinen Erfolg hat. Also etwa die Geschwister Scholl, die wussten doch, dass sie mit ihren Flugblättern jetzt nicht Hitler wegbekommen. Aber die sagten, man kann nicht zusehen, man muss etwas sagen, man muss die Stimme erheben. Und nicht nur als eine Frage für sich persönlich, sondern auch für dieses Land dieses zu tun, unabhängig davon, ob man damit letztlich Erfolg hat. Das war ein ganz starkes Bewegungsmoment, und das ging für mich dann auch mit meinem Glauben zusammen.

Adler: Sie haben den Wehrdienst bei der NVA verweigert, auch das war ja ein sehr lautes Signal, das macht fast niemand. Sie waren um so stärker engagiert in der DDR-Friedensbewegung. Und Sie haben, jetzt komme ich auf die SPD, dann schließlich im vorletzten Jahr der DDR mit Ihrem Freund zusammen die SPD Ost gegründet, die damals SDP, wenn ich mich recht erinnere, hieß. Warum musste das gerade eine sozialdemokratische Partei sein?


Meckel: In den 80er-Jahren war ich Pastor in Mecklenburg. Schon im Studium hatten wir so eine kleine Oppositionsgruppe. Aber in den 80er-Jahren haben wir das dann sehr offen gemacht, dass Menschen sich sammelten, die kritisch waren, und wir versuchten, sie in Diskurs zu bringen. Wir haben Seminare gemacht mit Leuten aus der ganzen DDR, wo aus anderen Ländern, auch aus dem Westen Leute kamen. Das heißt, was wir so heute politische Bildung nennen würden vielleicht, aber Menschen zu stärken und ihnen zu helfen, sprachfähig zu werden, eigene Positionen zu entwickeln, aber auch dazu zu stehen und dadurch … Das schafft man nur, wenn man nicht alleine ist, das heißt, solidarisch zu sein und zusammenzustehen.
Der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei SDP (seit 13.1.1990 SPD) Markus Meckel nimmt im Januar 1990 am Zentralen Runden Tisch im Konferenzgebäude des Ministerrates der DDR am Schloss Niederschönhausen (heute Schönhausen) in Berlin-Pankow teil.
Markus Meckel im Jahr 1990 (picture alliance/ZB/Peer Grimm)

"Ab '87 war die Hoffnung, jetzt kann man was ändern"

Bis, ich würde sagen, '87 habe ich selbst nie geglaubt, in einem demokratischen Staat leben zu können, weil die Erfahrungen waren, wenn irgendwo etwas begann – wie '68, wie vorher '56 oder '53 –, dann kommen die Panzer aus Moskau. Als dann aber mit Gorbatschow sich wirklich etwas änderte, wo man merkte, da ist jemand, der auf die Herausforderungen, die globalen Herausforderungen reagiert, der wirklich mit dem Westen Kontakt kommen will, um gemeinsam Zukunft zu schaffen, der im Lande selber Perestroika, das heißt einen Umbau gestaltete, erweckte das große Hoffnung. Und so etwa ab '87 war die Hoffnung, jetzt kann man was ändern. Und das hat dann in der DDR ja viele betroffen, aber die SED hat das abgewehrt. Und für uns war der Punkt, wir wollten, wir sagten, wir müssen doch selbst etwas tun. Wir können jetzt nicht auf einen kleinen Gorbatschow in der DDR warten, denn der war nicht zu sehen. Und da war dann die Rede von Gorbatschow vor der UNO im Dezember '88 wichtig, wo er sehr klar erklärte, er zieht eine halbe Million Soldaten zurück, er erklärte die Freiheit, das soziale System zu wählen für die Satellitenstaaten, das waren Botschaften für uns, wo wir sagten, jetzt müssen wir selber irgendetwas tun.
Am Anfang '89 haben Martin Gutzeit und ich dann entschieden, zwei evangelische Pastoren, die sozialdemokratische Partei in der DDR zu gründen. Sie fragen, warum eine sozialdemokratische Partei? Das hatte mit der Geschichte der Sozialdemokratie zu tun. Im 19. Jahrhundert waren die Sozialdemokraten als älteste demokratische Partei in Deutschland diejenigen, die aus Objekten von Repression und Unterdrückung ein politisches Subjekt gemacht haben. Das heißt, die Arbeiter, die aufstanden, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Da sagten wir, das brauchen wir in der DDR, genau das, aus Untertanen Bürger machen. Das Zweite, das war zentral, dass diese Partei eben auch in den Diktaturen, im Nationalsozialismus, klar im Widerstand war. Dann, dass diese Partei, die sich ja auch international vernetzt, etwa mit Willy Brandt, mit Olaf Palme, gemeinsame Sicherheit, mit Frau Brundtland, der norwegischen Sozialdemokratin, die Frage nachhaltiger Entwicklung zum Thema machte, da sagte ich: In diesen Kontext gehören wir! Dann, das war natürlich besonders spezifisch für uns in der DDR, wer eine sozialdemokratische Partei gründet, geht an die Wurzeln der Identität der SED, indem man gewissermaßen aus dieser Zwangsvereinigung die eine Hand herauszieht und damit deutlich macht, ihr seid eine kommunistische, diktatorische Partei, wir wollen eine pluralistische Demokratie westlicher Muster, also wer diese Partei gründet, hat eine klare Perspektive auf wirkliche parlamentarische Demokratie, eine repräsentative Demokratie, und damit auf einen Systemwechsel.

SPD: Hoffnung auf stärkere Persönlickeiten

Adler: Und den Pastor Meckel gefragt, war das die Entscheidung, die Parteigründung, weg vom Pfarramt, hin in die Politik schon?

Meckel: Nein, es ging gar nicht um mich, es ging hier um eine Strategie. Wie kann in der Zukunft, wie kann Veränderung organisiert werden? Und wir haben dann ja auch gesagt, wenn wir eine sozialdemokratische Partei gründen wollen, das dauerte dann ja auch noch ein paar Monate, weil wie macht man das, wenn man erst mal zu zweit ist unter Bedingungen von damals. Aber wir haben dann eben relativ bald dann auch andere aufgefordert, wenn sie jetzt mit uns nichts machen können auf demokratischer Grundlage, etwas anderes zu tun.

Adler: Und jetzt einen ganz kurzen Sprung in die heutige Zeit, wenn wir über die SPD reden, dann muss ich Sie natürlich fragen, wie geht es Ihnen mit Ihrer Partei heute?

Meckel: Na ja, das ist ein Trauerspiel, zum einen, dass die Partei lange nicht begriffen hat, dass das, was wir damals gemacht haben, die sozialdemokratische Partei in der DDR zu gründen, für die West-SPD auch regelrecht ein Gnadengeschenk war. Ich behaupte, wenn wir das nicht gemacht hätten, hätten Teile wie Egon Bahr und andere sich auf die SED gestürzt und wären im Westen nicht mehr mehrheitsfähig gewesen für eine Generation. Das ist damals aber gelungen – mit allen Defiziten. Und diese Defizite haben natürlich auch was zu tun dann mit der Schwäche demokratischer Parteien im Osten überhaupt. Ich hoffe sehr, dass es wieder gelingt, in eine Perspektive zu kommen, die die sozialdemokratischen Inhalte, die auch heute so ungeheuer wichtig sind, die Fragen von Partizipation, des Zugangs zu Bildung, die nicht von der Herkunft abhängt, das sind heute alles wieder zentrale Fragen, von internationalen Verantwortungen noch gar nicht zu reden. Ich hoffe, dass hier wir wieder uns stärker auch mit Persönlichkeiten, die überzeugen, in die Öffentlichkeit begeben können.
Das evangelische Pfarrhaus in Schwante nördlich von Berlin
Sozialdemokraten in Ostdeutschland - Hoffen auf Auferstehung
Es waren überwiegend Theologen und engagierte Christen, die vor 30 Jahren in einem Pfarrhaus die Sozialdemokratische Partei der DDR gegründet haben. Evangelische Pfarrer spielten auch nach dem Fall der Mauer eine wichtige Rolle. Und heute? Sie hoffen, dass die SPD wieder aufersteht.

"Die DDR hat sich in einer friedlichen Revolution demokratisiert"

Adler: Die SPD hat dann 1990 die ersten freien Volkskammerwahlen verloren. Die Allianz für Deutschland ist als Siegerin daraus hervorgegangen. Sie wurden dann aber in der Koalitionsregierung Außenminister unter dem CDU-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Genau 329 Tage hat der Übergang vom Fall der Mauer bis zur Wiedervereinigung gedauert, das ging also rasend schnell, kein ganzes Jahr. Und das ging auch deshalb so schnell, weil bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen hart verhandelt worden ist. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen galten als das Gesprächsformat, von dem die ganze Wiedervereinigung abhängt. Warum waren die so wichtig?

Meckel: Die waren ungeheuer wichtig, aber es gehört natürlich in den größeren Zusammenhang, dass überhaupt die Einheit verhandelt werden musste. Das ist den meisten Menschen heute ja gar nicht deutlich. Es ist so, dass nach dem Fall der Mauer ja klar war, wie soll es dahin kommen? Und da war unsere feste Überzeugung, das geht nur über Verhandlungen. Und um verhandeln zu können, braucht man das, wofür wir die ganze Zeit gekämpft haben, eine demokratische DDR. Insofern muss auch heute mal deutlich machen, die DDR ist nicht untergegangen, sondern sie hat sich in einer friedlichen Revolution demokratisiert. Über den runden Tisch hatten wir freie Wahlen, und dann gab es ein frei gewähltes Parlament und eine entsprechende Regierung, die das Mandat hatte nach dem Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung, die deutsche Einheit zu organisieren, das heißt zu verhandeln. Das heißt bilateral, aber das heißt natürlich auch international, und das war dann meine Aufgabe. Aber mir ist bis heute wichtig, auch für die Erinnerung, das deutlich zu machen, wir Ostdeutschen waren nicht Objekt eines Prozesses, sondern wir waren Subjekt dieses Verhandlungsprozesses, die Einheit ist das Ergebnis von Verhandlungen. Deutschland war geteilt ab '45, dann mit zwei Staaten ab 1949, zwei Staaten, die nicht souverän waren. Und wir brauchten die Akzeptanz der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges für die deutsche Einheit, denn diese vier gemeinsam hatten die Rechte für Deutschland als Ganzes. Das heißt, ohne sie ging Einheit nicht. Was ich nicht wusste, als ich Außenminister wurde, ist, dass schon vor dem April, als ich dann Minister wurde, die westlichen Alliierten sich sehr klar abgestimmt hatten, was sie wollten und was sie nicht wollten. Da war klar von Anfang an, das war die Position der Amerikaner, wir sind für die deutsche Einheit – mit der klaren Bedingung der Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, denn die Nato war natürlich die Institution, die den amerikanischen Einfluss auf Europa sicherte.

Widerstand bei Margaret Thatcher

Adler: Kurz noch mal zur Konstruktion dieser Gespräche. Es gab sechs Delegationen, die ost- und die westdeutsche Delegation, die amerikanische, russische, britische, französische. Und man wusste auch, das hatte sich nun ja wirklich herumgesprochen, dass sowohl Franzosen als auch Briten große Widerstände hätten. Bei den Franzosen war das so, dass die Vorbehalte relativ schnell einkassiert werden konnten. Wir war das eigentlich möglich, dass Francois Mitterrand seinen Widerstand doch relativ zügig und weit früher als die Briten aufgegeben hat?

Meckel: Mitterrand war ein Realist, der am Anfang hoffte, dass Gorbatschow länger Widerstand leistet. Ihm war klar, dass er alleine, schon gar nicht bei der Bedeutung, die Deutschland und Frankreich für die europäische Entwicklung haben, dass er nicht derjenige sein kann, der den Widerstand organisiert. Aber er hat im Grunde Gorbatschow gestärkt, am Anfang jedenfalls, da nicht einfach mitzumachen. Als dann aber relativ schnell am Anfang des Jahres 1990 schon im Februar klar war, dass es zwar um die Bedingungen der deutschen Einheit geht, aber nicht mehr um die Frage des ob, Gorbatschow hatte das akzeptiert, da war für Mitterrand auch klar, jetzt geht es für uns auch um die Bedingungen. Und dann hat er sich sozusagen mit in dieses Boot begeben, während bei Frau Thatcher die grundsätzlichen Vorbehalte einfach lange anhielten, bis dahin, dass dann sogar in der letzten Nacht vor der Unterschrift sie noch über den Außenminister versuchte, deutlich zu machen, wir wollen sogar in diesen Jahren, die übergangsweise …, wo es nicht erlaubt sein sollte, Nato-Manöver in Ostdeutschland machen. Das war aber auch nur ein Vorwand, letztlich konnte sie nicht anders, aber bis zum Ende war sie im Grunde nicht dafür.

Adler: Den Franzosen ist versprochen worden der Euro, es ist klar geregelt worden die Oder-Neiße-Grenze, die den Franzosen wichtig war – und die Denuklearisierung von Deutschland. Das waren so die drei Punkte. Sie sagen, da gab es noch mehr?

Meckel: Nein, der Punkt für Frankreich war zuallererst wichtig, die Einbindung Deutschlands, das heißt, eine Sonderrolle Deutschlands zu verhindern. Und da war nun wirklich die europäische Integration zentral. Die Frage der gemeinsamen Währung war zentral für ihn, vorher hatte Kohl noch gezögert, eine solche Kommission einzusetzen, obwohl es schon auf dem Tisch lag, es ist also keine Neuerfindung erst im Zusammenhang der deutschen Einheit. Aber dass man dann diese beiden Prozesse so verbunden hat in Dublin beim Europäischen Rat, das war der Erfolg Mitterrands. Und ich glaube, das war wirklich auch ein wichtiger, die deutsche und die europäische Einigung zusammenzubringen. Und hier spielte Jaques Delors, der damalige Kommissionspräsident, eine ganz wichtige Rolle, der auch uns gegenüber sehr engagiert war, denn Helmut Kohl wollte diesen Umbruch auf der europäischen Ebene. Daran denkt ja heute gar keiner, dass die deutsche Einigung auch etwas mit Integration in die Europäische Union zu tun hatte. Und hier war Jaques Delors offen dafür, mit uns direkt zu sprechen. Kohl wollte das nicht. Kohl hat alles verhindert, wo wir mit eigener Stimme in Brüssel redeten, er hat das vom Tisch gewischt, weil er sagte, das mache ich!

Eine Frage der europäischen Zukunft

Adler: Mit eigener Stimme heißt mit DDR-Stimme zu diesem Zeitpunkt, also die Integration des demokratischen Ostens in die EU. Ich würde gerne auf eine Äußerung zurückkommen, wo Sie gesagt haben, das war für Gorbatschow ein wichtiges Kriterium, Nato-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands – ja oder nein. Man wusste, dass das den großen Widerstand geben würde, dass das kaum für die Sowjetunion zu schlucken war. Und da machte Hans Dietrich Genscher, der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, einen Kompromissvorschlag, der da so lautete, dass Nato-Verteidigungsgebiet sollte nicht nach außen ausgedehnt werden. Hat das Genscher mit Ihnen, als Außenminister West mit dem Außenminister Ost, besprochen? Haben Sie das diskutiert, haben Sie das vereinbart miteinander?

Meckel: Das war eine Äußerung aus der Zeit, bevor die DDR gewählt hatte, so am Anfang des Jahres bei Genscher. Er wollte die Einheit und er wollte sie auf jeden Fall – und nicht von vorneherein Bedingungen setzen wie Bush. Er war offener und damit war er uns auch wiederum sehr viel näher. Mein Zugang bei Zwei-Plus-Vier war ja im Grunde, jetzt eben nicht nur gezielt die wichtigen Fragen zu klären, damit Gorbatschow zustimmen kann, das war natürlich zentral, aber der Horizont war weiter. Es war die Frage, wie kann europäische Zukunft aussehen, wie kann sie auch sicherheitspolitisch aussehen? Mir war am Anfang klar, zumindest vorübergehend wird Deutschland in der Nato sein, aber die Nato war ja auch ein Produkt des Kalten Krieges, wir dachten, wir brauchen eine gesamteuropäische Struktur. Die Sowjetunion damals und heute Russland, wie kann man sie in Europa einbinden, auch sicherheitspolitisch? Mit solchen Fragen beschäftigten wir uns, das waren die sicherheitspolitischen Themen, wo Genscher am Anfang sehr viel offener war als die Amerikaner oder Helmut Kohl. Auch in einer anderen Frage war ich mit Genscher völlig auf der gleichen Linie, wo er auch völlig von Kohl ausgebremst worden ist, das war die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Da kam dann die Unterstützung der Franzosen. Für uns war die Position von Anfang an klar, übrigens schon unmittelbar nach dem sogenannten Zehn-Punkte-Plan von Kohl im November, wo er auch nicht die polnische Westgrenze angesprochen hatte, für uns war klar, die Anerkennung dieser Grenze ist so existentiell für die Zukunft Europas, dass wir dem Wunsch der Polen zustimmen wollten, schon vor der Vereinigung einen Vertragstext zu machen, damit sie sicher sein können – und nicht aufgrund von Zusagen, sondern vertraglich –, dass diese Grenze ewig gilt, denn für uns verspielt durch den Zweiten Weltkrieg. Helmut Kohl und auch Herr Schäuble übrigens sprachen von der Anerkennung der Grenze als Preis der deutschen Einheit. Und dies hielten wir politisch für gefährlich, weil klar sein musste, die Deutschen bezahlen nicht einen Preis und versuchen nachher dann wieder, wenn sie die Einheit haben, zu gucken, was zu machen ist, sondern dies musste – und das war ein Fakt in der Vertrauensbildung – endgültig und so früh wie möglich geschehen.

Westdeutsche Verhandlungspartner: Keine Beachtung von Helmut Kohl

Adler: Die Teilnehmer der französischen und britischen Delegation haben geäußert, dass keine andere Delegation so schoflig behandelt worden ist wie die ostdeutsche von der westdeutschen, dass sie angeblich sehr zu spüren bekommen haben in der ostdeutschen Delegation, dass sie die Besiegten waren, dass sie die Verlierer der Geschichte waren, dass sie diejenigen waren, die keine Macht mehr haben, weil eben die DDR abzuwickeln war. Und es gibt den Ausspruch von Lothar de Maizière dazu später, der sagte, ich bin von Mitterrand und Gorbatschow freundlicher behandelt worden als von den westdeutschen Verhandlungspartnern. Ging es Ihnen genauso, haben Sie das genauso empfunden?

Meckel: Das muss man einfach bestätigen. Es war durchaus so, dass Helmut Kohl sowieso uns nicht wirklich beachtete, er hat mir einmal die Hand gegeben, wo er es nicht vermeiden konnte, als ich am 17. Juni bei einer Gedenkveranstaltung zum 17. Juni 1953 neben Willy Brandt stand und er kam, da konnte er nicht anders. Ansonsten hat er über mich hinweggesehen. Mit Genscher war das anders, wir hatten uns getroffen, er hatte mich privat eingeladen, er hatte gesagt, zwischen uns darf kein Blatt Papier passen. Das war die Hoffnung, das war auch meine Hoffnung, aber das hieß natürlich nicht, dass ich in meiner eigenen Position abgebe. Und das war dann so ein Punkt, als ich dann eigene inhaltliche Positionen entwickelte, dass das dann schon komplizierter war. Da muss ich im Rückblick aber natürlich auch sagen, dass manches von dem, was ich einbrachte, auch für die Verhandlungen nicht kompatibel war. Also etwa meine sehr grundsätzliche Gegnerschaft zu Atomwaffen, ich wollte, dass wir wirklich auch im Einigungsprozess, dann im Einigungsvertrag, aber eben auch bei Zwei-plus-Vier nicht nur sagen, dass wir keine Atomwaffen haben, sondern dass wir sie auch nicht stationär wollen. Das war natürlich in diesem Kontext irreal und hätte eher behindert als wirklich gefördert. Also, es gab auch solche Punkte, wo ich nachträglich sage, da habe ich mich selber auch in die Isolation gebracht. Das heißt aber nicht, dass nicht zentrale Fragen natürlich mit uns hätten verhandelt werden müssen.

"Wir wurden sozusagen rausgeworfen aus dem Verhandlungsmandat"

Adler: Im Juni, am 22. Juni 1990, fand hier an diesem Tisch diese zweite Verhandlungsrunde der Zwei-plus-Vier-Gespräche statt. Hans Misselwitz war der Leiter der ostdeutschen Delegation und er ist in dieses Treffen reingegangen, ohne irgendetwas zu wissen, was sich in der Zwischenzeit abgespielt hatte, dass nämlich bei dem Besuch Gorbatschows im Mai in Washington Gorbatschow seine Position aufgegeben hat, dass er also nicht mehr gegen eine gesamtdeutsche Nato-Mitgliedschaft war. Er hat von Helmut Kohl in Moskau einen Milliardenkredit zugesichert gekriegt, von den Amerikanern ein Handelsabkommen in Aussicht gestellt bekommen – und dann später gab es diese Zusage, auch den sowjetischen Truppenabzug aus Deutschland mitzufinanzieren. Würden Sie sagen, dass Sie hier an diesem Verhandlungstisch über den Tisch gezogen worden sind als Ostdeutsche in diesen Zwei-plus-Vier-Gesprächen?

Meckel: Das ist komplexer. Hans Misselwitz hat die Arbeitsebene geleitet, die Delegation habe ich natürlich geleitet, wie überall die Minister dann natürlich die Delegation leiten. Diese Zustimmung von Gorbatschow Ende Mai, die ist übrigens bis heute in der Öffentlichkeit gar nicht wirklich wahrgenommen worden, weil die deutsche Version lautet ja, Helmut Kohl hat es gemacht im Kaukasus. Und die liest man normalerweise – bis auf jetzt die Bücher, wo das dann klar ist, Condoleezza Rice hat das in ihrem Buch dann schon in den 90er-Jahren geschrieben –, aber die deutsche Wahrnehmung ist immer noch eine andere, weil Helmut Kohl sie geprägt hat in den 90er-Jahren, dass er den Durchbruch gemacht hat. Faktisch ist natürlich, das ist auch wirklich so, dass auch Gorbatschow und auch die Amerikaner sehr vorsichtig damit umgingen, denn die Akzeptanz der Nato-Mitgliedschaft konnte auch Gorbatschow noch nicht so öffentlich machen, weil er erst mal wiedergewählt werden musste beim Parteitag Ende Juni. Das hat wiederum dann mit der Sitzung am 22. Juni zu tun, wo dann Gorbatschow uns hier vortrug ein Papier, das völlig zurückfiel hinter die Gespräche, wie wir sie vorher schon hatten. Da gab es ja diese Zusage, die Zusage war im Grunde die Formulierung von Gorbatschow in Washington, dass er gesagt hatte, wir stimmen den KSZE-Prinzipien zu, nach denen jeder Staat seine eigene sicherheitspolitische Allianz bestimmen kann, so ist die Formulierung. Und dann kam der Juni hier in Hohenschönhausen, und da kam Gorbatschow von einem Papier, da sprach er von einer Doppelmitgliedschaft in der Nato und im Warschauer Pakt für eine Übergangszeit. Das heißt, das war ein Rückfall, der natürlich mit dem Parteitag zu tun hatte. Wo wir nicht informiert wurden, betraf etwas ganz anderes. Und zwar hatte bei einem Gespräch wenige Tage vorher, als Schewardnadse und Genscher sich in Münster trafen, da gab ein enger Mitarbeiter, Tarasenko, dem Büroleiter, Elbe, von Genscher ein Papier und sagte, in die Richtung könnte es gehen. Das unterschied sich meilenweit von dem, was Schewardnadse vortrug. Darüber hat uns Genscher nicht informiert, dass er im Grunde sagte, was hier gemacht wird, ist ein Schauspiel für die innere Situation in der Sowjetunion, aber hier haben wir schon das eigentliche Papier. Davon haben wir nichts erfahren.

Adler: Und interessanterweise hat – mal ganz neutral ausgedrückt – von den Unstimmigkeiten in der ost- und westdeutschen Verhandlungsdelegation beziehungsweise in den Delegationen eigentlich kaum jemand etwas erfahren, die Öffentlichkeit, würde ich sagen, weiß bis heute kaum etwas davon, dass Westdeutsche nicht mit den Ostdeutschen geredet haben, dass im Grunde genommen die Westdeutschen ihre Verhandlungsstrategie da gefahren haben, ohne Sie großartig einzubinden. Warum haben Sie damals nicht den Zwergenaufstand geprobt und sind damit an die Öffentlichkeit gegangen?

Meckel: Bevor ich diese Frage beantworte, muss ich ein weiteres Beispiel nennen, das wichtig ist. Und das hatte eben dann auch mit dem Kaukasus zu tun, wo verabredet worden ist, dass man einen Vertrag macht für den Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR. Da steht in den Papieren, dass die Bundesregierung mit der Sowjetunion unter Einbeziehung der DDR verhandelt. Uns wurde dann damals auch schon ein Papier zugespielt aus dem Kanzleramt, in dem der Kanzleramtschef erklärt hat, die DDR-Regierung wird nicht beteiligt. Das heißt, in einer Situation, in der es die DDR-Regierung gab, wurde verhandelt über Sachen, die die DDR betreffen, die Truppen in der DDR betreffen, die Bedingungen, die die Westleute gar nicht kannten, über diesen Abzug. Und da wurden wir sozusagen rausgeworfen aus dem Verhandlungsmandat. Das empfanden wir damals als empörend und empfinde ich bis heute als empörend. Und übrigens hatte dieser Vertrag verheerende Fehler, der dann da zustande kam, weil dieser Abzug zum Beispiel hieß, für die Immobilien wird bezahlt, dann wird abgezogen das, was es an ökologischen Schäden gibt. Das war die Aufforderung faktisch an die Truppen, alle ökologischen Schäden zu verstecken, weshalb wir bei Waldbränden heute noch oft nicht die Feuerwehr hingehen kann. Das hat damit zu tun, dass da Munition liegt. Wir haben natürlich die Dinge öffentlich benannt, aber wodurch war die Öffentlichkeit bestimmt? Durch Journalisten, die natürlich die Bundesregierung unterstützt und alles wäre als Mäkelei an der deutschen Einheit entstanden. Das konnte auch für eine sozialdemokratische Perspektive nicht unser Ziel sein. Das kam ja dann noch mal im August, dass uns Oskar Lafontaine überzeugen wollte, dem Einigungsvertrag nicht zuzustimmen. Wir sagten, er ist schlecht, aber er ist besser als kein Vertrag.

"Von Sommer 1989 bis Herbst 1990 war schon der politische Höhepunkt"

Adler: Am 12. September wurde der Vertrag dann schließlich mit der dramatischen Nacht, die Sie vorhin schon angesprochen haben, unterschrieben. Auf den historischen Fotos sind alle Außenminister zu sehen – aber nicht der Außenminister der DDR, Markus Meckel. An Ihrer Stelle stand Lothar de Maizière.

Meckel: Die DDR-Regierung ist zerfallen. Erst sind die Liberalen ausgetreten, dann ist die SPD ausgetreten und dann hat Lothar de Maizière dieses Amt sozusagen übernommen für diese Unterschrift.

Adler: Sie waren SPD-Parteichef für eine gewisse Zeit, Sie waren Außenminister, das Ganze 1990, also vor 30 Jahren. Würden Sie sagen, das war der Höhepunkt Ihrer Karriere?

Meckel: Das kann und das muss ich sagen, das war natürlich das, was mir unser Gespräch zeigt, was für die Öffentlichkeit im Mittelpunkt steht. Und dieses Jahr war natürlich … Nicht nur die Ministerzeit, sondern die Parteigründung war mindestens genauso wichtig. Das heißt, dieser ganze Zeitraum von Sommer 1989 bis Herbst 1990 war schon der politische Höhepunkt. Und es ist insofern außergewöhnlich, dass ich meine politische Arbeit mit dem Höhepunkt begonnen habe. Aber ich möchte daran erinnern, dass ich danach auch noch 30 Jahre, wie ich finde, eine wichtige Politik gemacht habe.

Adler: Nämlich fast 20 Jahre Bundestagsabgeordneter, Mitglied des Bundestages. Sie haben sich in dieser Eigenschaft als Abgeordneter immer sehr, sehr stark eingesetzt für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in unterschiedlichen Institutionen, unter anderem in der Enquete-Kommission, aber auch in der Stiftung Aufarbeitung, in der Sie ja immer noch sind. Ich möchte auf einen Aspekt bei der Aufarbeitung zu sprechen kommen, der immer noch mit so einem Tabu belegt ist, nämlich wenn es darum geht, die Nazi-Diktatur mit der SED-Diktatur zu vergleichen. Sie finden, dass dieser Vergleich zulässig ist, was vor allem auf der linken Seite doch ziemlich abgelehnt wird. Warum finden Sie die Diktaturen vergleichbar und warum sollte man diesen Vergleich ziehen?

Meckel: Die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine geteilte, wo jeder, übrigens auch die Bundesrepublik, nicht verstanden werden kann ohne den ständigen Bezug aufeinander. Dazu gehört, dass wir damals, wie ich finde, dann den Fehler gemacht haben, diese Stiftung und auch die Kommission mit dem Titel "Aufarbeitung der SED-Diktatur" zu nennen, weil es letztlich nicht auf die SED alleine bezogen werden kann, sondern es gehört eigentlich der Begriff der kommunistischen Diktatur hierhin. Denn die Sowjetunion war nun mal das Zentrum. Das heißt nicht, dass man alle Verantwortung abschieben kann dorthin.
Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags in Moskau, v.l.n.r.: James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Eduard Schewardnadze (UdSSR), Roland Dumas (Frankreich), Lothar de Maizière (DDR), Hans-Dietrich Genscher (BRD)
Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags in Moskau, v.l.n.r.: James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Eduard Schewardnadze (UdSSR), Roland Dumas (Frankreich), Lothar de Maizière (DDR), Hans-Dietrich Genscher (BRD) (imago images / Rainer Unkel)

"Das 20. Jahrhundert kann nicht verstanden werden ohne beide großen Diktaturen"

Adler: Und noch mal zu dem Vergleich, warum muss man Nazi-Diktatur und kommunistische Diktatur unbedingt vergleichen?

Meckel: Beides waren Diktaturen in Deutschland, aber natürlich völlig unterschiedlich. Die eine Diktatur ging von Deutschland aus und wir haben sie mit Krieg und Terror über ganz Europa gebracht. Die kommunistische Diktatur begann in der Sowjetunion schon vorher. Und Hitler hat von Stalin manches gelernt. Der Hitler-Stalin-Pakt ist in Deutschland kaum bekannt. Da haben die beiden großen Diktatoren zusammengearbeitet. Und das gehörte mit zu den Bedingungen des Kriegsanfangs. Und wenn man mit Polen oder den Balten spricht, dann ist das für die eine ganz zentrale Dimension, von beiden Seiten bedroht gewesen zu sein. Dem müssen wir uns in Deutschland heute auch noch viel stärker öffnen, insofern hat europäische Politik und europäische Aufarbeitung ganz eng was miteinander zu tun. Und das 20. Jahrhundert kann gar nicht verstanden werden ohne beide großen Diktaturen. Aber dann natürlich besonders in der Zeit nach '45, beides muss im Zusammenhang gesehen werden, weil es ja auch die gleichen Menschen betraf.

Adler: Die gleichen Menschen leben zum Teil, lebten zum Teil in der Sowjetunion, nämlich die Russlanddeutschen, die zu über einer Million nach Deutschland gekommen sind aus verschiedenen Gründen. Das sind zum Teil jüdische Staatsbürger, das sind zum Teil eben tatsächlich Russlanddeutsche, die erweisen sich seit einigen Jahren als durchaus nicht so Moskau-kritisch, wie man das vielleicht denken könnte, weil man in Deutschland lebt. Sie haben einen interessanten Ansatz formuliert, in der Stiftung Aufarbeitung sich auch durchaus mal um die Aufarbeitung der Geschichte dieser Russlanddeutschen zu kümmern, und nicht als Geschichte der Russlanddeutschen, sondern mit den Russlanddeutschen Aufarbeitung von Geschichte zu machen. Was versprechen Sie sich davon?

Meckel: Wir hatten in den 90er-Jahren eben im Blick, wenn es um kommunistische Aufarbeitung ging, die DDR-Bürger. Wir haben damals nicht genügend wahrgenommen, dass es eben diese eine, fast zwei Million Menschen gibt, die andere Kommunismus-Erfahrungen gemacht haben. Und deshalb müssen wir dies stärker in eine gemeinsame deutsche Aufarbeitung integrieren. Da Aufarbeitung nie für andere gemacht werden kann, sondern immer nur selbst, ist eine solche intensive Zusammenarbeit mit den Organisationen der Russlanddeutschen wichtig, weil auch dies ein Teil ist, eigene Identität heute in Deutschland zu stärken, die eben eine demokratische ist.

"Demokratie zu lernen, ist eine Aufgabe für Generationen"

Adler: Und noch mal in die andere Richtung gedacht, nämlich in die russlanddeutsche Richtung selber. Ich möchte nicht den Ausdruck unsichere Kantonisten gebrauchen, aber wir haben an dieser sogenannten Lisa-Demonstration gesehen vor dem Kanzleramt, als sich doch ein Teil von Russlanddeutschen hat instrumentalisieren lassen von, sage ich mal neutral, russischen Propagandainstitutionen. Wollen Sie darauf reagieren, wollen Sie sozusagen diese Russlanddeutschen ein bisschen demokratiefester machen?

Meckel: Ja, nicht nur sie, aber alle, die Kommunismus-Erfahrung haben, das erleben wir in Ostdeutschland im Süden mit Pegida oder mit den AfD-Wahlergebnissen, das erleben wir in anderen Ländern östlicher Nachbarn, wo plötzlich auch wieder Grundfragen der Demokratie, Unabhängigkeit der Justiz, infrage gestellt werden in Polen und Ungarn. Das heißt, Demokratie zu lernen, ist eine Aufgabe für Generationen, nicht nur für Westdeutsche, für Ostdeutsche, sondern eben auch für Russlanddeutsche oder für alle, woher auch immer sie kommen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.