Aufmarsch der Wahlkämpfer in Marseille. Das Département "Bouches-du-Rhône" ist Einwanderungsgegend. Kolonialgeschichte, die Nähe zum afrikanischen Kontinent, das südliche Klima. Der Front National trifft hier auf fruchtbaren Boden, macht sich in gleich zwei angrenzenden Départements Hoffnung auf regionale Macht.
Einen wichtigen Mosaikstein im Kalkül von Parteichefin Marine le Pen, die Präsidentin Frankreichs werden will, hat Stéphane Ravier ergattert. Senator in Paris und seit dem vergangenen Jahr Bürgermeister im 13. und 14. Stadtteil von Marseille. Für die Wahlen an diesem Wochenende hat der Front National in allen Ecken des Landes Kandidaten zusammengesucht und tritt in nahezu allen der mehr als 2000 Wahlkreise an. Dabei durchkreuzte mancher Bewerber mit antisemitischen, rassistischen, homophoben Botschaften die Strategie der Parteichefin, die das Image der extremistischen Grundfärbung ihrer Bewegung tunlichst überdecken will.
Auf Stéphane Ravier kann sich le Pen verlassen, er geht die Themen des FN geschickter an: "In zwanzig Jahren wird Frankreich eine islamische Republik sein", greift der FN-Bürgermeister zum Auftakt dieses Abends in den Zitateschatz des Parteigründers und Ehrenpräsidenten der französischen Rechtsextremen, Jean-Marie le Pen. Wenn Frankreich auch noch keine islamische Republik sei, greift Ravier den Gedanken auf, so erleide es doch eine explosionsartige Festsetzung islamistischer Zellen, die ja vor einigen Wochen erst zur Tat geschritten seien.
Jedes Attentat als Argument
Jedes Attentat, sei es in Frankreich, sei es andernorts, liefert dem FN Belege und Argumente. Er sei kein Absolvent von Elitehochschulen, kein Mann der Theorie, der Diplome, sagt Ravier: "Meine Universität, das sind die nördlichen Viertel von Marseille." Die Stadtteile, in denen der Einwanderungsdruck groß ist, das soziale Elend ebenfalls. Stadtteile, die immer wieder durch Bandenkriege im Drogenmilieu von sich Reden machen.
"Null Toleranz", "Ausweisung Illegaler", "Vorfahrt für Franzosen bei Sozialleistungen", "Legale Einwanderung beschränken, auf die Talente". Mit diesem Wahlprogramm antwortet der Front National. "Einwanderung ist alles andere als eine Chance, sie ist ein schweres Handicap für unser Land", sagt Stéphane Ravier auf der Wahlkampfbühne.
Der FN-Bürgermeister residiert in einem Chateau aus dem 18. Jahrhundert. Palmen wiegen sich im Mittelmeerwind, von der Terrasse hinter der Eingangshalle geht der Blick weit über die Stadt Marseille. Zu den ersten Amtshandlungen von Stéphane Ravier gehörte ein Erlass, der jede andere Sprache als Französisch untersagte.
Renovierungsstau mit Händen zu greifen
In der Kneipe gegenüber vom Bürgermeisteramt ist akzentfreies Französisch eher nicht zu hören. Drei junge Männer lungern an diesem Morgen an der Theke, sie haben arabische Wurzeln. "Mit dem FN hat sich hier nichts verändert", sagt der Kneipenbesitzer. Er habe gebeten, draußen den Bürgersteig mal herzurichten, aber ohne Erfolg. "Nein, der Front National hat in den Nordvierteln nichts gebracht", flicht der Gast bei. "Schauen Sie sich hier um, in welchem Zustand das hier ist, die nehmen hohe Mieten - dabei ist alles verdreckt, da müssen Lösungen gefunden werden." Die Aufzüge in vielen Wohntürmen funktionieren nicht, der Renovierungsstau ist mit Händen zu greifen: "Das ist nicht der Fehler des Hausmeisters oder so, das ist ja nicht nur ein Stadtteil, drei Viertel von Marseille sind in diesem Zustand, wir zahlen Miete, um im Dreck zu leben."
Es kümmere sich niemand um diese vergessenen Viertel der Einwanderer. Marode und vergammelt. Am Tisch sitzt ein alter Mann, der vor vierzig Jahren aus Tunesien hierherkam. "Als Einwanderer mögen wir den Front National natürlich nicht besonders", sagt der freundliche Herr, sonnengegerbte Haut, den flachen Fez auf dem grauen Haar. Ihm gegenüber sitzt ein Engländer, auch er lebt seit Jahrzehnten in den Wohnghettos im Norden von Marseille. "In den Wohntürmen der Vorstadt hat der Front National nicht so viele Anhänger", sagt der Mann, der froh ist, dass er seine drei Söhne ohne Kontakt zum Drogenmilieu hier durch die Jugend gebracht hat. Aus den Wohntürmen gehe ohnehin kaum jemand zur Wahl. "Aber weiter oben, da gibt es Geld." "Weiter oben", das sind die traditionellen Stadtteile, mediterrane Dörfer, die mit den Jahren eingeklemmt wurden inmitten der Hochhäuser. In diesen Stadtteilen findet der Front National seine Anhänger, hier ist die Angst vor Überfremdung und die Sehnsucht nach dem alten Frankreich besonders groß.
"Bringt euch um, nervt uns nicht"
So leiden die einen, die aber noch zur Wahl gehen und teils rechtsextrem wählen. Und es leiden die anderen, deren Zahl immer größer wird, und die von der Politik nichts mehr erwarten. "Der Front National kommt jedenfalls nicht in unsere Wohnghettos, da verteilen die kein Wahlkampfmaterial, den Bürgermeister haben wir in unserem Wohnblock nie gesehen."
"Mehr Sicherheit", "Null Toleranz", das gelte nur für die anderen. "Die wollen, dass wir uns da alleine durchwurschteln, die sagen, lebt unter Euch, bringt Euch untereinander um, nervt uns nicht in unseren feinen Wohnvierteln – und so war das immer."
"Ein Wohnghetto", ergänzt der Engländer und widmet sich wieder den Pferdewetten in der Zeitung.