Das Straßennetz verliere jeden Tag 13 Millionen Euro an Wert. "Was jetzt nicht saniert wird, wird noch teurer", sagte der SPD-Politiker Bodewig. Die Investitionen müssten erhöht werden. Die geplante Pkw-Maut für Ausländer würde zu wenig Geld einbringen - auch wegen des bürokratischen Aufwands.
Bodewig forderte eine umfassende Strategie. Wenn die Bauvorhaben besser umgesetzt würden, könnte man eine Reserve von zehn Prozent gewinnen, sagte er. So werde zurzeit bei Ausschreibungen meistens das billigste Angebot genommen, das auf lange Sicht gesehen aber oft nicht das beste sei.
Das Interview mit Kurt Bodewig in voller Länge:
Peter Kapern: Vorgestern hat Verkehrsminister Dobrindt einen Schutzhelm aufgesetzt, nicht etwa, um sich vor der massiven Kritik an seinen Mautplänen zu schützen, sondern weil er eine Autobahnbrücke in Leverkusen besichtigt hat. Schutzhelme zu tragen, wenn man deutsche Autobahnbrücken anschaut, das scheint mittlerweile angeraten, denn Hunderte dieser Bauwerke sind schlichtweg marode. Die Brücke in Leverkusen ist Teil der am meisten befahrenen Autobahn in Europa, aber derzeit für Lastkraftwagen gesperrt. Die schweren Laster könnten die Brücke über den Rhein einstürzen lassen. So oder so ähnlich steht es um große Teile der deutschen Verkehrsinfrastruktur.
Bei uns am Telefon ist der frühere Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig, der im vergangenen Jahr im Auftrag der Landesverkehrsminister mit einer Kommission den Zustand der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland unter die Lupe genommen hat. Guten Morgen, Herr Bodewig!
Kurt Bodewig: Guten Morgen, Herr Kapern.
Kapern: Herr Bodewig, wie marode ist das Verkehrsnetz in Deutschland?
Bodewig: Es ist extrem marode. Wenn Sie sich überlegen, dass rund 41 Prozent aller Bundesstraßen den Zustandswarnwert von 3,5 – das ist eine relativ schlechte Note – erreicht haben, dann merkt man, wie dramatisch die Situation ist. Und ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie ruhig und gelassen Politik und Öffentlichkeit zurzeit damit umgehen.
Die Situation ist dramatisch
Kapern: Lassen Sie uns ein wenig Ursachenforschung betreiben. Warum ist die Verkehrsinfrastruktur so verrottet? Wer ist verantwortlich?
Bodewig: Ich glaube, es gibt dafür sehr unterschiedliche Gründe. Sie wissen, dass nach der deutschen Einheit ein sehr intensives, milliardenschweres Aufbauprogramm der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern erfolgt ist, was für richtig halte, was aber wahrscheinlich in den Standards teilweise sehr großzügig war und damit sehr viel Geld gebunden hat. Das ging zur Entlastung, das ging auf Kosten der Erhaltung und der Sanierung. Aber das ist keine neue Entwicklung. Allein zwischen 2010 und 2012 wurden rund 900 Millionen, die für die Erhaltung der Bundesfernstraßen vorgesehen waren, für andere Zwecke, sprich Neu- und Ausbau verwandt. Das zumindest sagt das Kölner Institut der Wirtschaft, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Das heißt, wir haben eine Entwicklung, dass Neubauten immer einen Vorrang haben, gleichzeitig aber die Sanierung massiv in den Hintergrund getreten ist.
Kapern: Warum haben Neubauten einen Vorrang, weil Politiker so gerne Wähler mit neuen Umgehungsstraßen glücklich machen?
Bodewig: Ja! Ich glaube, natürlich ist es etwas aufregender, eine neue Strecke zu eröffnen, als einen Sanierungsplan festzustellen. Aber es liegt natürlich auch daran, dass wir eine Form von Brückenbauwerken haben, die alle so aus den 60-ern, 70-ern gekommen sind, die heute alle erodieren, und das ist eines der ganz, ganz zentralen Probleme, das wir haben. Die Ingenieurbauwerke in Deutschland sind in einem sehr schwierigen Zustand.
Kapern: Weil die Ingenieure damals so schlecht waren?
Bodewig: Nein! Man baute damals diesen Typus der Spannbeton-Brücken und wollte wenig Beton, wenig Stahl verwenden, es sollte elegant aussehen. Aber dieses Konzept ist nicht aufgegangen. Damals hat man übrigens für Strecken geplant, die etwa nur die Hälfte des heutigen Verkehrs ausgemacht haben, und damit können Sie auch erkennen, dass die Auslastung der Brücken auf die reale Verkehrssituation nicht realistisch war.
Erhaltung und Sanierung vor Neu- und Ausbau
Kapern: Dass Spannbeton-Brücken vielleicht nicht so gut sind, wie man damals gedacht hat, als man sie gebaut hat, das ist ja keine Erkenntnis, die aus der vergangenen Woche stammt, und dass Infrastruktur-Bauwerke unterhalten werden müssen, auch nicht. Also noch mal nachgefragt: Hat die Politik schlichtweg gepennt?
Bodewig: Sagen wir mal so: Es gab unterschiedliche Faktoren, die alle zusammen im Ergebnis dazu geführt haben, dass wir heute wirklich einen Sanierungsnotstand haben. Wenn Sie sich anschauen: Unser Netz, das rund eine Billion Euro schwer ist, verliert jeden Tag 13 Millionen Euro an Wert. Das heißt, alles das, was jetzt nicht saniert wird, wird in Zukunft noch wesentlich teurer, denn die Kosten werden dann exponentiell steigen.
Kapern: Kann es sein, Herr Bodewig, dass man in den vergangenen Jahrzehnten auch in einer Art Baurausch war, indem man sich immer mehr Infrastruktur zugelegt hat und dabei schlicht außer Acht gelassen hat, dass alles, was man so baut, auch irgendwann mal unterhalten werden muss?
Bodewig: Ich glaube, es war ganz gut, dass die Verkehrsministerkonferenz der Länder auf den Vorschlag unserer Kommission reagiert hat und hat gesagt, für die Zukunft muss gelten, Erhaltung und Sanierung vor Neu- und Ausbau. Das heißt nicht, dass Neu- und Ausbau nicht mehr stattfinden wird, aber man muss es dann wirklich auf große Prioritäten, etwa Lückenschlüsse oder internationale Verpflichtungen orientieren und nicht sozusagen ein Feuerwerk neuer Projekte eröffnen.
Kapern: In Schleswig-Holstein – das haben wir ja eben gehört, Herr Bodewig, wie da die Dinge stehen -, da wird derzeit die Frage diskutiert, ob es nicht auch eine Ursache der Malaise sein kann, dass allzu viele Bayern Bundesverkehrsminister waren. Ist da was dran? Haben die dann bayerische Selbstbedienung im Bundesverkehrsetat betrieben?
Bodewig: Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit. Da will ich nicht näher drauf eingehen.
Wir brauchen einen Masterplan
Kapern: Klingt aber so, als würden Sie das nicht ausschließen wollen.
Bodewig: Ich glaube, das ist auch ein Nebenkriegsschauplatz. Was wir brauchen ist eigentlich so was wie einen Masterplan Verkehrsinfrastrukturentwicklung. Wir haben objektiv zu wenig Geld im Topf und gerade Sanierung und Erhaltungsaufwand werden immer wieder gestreckt. Schauen Sie sich an: Das gilt nicht nur für die Straßen, sondern auch für die Schiene. Rund ein Drittel aller Eisenbahnbrücken ist älter als 100 Jahre. Das muss man sich mal vorstellen. Das muss dringend saniert werden und wir haben allein zum Beispiel auf der Sauerland-Strecke rund 32 Großbrücken, die saniert werden müssen, von denen viele wahrscheinlich Ersatzbauwerke bilden werden. Allein dort sind heute Schwerlastverkehre überhaupt nicht mehr möglich. Das ist für einen Industriestandort wie Deutschland wirklich katastrophal, und deswegen glaube ich, sollte man nach vorne diskutieren in Richtung, was können wir eigentlich machen, um die Verkehrsinfrastruktur wieder in Ordnung zu bringen. Das ist nicht nur Geld, das ist auch viel an neuen strukturellen Maßnahmen, die man unbedingt beginnen muss.
Kapern: Welche denn zum Beispiel?
Bodewig: Ich glaube, dass wir zum Beispiel eine effiziente Reserve von rund zehn Prozent heben können, wenn wir allein die Frage der Bauumsetzung neu regeln. Das heißt, wir brauchen Bonus-Malus-Systeme und vor allem eine Lebenszyklus-Orientierung. Heute orientiert man sich nach der Bausumme, das billigste Angebot wird genommen. Aber das billigste Angebot ist nicht das Beste, denn das kann in einer relativ kurzen Zeit sehr teuer werden.
Oder ich sage zum Beispiel, dass wir die Jährlichkeit im Haushalt haben, ist jetzt verwandelt worden zu einer Überjährigkeit. Aber wir haben keine Bindung. Das heißt, das kann natürlich Haushaltsjahr für Haushaltsjahr geändert werden. Aber Infrastruktur in dieser Größenordnung, die braucht wirklich eine längere Perspektive. Deswegen zum Beispiel schlage ich Fonds vor. Aber es gibt noch viele, viele Maßnahmen, die man zusammenführen kann, um wirklich mehr aus dem Geld zu holen, vor allem aber auch Geld so zur Verfügung stellt, dass man es wirklich sachgerecht verbauen kann.
Der Verkehr wird zunehmen
Kapern: Aber unter dem Strich fehlt auch Geld, haben Sie eben gesagt. Wie viel denn?
Bodewig: Ja. Die Kommission sagt, Deutschland braucht jedes Jahr 7,2 Milliarden zusätzlich zu dem heutigen Ansatz von zehn Milliarden. Das heißt, das ist eine große Summe. Die betrifft aber nicht nur die Bundesfernstraßen und Schienenwege, sondern natürlich auch Länder und Kommunen. Wir müssen nur rangehen, denn wenn ein Wirtschaftsstandort nicht mehr funktioniert, dann verlieren wir im Ranking. Deswegen haben wir erst mal vorgeschlagen: einmal eine Maßnahme, nämlich aus Steuermitteln pro Jahr 2,7 Milliarden zur Verfügung zu stellen, pro Jahr und das für den Zeitraum von 15 Jahren, um überhaupt die nachholende Sanierung zu gewährleisten, und dann für den aktuellen Bedarf auch die Übertragung der LKW-Maut auf alle Bundesstraßen, eventuell sogar auf die Landesstraßen. Die PKW-Maut für Ausländer ist etwas, was zu wenig bringt und eigentlich vom bürokratischen Aufwand fast nicht angemessen erscheint.
Kapern: Wenn Sie nun vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Ihrer Kommission die Debatte um die PKW-Maut verfolgen, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Bodewig: Ich glaube, das ist hier eine kleine Sackgasse, in der man sich verfängt, anstatt zu sagen, lasst uns ein großes Konzept machen, in dem wir wirklich sicherstellen, dass die Mittel für die Verkehrsinfrastruktur zukünftig zur Verfügung stehen. Ich selber sehe auch einen Bereich, der sich vor allem auf die schwerere Belastung durch LKW bezieht, denn die haben eine viel stärkere Druckbelastung auf die Straße. Ein 40-Tonner hat etwa die 60.000fache Druckwirkung eines Mittelklasse-PKW, und der Verkehr wird nach wie vor steigen. Die Prognosen sind extrem. Deswegen sage ich auch immer, was wir brauchen ist genauso einen Masterplan, der eine Verkehrsinfrastruktur-Entwicklung schafft, die wirklich dauerhaft Deutschland als Industriestandort, aber auch als die Voraussetzung für das Recht auf Mobilität gewährleistet.
Kapern: Der frühere Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig heute bei uns im Deutschlandfunk. Herr Bodewig, danke, dass Sie Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!
Bodewig: Ja, schönen Tag! Auf Wiederhören, Herr Kapern.
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