Der Dekan der theologischen Fakultät an der Universität Jena, Manuel Vogel, findet in seinem Verständnis des Christentums nur einen Weg im Umgang mit Flüchtlingen, den des Engagements. Aber:
"Ich wurde jetzt erst diskret darauf hingewiesen, dass an meiner, unserer Fakultät eine liberale Auffassung zur Flüchtlingsthematik keineswegs der Common Sense ist. Als Dozent, der sich vehement dafür ausspricht, kriegt man das gar nicht mit, sondern kriegt das nur mit Schweigen quittiert und mit der fehlenden Auseinandersetzung. Ich wünschte, die Studierenden würden doch diese Auseinandersetzung viel mehr suchen!"
Um diese Auseinandersetzung zu befördern, hatte er Markus Nierth eingeladen, der gerade ein Buch über seine Erfahrungen als ehrenamtlicher Bürgermeister in Tröglitz, in der anhaltinischen Provinz, geschrieben hat. Ein politisches Buch. Und so sollte auch Nierths Vortrag vor Theologie-Studenten sein. Aber:
"Gestern Abend sprach der Herrgott zu mir, persönlich, natürlich in Gestalt meiner Frau. Und sie hat mir gesagt: Markus, was du da vorhast, das nützt nicht wirklich jemandem weiter. Erzähl doch lieber den Theologinnen und Theologen, die du vor allem vor dir hast, von dem, was du sonst nicht erzählst, was hinter den Dingen steckt, die groß und breit in den Medien ausgebreitet wurden, was dein Glauben mit dir gemacht hat, was deine Geschichte ist und was deine Wünsche sind, wie sich das auf unsere Geschichte auswirkt!"
Mit bekennenden Hitler-Fans nach Buchenwald
Nierth holte also weit aus, erzählte von seiner Kindheit und Jugend in den Siebzigern und Achtzigern als Sohn eines Pfarrers in der DDR und damit von seiner Jugend als Außenseiter, vom Umzug in den Westen als 17-Jähriger, von der Identitätskrise, weil seine Rebellion gegen die DDR im Westen niemanden interessierte. Trotz der oder gerade durch die damit verbundene Glaubenskrise studierte Nierth Theologie. Nach dem Studium in die Arbeitslosigkeit entlassen, ging er zurück in den Osten, nach Sachsen-Anhalt, nach Tröglitz.
"Und das war meine Berufung: Ich möchte den Menschen helfen, die es nicht so leicht hatten wie ich. Und ich möchte andere Menschen anstecken auf eine ganz praktische Art - vielleicht auch neu, ohne die Last, die manchmal auch die Tradition sein kann. Und so bin ich nach Tröglitz gezogen, habe dort das alte kulturelle Zentrum, den Gasthof, gekauft, mit der Vision im Willow-Creek-Stil moderne Gottesdienste zu halten, um Menschen zu gewinnen. Habe Glaubens-Grundkurse abgehalten, habe mich vor allem aber um die Jugend gekümmert, mit denen an Motorrädern gebastelt, bin mit denen nach Buchenwald gefahren, obwohl sie bekennende Hitler-Fans waren. Das war eine unglaublich spannende Sache, aber ich habe mich dabei auch sehr aufgerieben, habe manches erreicht, bin aber eigentlich gescheitert. Ich hatte mehrere Burnouts, meine erste Ehe ist kaputtgegangen, und alles aufgebaute, mein Beruf, der aufgebaute Hof, den ich selber saniert hatte und vieles Selbst-Geschaffene waren scheinbar verloren."
Erst Pfarrer, dann Trauerredner und schließlich Bürgermeister
Das Scheitern, der Bruch als Chance als Antrieb, als Ausgangspunkt zu Neuem: Nierth gab das Ehrenamt als Pfarrer auf und wurde freier Trauerredner. Er wurde 2009 in den Gemeinderat gewählt und sofort – wie er sagt – in das Amt des ehrenamtlichen Bürgermeisters gedrängt. Durchaus zu seiner Zufriedenheit und seinem Anspruch angemessen, eingreifen zu können in seine Umgebung und deren Menschen nah zu sein. Gerade im Osten, in Sachsen-Anhalt mit vielen Enttäuschungen und gebrochenen Nachwende-Biografien, mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Menschen, die sich abgehängt fühlten.
"So geschah eigentlich auch eine Aussöhnung mit meiner Urverletzung aus meiner Kindheit: Außenseiter zu sein. Ich war endlich angekommen in der Gemeinschaft. Ich gehörte nicht nur dazu, sondern ich konnte wesentlich den Ort mitbestimmen, die Atmosphäre – mehr, als dass mir das vorher als Pfarrer im Ehrenamt oder Gemeindegründer möglich war. Ich war an den Menschen dran, konnte für die Jugend Skaterbahnen aufbauen, Kinderspielplätze sanieren lassen, aber vor allem für die Kommunikation im Ort sorgen und die Menschen mit einem neuen Motto herauslocken: Du bist Tröglitz – mach mit!"
Bei den Flüchtlingen endete die Gastfreundschaft in Tröglitz
Auch seine neue Familie, aus dem Westen kommend, fühlte sich in Tröglitz aufgehoben. Sie erlebten Gastfreundschaft und offene Herzen. Bis im Jahr 2015 Asylbewerber in Tröglitz untergebracht werden sollten. 60 Asylbewerber in einem Ort mit 2.800 Einwohnern. Die Informationspolitik des Landkreises war schlecht, sagt Nierth bis heute, aber dennoch war es für ihn selbstverständlich, dass die Flüchtlinge unterkommen mussten.
"Und wir riefen unsere Nachbarn dazu auf, zu ihrer Barmherzigkeit und zu ihrer Gutmütigkeit zu stehen. Und so auch den Mut zu haben, den Fremden eine Chance zu geben und die Herzen zu öffnen."
Den Rechten zu viel Verständnis und Freiraum gegeben
Ohne Erfolg. Wöchentlich demonstrierten Rechtsextreme im Ort. Die Bewohner schauten weg oder machten mit.
"Mir stand natürlich als eher harmoniebedürftig Geprägtem und wahrscheinlich typischem evangelischen Pfarrer - man muss doch immer Verständnis haben, sich einfühlen, die Leute abholen, wo sie sind - stand das wahrscheinlich auch eher im Weg. Viel zu lange war ich freundlich und auch verständnisvoll und habe damit auch diesen offensichtlich Rechten zu viel Freiraum gegeben, anstatt Lüge und Verführung deutlich beim Namen zu nennen.
Nierth hatte Angst. Die Urangst wieder allein dazustehen, Außenseiter zu sein. Heute redet er offen darüber.
"Ich hatte gefühlt keine Kraft dafür. Denn mir war klar: Das wird mich viel kosten. Ich werde viel verlieren. Kneife ich, stecke ich den Kopf in den Sand wie die meisten anderen? Oder kann ich mit meinem Gott tatsächlich über Mauern springen, über die Mauern der Ängste in meinem Innersten? Und da fiel er mir ein der Satz: Wer sein Leben gewinnen will, der wird’s verlieren. Wer es aber um meinetwillen verliert. Sie wissen, wie es weitergeht."
"Auch viele Christen duckten sich weg"
Nierth ging in sich, holte sich Rat, tankte auf, auch bei seiner starken Frau.
"Egal, was kommt, gebrauche mich, Herr als Dein Werkzeug, mach mich mutig und stark, damit ich mich auch gegen eine Menge stellen kann! Meine Frau hatte schon früh die Idee, ein Friedensgebet einzurichten. Gott sei Dank kamen dann mit Unterstützung des Pfarrers einige Christen aus der Umgebung, aber auch Atheisten, die diesen Schutzraum gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit sichtlich genossen. Aber auch viele Christen duckten sich weg."
Die Familie wurde bedroht, bekam Hass-Mails und -Briefe, Fäkalien in Paketen, Morddrohungen. Sie standen damit in Tröglitz allein. Kaum einer bekannte sich zu ihnen. Auch keine Christen. Als die NPD ihre Marschroute vor dem Haus der Nierths enden lassen und dort eine Kundgebung abhalten wollte und der Landkreis dies nicht untersagte, war es denen dann doch zu viel: Nierth trat als ehrenamtlicher Bürgermeister zurück, weil er sich und vor allem seine Familie vom Staat in seinem Amt nicht ausreichend geschützt sah. Nicht nur die deutsche, sondern die auch Weltpresse berichtete nun über Tröglitz. Und Markus Nierth stand zu seinen Entscheidungen, was ihm den Schutz durch die Öffentlichkeit und auch Polizeischutz brachte. Aber auch noch mehr soziale Ächtung.
"Dass die Leute mich nicht mehr als Trauerredner buchten und dass die Tanzschule, die ich mit meiner Frau führe, auch 30 Prozent Kündigungen hatte. Das merkt man natürlich und das zieht sich bis heute hin. Und das erzeugt natürlich auch in einem noch so frommen Christen Existenzangst - jedenfalls in mir. Und ich gestehe: Ich habe bis heute Schwierigkeiten mit diesem: Seht doch die Lilien auf dem Feld, sie sorgen nicht! Ich muss das für mich immer noch ganz neu kennenlernen."
Nierth hat es letztlich nicht bereut, seine bürgerliche Existenz aufs Spiel gesetzt zu haben, um zu seinen, den christlichen Werten zu stehen.
"Wer, wenn nicht wir als Theologen oder Christen sind für einen unerschöpflichen Pool an Liebe für den Gott der Liebe und seine befreiende Botschaft zuständig? Im allgemeinen, rücksichtslos programmierten Ego-Kult, der zunehmend aggressiver wird, da gibt es einfach den Anderen, diesen Nächsten nicht mehr, sondern nur noch mich. Aber, ich denke, es ist an der Zeit, dass sich Kirche und Christen wieder lauter in gesellschaftspolitische Themen einmischen."