Archiv

"Marsch der Lebenden"
Reise in eine "komplizierte Geschichte"

Israel erinnert heute der sechs Millionen Opfer des Holocaust. Tausende nehmen dazu am "Marsch der Lebenden" teil: Meist junge Juden, die in Auschwitz das Vergangene begreifen wollen. In Polen ist die Veranstaltung nicht unumstritten, auch unter polnischen Juden.

Von Florian Kellermann |
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Das Eingangstor zum Konzentrationslager Auschwitz mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei". (Deutschlandradio - Margarete Wohlan)
    Über dem Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz I prangt der Schriftzug "Arbeit macht frei". Die deutschen Besatzer verhöhnten so die Gefangenen, von denen die allermeisten auf dem Gelände des Lagers sterben mussten. Von diesem Tor aus geht der "Marsch der Lebenden" über drei Kilometer zum anderen, größeren Teil des Konzentrationslagers, der Auschwitz II oder Auschwitz-Birkenau genannt wird.
    Für die jungen Juden sei der erste Besuch in dem Vernichtungslager ein einschneidendes Erlebnis, sagt Zuzanna Radzik vom Forum für Dialog, einer Organisation, die jährlich viele junge Juden nach Polen einlädt.
    "Das ist ein sehr schwieriger Moment im Leben - nicht nur für diejenigen, deren Vorfahren hier ermordet wurden. Der Holocaust ist eine nationale Tragödie. Die jungen Juden erleben diese Erde als mit Blut getränkt. Häufig können sie gar nicht begreifen, dass um die Vernichtungslager herum noch Menschen leben, dass da Dörfer und Städte sind. Vor dem zweiten Weltkrieg haben 3,5 Millionen Juden in Polen gelebt. Die allermeisten sind getötet worden, die jüdische Kultur hier wurde erfolgreich vernichtet."
    12.000 Teilnehmer werden erwartet
    Der Marsch der Lebenden ist eine private Initiative von jüdischen Organisationen. In diesem Jahr rechnen sie mit 12.000 Teilnehmern. Dem Marsch, bei dem sich viele in Israel-Flaggen hüllen, folgt eine Gedenkveranstaltung in einer ehemaligen Gaskammer. Die Teilnehmer werden die Hatikwa singen, die israelische Nationalhymne. Wenige Tage später fliegen sie nach Israel - zum 67. Unabhängigkeitstag des Staates.
    Die Reise soll einen Kontrast offenbaren, heißt es im Prospekt der Veranstalter: den Kontrast zwischen dem traurigen Schicksal der Juden auf polnischem Boden - und ihrem tapferen Überlebenswillen, den Israel repräsentiere. Doch diese Gegenüberstellung ist manchen zu holzschnittartig, so auch für Piotr Kadlcik, Mitglied im Vorstand der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Warschau.
    "Ich war beim ersten Marsch der Lebenden, als einer der wenigen polnischen Juden, die damals teilnahmen. Die Veranstaltung gefiel mir nichts besonders gut. Die Organisatoren stellten Polen als ein Land von Antisemiten dar und bedienten sich dabei Stereotypen. Das ist heute anders. Noch immer besuchen diese jungen Menschen nicht eigentlich Polen, sondern den Ort, an dem ihre Großeltern, Onkel, Tanten und so weiter starben. Aber ihre Begleiter stellen die Geschichte der Juden in Polen nicht mehr so einseitig dar, sie zeigen, dass das eine komplizierte Geschichte war."
    Piotr Kadlcik hat fast die ganze Familie im Holocaust verloren. Das Stereotyp - Polen sei ein antisemitisches Land - kann er nicht hören. Es fordert dazu auf, die Schutzvorkehrungen vor Synagogen zu vergleichen: In Deutschland oder Frankreich seien sie viel strenger als in Polen, sagt er.
    Für echte Begegnung reicht die Zeit nicht
    Tatsächlich treffen die jungen Juden, die zum "Marsch der Lebenden" kommen, heute auch gleichaltrige Polen. Sie besuchen die Synagoge in Warschau und lernen das heutige jüdische Leben in Polen kennen. Für eine echte Begegnung reiche die Zeit aber nicht, meint Zuzanna Radzik vom Forum für Dialog. Denn zwischen Polen und Juden aus dem Ausland gebe es noch immer viele Missverständnisse.
    "Meine Großeltern haben nur ihre Geschichte über die Kriegszeit erzählt. Die vielen Juden, die bei uns im Städtchen wohnten, haben sie nie erwähnt. Dabei müssen sie doch gesehen haben, wie sie vom Ghetto ins Lager getrieben wurden. Die ausgewanderten Juden auf der anderen Seite haben sich vor allem an diejenigen Polen erinnert, vor denen sie sich fürchten mussten, die ihnen nicht geholfen oder sie sogar verraten haben. In ihren Erzählungen fehlte, dass auch die Polen Opfer dieses Krieges waren."
    Auch wenn es beim Marsch der Lebenden kaum Platz für lange Gespräche geben wird: Vielen jungen Juden wird es dieser erste Kontakt mit Polen erleichtern, später noch einmal in das Land zu reisen, in dem viele ihrer Vorfahren lebten.