Gott, ja, der Literaturbetrieb: Aus der Ferne mag er eine gewisse Anziehungskraft entfalten. Lyrikbeflissene Gymnasiasten und Nachwuchsautorinnen, getrieben von romantisierender Enthusiastik, mögen sich weiß Gott was vorstellen unter dem, was sich "Literaturbetrieb" nennt. Bei Marlene Streeruwitz war das nicht anders:
"Mit zwanzig hab ich Thomas Bernhard kennengelernt. Damals hab ich die Welt des Literaturbetriebs aus der Ferne als kleine Maus mit anschauen dürfen, und das schien sehr begehrenswert. Das hat sich dann beim Näherkommen ganz schnell als nicht mehr so begehrenswert herausgestellt. Das hat aber daran nichts geändert, dass ich das tun wollte."
Zu Tisch mit Thomas Bernhard: Wie darf man sich das vorstellen?
"Ich saß am Tisch, und man hat diskutiert, was der Unseld da schon wieder gemacht hat, und dass man sich mit dem Handke nicht verträgt und dass der Kreisky so ein Depp ist – was dann auch alles zu lesen war. Allerdings war die Griesgrämigkeit, mit der das vorgetragen wurde, auch nicht so besonders bezaubernd. Insgesamt hat das eher wie eine politische Partei funktioniert und weniger so, wie ich mir Kultur vorgestellt habe."
Nelia, so heißt die Protagonistin von Marlene Streeruwitz' jüngstem Roman, Nelia hat ein belletristisches Werk geschrieben mit dem Titel "Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland". Mit just diesem Buch hat es die gerade einmal 20-jährige auf die Short-List des "Deutschen Buchpreises" geschafft. Nelia stammt aus, ja, dysfunktionalen Familienverhältnissen. Als uneheliche Tochter einer erfolgreichen Schriftstellerin wird das Mädchen mit vierzehn zur Halbwaisin, die Mutter stirbt, der Großvater nimmt Nelia bei sich auf, gegen den Willen der lieblosen Großmutter, die ihre Enkelin nie besonders gemocht hat.
"Diese Nelia hat durch den Verlust ihrer Mutter einen anderen Weg zu nehmen gehabt als es in einer Mainstream-Jugend vorstellbar wäre, sie steht ein bisschen draußen dadurch. Und mithilfe einer solchen Figur lässt sich natürlich von außen auf die Welt schauen. Und das ist einfach ein sehr ergiebiger Forschungsvorgang."
Die Welt, auf die Streeruwitz ihren Blick lenkt - durch Nelias Brille - ist der von großmäuligen Schmocks und Schmonzetteuren bevölkerte Jahrmarkt der Eitelkeiten, als der sich die "Frankfurter Buchmesse" Jahr für Jahr präsentiert. Am Beginn des Romans nimmt Nelia an der Beisetzungszeremonie ihres Großvaters teil, dann fliegt sie zur Verleihung des "Deutschen Buchpreises" nach Frankfurt.
"Am Vormittag eine Totenvisite und am Abend eine Preisverleihung. So war das Leben."
Knickerige Verleger und großspurige Kritiker
Mit galligem Humor beschreibt Marlene Streeruwitz die Erlebnisse ihrer Protagonistin auf der Frankfurter Buchmesse - ein globalisiertes Spektakel, das von knickerigen Verlegern und großspurigen Kritikern bevölkert ist, von faunischen alten Männern und dauerlüsternen Jetset-Intellektuellen. Dass dann und wann auch sympathische Zeitgenossinnen die Szene bevölkern - eine nette 3sat-Redakteurin zum Beispiel – ändert nichts am Gesamtbefund.
"Na, diese junge Frau kann doch durch den ganzen Betrieb durchgehen und wird nie ein Wort über ihr Buch wirklich verlieren müssen. Es gibt einfach keine Auseinandersetzung damit, man switcht einfach nur von einem Titel zum nächsten. Und dazu haben Kritiker wie Reich-Ranicki beigetragen. Die Passion, die mich zur Literatur geführt hat, ist kaum mehr irgendwo zu finden. Das ist vielleicht nicht mehr veränderbar – trotzdem sollte man Grabesgesänge singen."
Und einen solchen Grabesgesang stimmt Streeruwitz konsequenterweise an in ihrem Roman. Für einen Nekrolog allerdings kommt dieser Text erstaunlich flott und süffisant daher.
"Dass man zusammengekommen sei, um die Literatur zu feiern, sagte der Mann im dunklen Anzug. Dass man die Handys ausschalten sollte. Dass man es wieder geschafft habe. Und worum es nun ginge. Um Lesen. Natürlich. Um Bücher-Lesen. Und um Bücher-Machen. Zuallererst um Bücher-Machen. Und um Bücher machen zu können, müsse man Bücher verkaufen. Und da sei man mit diesem Preis und dieser Veranstaltung auf dem richtigen Weg. Literatur. Wahrheit. Die Welt in ihrer Veränderung. Darzustellen. Werte. Widerspruch. Und plötzlich war alles leicht. Nelia sah. Sie konnte sehen, wo sie da hineingeraten war... Die Literatur war am Ende. Alles andere war wichtiger geworden. Und es ging um den Abstieg. Die ganze Veranstaltung war ein Versuch, den eigenen Wert darzustellen und damit der Einschätzung preiszugeben. Das Marketing war dann das Instrument des Obsoleten. Das Marketing stellte das Obsolete offen aus. Das hier. Das war alles schon lange vorbei. Das war eine Erinnerungsveranstaltung. Das war ein Literaturkränzchen. Gut inszeniert. Sehr gut inszeniert und im Fernsehen übertragen. Im Fernsehen übertragen, wie die Reste verteilt wurden."
"Die Frankfurter Buchmesse besucht ein Autor, eine Autorin besser nicht, denn sie sind überflüssig dort. Es will sie auch niemand, alle sind gepeinigt, wenn wir da auftauchen, weil dann müssen die Leute, die dort arbeiten, sich mit uns beschäftigen. Ich hab dort auch noch nie einen tollen Termin gehabt, außer Fototermine, sonst treffe ich in Frankfurt nur Leute, die auch in Wien mit mir hätten sprechen können. Die Events, die da organisiert werden, haben mit diesen Heldenliedern zu tun, die aus der Reich-Ranickischen Kritikschule kommen. Da geht's überhaupt nicht um die Qualität von Texten, sondern um die Produktion von Nimbus: dass ein kräftiger, älterer Mann auftritt, mit der Rotweinflasche in der Hand, und der Welt sagt: Es ist eh alles in Ordnung."
Dabei ist nichts in Ordnung, gar nichts, weder in der Welt da draußen – in Griechenland zum Beispiel – noch in Nelias innerer Welt. Die junge Frau, unsicher und selbstbewusst zugleich, ist voller Trauer. Der Tod ihres Großvaters, die Beziehung zu ihrer vor Jahren verstorbenen Mutter, der zeitlebens absente Vater – all das wühlt Nelia auf und geht ihr nach, erst recht, als sie während des Messetrubels ihrem im Raum Frankfurt lebenden Vater begegnet:
"Sie schaute diesen Mann an. Wie interessant das war. Wie er an den vielen Jahren würgte. Wie er diese Jahre sprechen wollte. Wie er alles sagen wollte und wie das zu viel war und ihn überwältigte. Wie ihm sein Camus nichts half beim Sprechen. Auch der Professor für französische Literatur konnte die Jahre, in denen er nicht ihr Vater gewesen war, obwohl er ihr Vater war. Diese Jahre. Die konnte auch der Literaturspezialist nicht ausatmen. Einfach ausatmen, um nicht daran zu ersticken."
Marlene Streeruwitz' Roman greift einem auf unsentimentale Weise ans Herz. Mit Zartgefühl und einem guten Schuss Melancholie zeichnet die Autorin das Porträt einer sensiblen jungen Frau - widerborstig und verletzlich zugleich -, die ihre, Streeruwitz', Tochter, ja, vielleicht ihre Enkelin sein könnte. Selten hat man in der jüngeren Literatur ein derart einfühlsames Frauenporträt gelesen: Eine junge Autorin erobert sich ihren Platz in der Welt, und Marlene Streeruwitz, ihre Kreatorin, nimmt sie behutsam-sympathisierend unter ihre Fittiche.
Marlene Streeruwitz: Nachkommen., Roman, Verlag S. Fischer, Frankfurt, 432 Seiten, 19,99 Euro