In der Baracke vier - im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz 1 - hängt ein großes Schwarz-Weiß-Foto. Es stammt von 1943 und zeigt den Bahnsteig. Ein Güterzug ist gerade angekommen und hat Tausende gefangene Juden gebracht.
Zoltan Matyah ist bis hierher fast teilnahmslos durch das Lagergelände gegangen, gestützt auf einen metallenen Stab mit kleinen Rollen. Doch vor dem Foto scheint der 87-Jährige plötzlich aufzuwachen. Mit dem Zeigefinger deutet er auf einen Mann im gestreiften Sträflingsanzug.
"Dieser Mann arbeitete auf der Rampe. Er gab den Ankommenden Ratschläge, wie sie wenigstens ihre Kinder vor der Gaskammer retten können. Ich hoffe, dass er noch ein langes Leben hatte. Und dass er jetzt im Himmelreich ist."
Nur Wenige entkamen dem Tod
Genau so, wie von dem Mann empfohlen, wurde Zoltan Matyah selbst gerettet. Der damals erst 13-Jährige reihte sich in die rechte Schlange ein - in die der Männer, die von den Deutschen noch zu schwerer körperlicher Arbeit hergenommen wurden.
"Zuerst war ich groß und dürr. Aber da, wo ich jeden Tag in die Jeschiwah gegangen bin, in Mukatschewo war das, haben ferne Verwandte gewohnt, die eine Ziege hatten. Sie haben mir früh und abends ein Glas Milch gegeben, so bin ich kräftiger geworden."
So entging Zoltan Matyah in Auschwitz dem sofortigen Tod. Anders seine Mutter, seine Schwester und seine Tante. Sie mussten sich links einreihen - und wurden direkt in die Gaskammer gebracht.
Der 87-Jährige war gestern zum ersten Mal seitdem wieder in Auschwitz. Er kam zum 30. "Marsch der Lebenden" - vom Tor des Stammlagers mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" bis ins zweite Lager nach Birkenau. Noch dieses eine Mal habe er das alles sehen wollen, sagte Zoltan Matyah.
Die meisten anderen unter den über 10.000 Teilnehmern waren zum ersten Mal hier. So Jerome Katz aus Frankfurt am Main, auch er besichtigte vor dem Marsch das Lager Auschwitz I.
"Bei mir ist es auch so, dass väterlicherseits beide Eltern, also meine Großeltern, in Auschwitz waren. Sie haben alle ihre Familienmitglieder verloren und waren jeweils die einzigen Überlebenden."
Unterschiedlicher Umgang mit der Vergangenheit
Der Medizinstudent ist 22 Jahre alt. In seiner Generation sei es auch in Deutschland nicht mehr selbstverständlich, sich intensiv mit dem Holocaust zu beschäftigen.
"Manche haben die Einstellung, dass sie sagen: Das ist jetzt die dritte Generation, sie wollen nicht mehr die Schuld auf sich nehmen von ihren Großeltern oder Urgroßeltern. Andere gehen damit komplett anders um, wollen umso mehr etwas erfahren. Einige meiner Freunde, also deutschen Freunde, die wissen, dass ich hier bin, fragen mich immer, wie es mir geht."
Meist junge Juden aus aller Welt kamen gestern nach Auschwitz. Auf dem Lagergelände wurden sie nicht nur mit Geschichte konfrontiert, sondern auch mit aktueller polnischer Politik.
So eine Schülerin aus Panama, die von einem Reporter des öffentlichen polnischen Fernsehens befragt wurde. Ob sie denn auch wisse, dass dies ein deutsches, kein polnisches Vernichtungslager war, will der Reporter wissen.
Polnisch-deutsche Beziehungen auf dem Prüfstand
Der Hintergrund: Rechtskonservative Kreise in Polen unterstellen, Deutschland wolle die Schuld am Holocaust teilweise auf Polen abwälzen, deshalb - deshalb, so die Behauptung - tauche in deutschen und internationalen Medien häufig die Bezeichnung "polnische Todeslager" auf.
Ein deshalb vom polnischen Parlament verabschiedetes Gesetz wurde auch vor dem "Marsch der Lebenden" diskutiert. Es verbietet, der polnischen Nation eine Mitverantwortung am Holocaust zu geben. Auch Yaron Cohen, 48 Jahre alt, der aus Israel angereist war, hatte davon gelesen:
"Wir beschuldigen die Polen nicht, auch wenn es solche gab, die Juden verraten haben. Ich war in Warschau und habe gesehen, dass viele Polen gegen die deutschen Besatzer gekämpft haben. Hier in Auschwitz sind auch viele Tausende nicht-jüdische Polen umgebracht worden." Pünktlich um halb zwei Uhr am Nachmittag, ertönte das Schofar-Horn, der Marsch setzte sich in Bewegung.