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Markus Orths: "Picknick im Dunkeln"
Wenn Stan Laurel auf Thomas von Aquin trifft

Stan Laurel trifft Thomas von Aquin in der Nachwelt. Der Eine fürchtet, tot zu sein, der Andere freut sich auf die Auferstehung. Markus Orths folgt mit seinem Roman „Picknick im Dunkeln“ der Tradition des sokratischen Dialogs. Er erlaubt letzte Fragen und findet heitere Antworten.

Von Tanya Lieske |
Das Cover zum Buch "Picknick im Dunkeln" vom Autor Markus Orth
Stan Laurel, der 1965 in Santa Monica verstorbene Komiker, erwacht wieder - allerdings nicht allein (Hanser Berlin)
Thomas von Aquin, der Theologe und Philosoph aus dem 12. Jahrhundert und Stan Laurel, der Komiker aus dem 20. Jahrhundert treffen einander in einem dunklen Labyrinth. Sie wissen nicht, wo sie sind und auch nicht, warum sie hier sind. Der Eine hat die übliche Melone auf dem Kopf und fürchtet nichts mehr, außer, dass er gestorben sein könnte. Der Andere trägt die Kukulle eines Dominikanermönchs. Für ihn ist die Aussicht auf das Jenseits ein erfreulicher Zustand.
"'Weil Gott die Güte ist, weil er nur die Güte sein kann. Er wird uns nicht fallen lassen am Ende der Tage, er wird uns retten und zu sich führen, in die Ewigkeit. Wahre, beständige Glückseligkeit kann daher nur liegen in Gott.' Stanley schwieg."
Erzählt ist dieser Roman zunächst aus der Sicht von Stan Laurel. Ihm, der nicht nur ein einzigartiger Komiker war, sondern auch der kreative Kopf hinter dem Filmduo Stan and Ollie, gilt in jüngerer Zeit einige Aufmerksamkeit. Der irische Autor John Connolly hat Stan Laurel im letzten Jahr einen biographischen Roman gewidmet, und es gibt mehr als eine Einzelbiographie, die es sich zum Ziel gesetzt hat, diese komplexe Künstlerpersönlichkeit zu ergründen. Introvertiert war der Mann, der mit bürgerlichem Namen Arthur Stanley Jefferson hieß, und er wollte doch zur Bühne. Er hatte eine schwierige Kindheit, führte fünf Ehen. Seine Nähe zu Charlie Chaplin, sein schier unglaubliches Gespür für Komik, seine Schreibwut und sein spätes Interesse an Philosophie, all diese Themen und Brüche bewegen sich im Maschinenraum von Markus Orths gründlich recherchiertem Roman.
Scholastik trifft Zukunft
Allerdings trägt Orths weder hier noch bei dem Gegenpart Thomas von Aquin allzu dick auf. Stan Laurels komplexe Persönlichkeit blitzt in Halbsätzen und in Andeutungen auf, genauso das mittelalterliche Weltbild des Thomas von Aquin. Der begreift schnell, dass er einem Menschen aus der Zukunft begegnet sein muss. Doch einen Scholastiker bringt so schnell nichts aus der Ruhe.
"'Ein Mann kann unmöglich durch die Zeit reisen. Ich kann unmöglich mehr als siebenhundert Jahre alt sein. Conclusio: Ich lebe nicht mehr.'
'Conclusio?'
'Schlussfolgerung.'
'Aber wenn Sie nicht mehr leben, was denn dann?'
'Dann', sagte Thomas, 'bin ich wohl tot.'
'Tot?'
'So hat es den Anschein.'"
Lieber Ski fahren als sterben
Von Stan Laurel ist überliefert, dass er dem Tod skeptisch gegenüberstand. 1965 auf seinem Sterbebett in Santa Monica soll er seiner Pflegerin anvertraut haben, dass er lieber Ski fahren würde. Eine Anekdote, die sich kein Biograph entgehen lässt, auch nicht Markus Orths.
"Und die Schwester sagt: Ja, sind Sie denn Skifahrer? Und ich sage: Nein, aber ich würde trotzdem lieber Ski fahren als das hier zu tun: zu sterben."
"Picknick im Dunkeln" zitiert die Praxis des sokratischen Dialogs genauso wie die Kunst des absurden Theaters. Es gibt etliche Bezüge auf Becketts Zweiakter "Warten auf Godot", der in vielen Inszenierungen wiederum die Melonenhüte von Stan und Ollie einsetzt. Ein Verweisgewebe, das sich auf der Seite des Thomas von Aquin wiederholt: Er gilt als derjenige, der die aristotelische Philosophie mit der Theologie des Mittelalters versöhnt hat. Als ein dickes Buch ins Dunkel fällt, denkt Thomas sofort, dass es sich nur um die verloren gegangene Komödientheorie des Aristoteles handeln kann. Später dann fällt Licht ins Dunkel: Das Buch ist leer.
Was kann ich hoffen?
Im Kern geht es um die Frage, ob das Leben jetzt oder später stattfindet, ob sich mit dem Jenseits etwas verbindet, worauf es sich zu warten lohnt. Dem Auferstehungsglauben des Thomas von Aquin setzt Stan Laurel eine iridsche Erlösung durch Gelächter entgegen.
"Ich hample hier herum auf Erden. Marionette der Sinnlosigkeit. Ich stehe auf, ich ziehe mich an, ich esse, ich schlafe ich arbeite, ich treffe Menschen, ich verstricke mich, ich atme, ich liebe, ich pisse, ich sterbe. Im Gegensatz zu Ihnen, Thomas, finde ich keinen höheren Sinn im Leben. Und deshalb lache ich."
Markus Orths gelingt es ihn diesem Roman, solche Thesen herauszuarbeiten, ohne dass die Leichtigkeit verloren ginge. Ein heiterer Optimismus führt Regie. Viel ist die Rede vom Film, besonders von der Kunst des Lachens. Zum Glück widersteht der Autor der Versuchung, allzu viele Stan and Ollie Slapsticks aufzurufen. Komik entsteht meistens durch Missverständnisse, die dem Zeitsprung geschuldet sind.
"'Wie lautet Ihr Name?', fragte Stanley.
'Thomas', sagte der andere. 'Eigentlich Tommaso.'
'Tommaso? Aus Italien? Daher Ihr Akzent? Zum Glück sprechen Sie ... na ja ... Englisch.'
'Ich habe vielfältige Briefpartner. Auch in England.'
'Und in Amerika?'
'Was ist Amerika?'
'Das sage ich auch immer', lächelt Stanley. 'Was ist Amerika schon gegenüber dem britischen Empire!'
Der andere schwieg."
Metaphysischem Dunkel folgt Erkenntnis
Gespielt wird auch, unter anderem die titelgebende Picknickszene, und diese bleibt im Dunkeln. Das Dunkel, welches die beiden Protagonisten umgibt, ist ein physisches und ein metaphysisches Dunkel, es bietet sich als materielle Begrenzung dar, aber eben auch als Raum, in dem die letzten Fragen nach einer Antwort verlangen. Aus dem Gespräch der so gegensätzlichen Protagonisten entsteht im Laufe des Romans nicht nur Komik, sondern auch Erkenntnis.
"Und jetzt geschah Eigenartiges. Thomas sprach über den Menschen im Angesicht des Todes, über das Wesen des Menschen, er sprach in kurzen, sanften Sätzen, doch klangen seine Worte in Stanleys Ohren fast wie Musik, auch oder gerade weil er nicht alles verstand. Geistseele. Dieses Wort, das Thomas an den Anfang stellte. Geistseele. Schwebte über allem anderen. Stanley hatte dieses Wort noch nie in seinem Leben gehört, doch wusste er gleich, was Thomas damit meinte."
Je länger die beiden in ihrem Tunnellabyrinth unterwegs sind, umso schärfer werden die Konturen des Thomas von Aquin. Er kommt zu sprechen auf den Teil seiner Lehre, der heute wieder von großem Interesse ist: Auf die Bedeutung der Sinne für das Leben und für die menschliche Erkenntnis, wozu ausdrücklich auch Sexualität und der Genuss gehören. Zugleich gesteht er, dass er selbst im Alter von fünf Jahren, als seine Familie ihn in ein Koster gab, das Lachen verlernt habe. Ob diese Charakterstrenge des Thomas von Aquin verbürgt ist soll hier nicht geklärt werden. Was man sicher über das Leben des großen Theologen weiß, ist, dass er kurz vor seinem Lebensende, am Nikolaustag des Jahres 1273 eine spirituelle Erfahrung hatte.
Zuletzt: Lachen
"Alles was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe", ließ er seinen Sekretär Reginald von Piperno wissen. Danach schrieb Thomas von Aquin keine Zeile mehr und er schwieg bis zu seinem Tod im Jahr 1274 über das, was in der Nachwelt als Gottesbegegnung ausgelegt wurde
Markus Orths Roman macht aus dieser Erfahrung einen dramaturgischen Kippmoment. Er entlässt Stan Laurel in ein filmisches Dunkel, während Thomas von Aquin am letzten Wintertag seines Lebens in die Schneehelle hinaustritt. Er wirft sich zu Boden, wedelt mit Armen und Beinen, hinterlässt einen Schneeengel und lacht, wie er zuletzt als Kind gelacht hat.
Vielleicht hat der große Philosoph statt dem Angesicht Gottes ja wirklich einen Blick in Zukunft und auf Stan Laurel erhascht, wer weiß. Sicher aber ist, dass mit "Picknick im Dunkeln" ein unterhaltsamer und fein gearbeiteter Roman entstanden ist. Einer, der sich nicht scheut, große Fragen zu stellen - und Antworten zu finden.
Markus Orths: "Picknick im Dunkeln"
Hanser Verlag, München, 383 Seiten, 22 Euro