Es ist eine Idee von wahrhaft globaler Tragweite – die Vision, dass alle Menschen Bürger einer Welt sind. Für die Anhänger dieser Vision erwachsen hieraus universelle Rechte, die nationale Grenzen zunehmend überflüssig machen. In der politischen Ideengeschichte hat dieser sogenannte Kosmopolitismus eine lange Tradition, so auch im Denken beispielsweise von Cicero, Immanuel Kant und Adam Smith. In gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Diskussionen dient der Verweis auf die kosmopolitische Idee vor allem dazu, eine deutliche Abgrenzung gegenüber Rechtspopulisten und deren nationalen Interessen zu markieren.
Zu einem außerordentlich passenden Zeitpunkt also ist das aktuelle Buch von Martha Nussbaum erschienen. Mit ihrer Sammlung von Essays über die kosmopolitischen Ideale verschiedener Denker verspricht die Autorin, den Kosmopolitismus einer kritischen Revision zu unterziehen. Denn für Nussbaum steht fest: "[D]ie Nation ist nach wie vor der wichtigste Ort der menschlichen Selbstverwirklichung und Autonomie."
Kritik: Armut spielt keine Rolle
Nussbaums Argumentation gegen eine vor allem von den Stoikern und Kynikern geprägte Tradition ist vielschichtig: Auf einer philosophischen Ebene verteidigt die Autorin zwar das generelle Anliegen kosmopolitischer Denker, alle Menschen zu gegenseitigem Respekt zu verpflichten und ihre Würde unter allen Umständen zu schützen. Martha Nussbaum moniert allerdings, dass Gedanken darüber, wie Menschen ihre materiellen Lebensgrundlagen sichern können, in der kosmopolitischen Weltanschauung eine viel zu geringe, oftmals sogar gar keine Rolle spielten:
"Menschen, die unterernährt sind, die keinen Zugang zu sauberem Wasser sowie zu Ressourcen auf den Gebieten von Gesundheit, Bildung und anderen ‚materiellen‘ Gütern haben, sind nicht im selben Maße in der Lage, ihre Entscheidungsfähigkeiten zu entwickeln oder ihre grundlegende Menschenwürde zum Ausdruck zu bringen."
Nicht nur Armut werde somit im Kosmopolitismus letztlich ignoriert – die Tradition schließt laut Nussbaum auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie Tiere aus. Auch marginalisiere er zwischenmenschliche Bindungen auf lokaler Ebene. Es sei durch eine, Zitat, "moralische und staatsbürgerliche Erziehung" durchaus möglich,
"[…] eine Art von Patriotismus zu entwickeln, der einerseits mit starken Liebesbindungen an Familie, Freunde und Partner vereinbar ist, und der andererseits durch Anerkennung und Fürsorge geprägte Beziehungen zu Menschen außerhalb unserer nationalen Grenzen aufbaut."
Überzeugungsarbeit statt Zwang
Diese Vision ist in Nussbaums Gegenvorschlag zum Kosmopolitismus verwirklicht: Ihr schwebt ein, Zitat, "materialistischer globaler politischer Liberalismus" vor. Ein solcher Liberalismus stellt laut der Autorin, im Gegensatz zum Kosmopolitismus, keine umfassende politische Doktrin dar. Stattdessen ermögliche er weitreichende politische Freiheiten, während er gleichzeitig essenzielle menschliche Fähigkeiten schütze. Unter anderem auch deshalb plädiert Martha Nussbaum auf supranationaler Ebene für Organisationsformen, die, Zitat, "Überzeugungsarbeit" leisteten, statt Zwang auf Nationen auszuüben. Denn, so schreibt Nussbaum:
"Nationalstaaten sind im Großen und Ganzen gute Beschützer der Grundrechte ihrer Bürger, durch Verfassungsgebung oder deren Analogie und eine Kombination aus legislativer und gerichtlicher Aufsicht. Es scheint unwahrscheinlich, dass ein diffuses System, das den Nationen Macht entzieht, die Rechte von Minderheiten, Frauen und Armen besser schützen wird."
Die Krise der Europäischen Union ist für Martha Nussbaum denn auch ein Beleg dafür, dass Menschen nicht mit Zentralregierungen zufrieden seien, die sie als distanziert und elitär wahrnähmen.
Was die Autorin in ihrem aktuellen Buch allerdings verschweigt, ist, dass sie sich vor allem in den 1990er Jahren vehement für eine kosmopolitische Vision und gegen Patriotismus ausgesprochen hatte. Mit dieser Kehrtwende hin zur Nation hat Nussbaum im Laufe der Jahre immer deutlicher eine normative Position in der politischen Mitte eingenommen – zumal sie in ihrem aktuellen Buch in puncto Migrationspolitik eine deutlich konservative Haltung offenbart. Es sei vernünftig, schreibt die Philosophin beispielsweise, "wenn Nationen die Migration begrenzen, und das bedeutet, viele Menschen nicht ins Land zu lassen und wieder abzuschieben, wenn sie illegal hineingekommen sind".
Sorge vor einem "wohlwollenden Paternalismus"
Nussbaums Aussagen zur Migration sind im Kontext ihres Plädoyers für das Selbstbestimmungsrecht und das Stabilitätsbestreben einer Nation bis zu einem gewissen Grad plausibel. Allerdings offenbaren sie eine deutliche Problematik: Denn Migrationsgründe weisen doch auf die vielen Probleme hin, die auf nationalstaatlicher Ebene nicht oder nur unbefriedigend gelöst werden. Hier scheinen gerade Nussbaums Liberalismus und die daraus resultierende, wenn auch zuweilen durchaus berechtigte, Sorge vor einem, Zitat, "wohlwollenden Paternalismus" großen politischen Lösungen im Weg zu stehen. Nussbaums Insistieren auf der Hoheitsmacht nationaler Politik erzeugt damit gleichsam irritierende und faszinierende Spannungsverhältnisse.
Es sind vor allem diese Ambivalenzen, die das Buch trotzdem lesenswert machen. Sie zeigen, dass reines Schwarzweißdenken hinsichtlich einer kosmopolitischen Vision letztlich zu kurz greift. Darüber hinaus überzeugt Nussbaums unermüdlicher Appell an die Bodenständigkeit von Politischer Philosophie, der ihre Thesen zum Kosmopolitismus durchzieht. Denn Menschen sind in Nussbaums Theorie keine abstrakten und rein vernunftorientierte Wesen, sondern bedürftig, verletzbar, empfindend und gebunden. Diese Prämissen anzuerkennen ist eine der großen Aufgaben für unser jeweiliges Miteinander in einer globalisierten Welt.
Martha Nussbaum: "Kosmopolitismus. Revision eines Ideals".
wbg Theiss, 352 Seiten, 30 Euro.
wbg Theiss, 352 Seiten, 30 Euro.