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Marthaler an der Volksbühne
Liebessehnsucht in der digitalen Welt

Christoph Marthalers neues Projekt an der Berliner Volksbühne, "Tessa Blomstedt gibt nicht auf", persifliert mit reichlich Humor und Spott das Geschäft mit der Liebessehnsucht und das digitale Business der Dating-Portale. Eins aber ist dem Regisseur dabei dann doch heilig.

Von Eberhard Spreng |
    Ein Epochenriss geht durch die Welt. Im Orchestergraben liegen blaue Müllsäcke, einige Hirschgeweihe staken aus dem Plastik heraus. Ein alter cremefarbener Computer steht auf einem Tischchen, das Dekor dahinter ist ein nüchterner Funktionsraum, den man stellenweise schon weiß gestrichen hat. Dessen abgehängte Decke ist offensichtlich schon abgenommen worden, so zeigt sich grauer Beton. Baustoffe lassen sich entfernen und ersetzen, in den Seelen der Menschen aber bleiben die Ruinen der Vergangenheit noch lange lebendig. Solche modisch überholten und irgendwie stehen gebliebenen Menschen bevölkern das Marthaler-Theater auch in "Tessa Blomstedt gibt nicht auf".
    Der Regisseur und das Ensemble persiflieren das Geschäft mit der Liebessehnsucht, das Mediengetue, das digitale Business mit Dating-Portalen, die die alten Eheanbahnungsinstitute ersetzt haben. Hier aber lassen die Akteure noch einmal ihre alt hergebrachten Gefühle aufleben und werden dabei immer wieder von einer Stimme aus dem Lautsprecher zur Raison gebracht, will sagen, in eine rätselhafte neue Ordnung gerufen.
    "- Kekke, Silke, Frauke, Heike, Helfried!
    - Sie werden Spider oder Scraper nicht zu erfassen mittels Mechanismen!
    - Sie werden nicht: Multi-Level-Marketing oder Schneeballsysteme!
    - Sie werden nicht bösartigen Code!
    - Sie werden keine Anmeldeinformationen zu erhalten, oder auf ein Konto
    gehört!
    - Sie werden nicht schikanieren, einschüchtern oder zu belästigen!
    - Sie werden nicht erlaubt zu Hassreden!"
    Was die Stimme von Josef Ostendorf hier aus dem Lautsprecher von sich gibt, ist ein kurioses Kauderwelsch, das eine automatische Computerübersetzungen produziert haben könnte. Offensichtlich ist damit ein Verhaltenscodex gemeint, an den sich zum Beispiel Benutzer von Kontaktbörsen zu halten haben. Die Stimme aus der neuen digitalen Welt nennt das Programmheft bissig den Cantus Firmus, also die melodietragende Leitstimme in der Polyphonie der Messen, Kantaten und Oratorien. Vor allem Irm Hermann, deren Spiel die eher imaginäre Hauptfigur Tessa Blomstedt erahnen lässt, hat Probleme mit der neuen Zeit: Links hegt und pflegt sie im unwirtlichen, halbsanierten Raum eine Blumenecke mit ollen, unmodischen Topfpflanzen und muss sich aus dem Lautsprecher die Ermahnung anhören, analoge Floristik sei vorüber und deshalb sei sie nicht mehr in dieser Welt. Der Wechsel in die Digitalfloristik sei beschlossene Sache und benötige 1,5 Hekta-Byte.
    Bei Marthaler darf man keine volle Ergründung des Themas erwarten
    Wie der Regisseur zu der neuen Zeit steht und mit welchem Charme er hier seine Akteure unter der Unvereinbarkeit ihrer alten Sehnsucht mit dem strengen, technischen und administrativen Diktat der Gegenwart leiden lässt, ist wieder einmal komisch und berührend zugleich: Wenn Irm Hermann zur Musik verklemmt mit den Hüften wippt, wenn Tora Augestad, Altea Garrido, Olivia Grigolli und Lilith Stangenberg als altmodische Girly-Band in schwarzen Lederröcken mit Leopardenshirts singen und tanzen, wenn dem Musiker Clemens Sienknecht die Showeffekte verrutschen.
    "Mein Herz es brennt, wenn ich Dich seh
    auch wenn ich heut durch die Hölle geh
    Mein Herz es brennt so lichterloh
    Will nur tanzen und Dich sowieso"
    Zu hören sind zum Beispiel Beatrice Eglis "Mein Herz, es brennt" und Helene Fischers "Atemlos durch die Nacht", das den größten Szenenapplaus beim äußert gut gelaunten Publikum der Volksbühne bekam, aber auch "Hotel California" von den Eagles oder Whitney Houstons "I will allways love you". Dann erscheint mit Ulrich Voß ein älterer Herr, der früher einmal eine altmodische Partner-Agentur geleitet haben könnte und jetzt an einem Pult erklärt, wie man die Frauenwelt mit Textnachrichten erobert.
    Die Stücktexte sind eine Collage, die das Ensemble aus Eigen- und Fremdtexten zusammengestellt hat, ein assoziatives Geflecht, keine systematische Erkundung. Klar ist: Bei Marthaler darf man keine vollinhaltliche Ergründung des bleischweren Themas erwarten; ihm geht es um Humor, Karikatur und gelegentlichen Spott. Nur eins ist dem Regisseur dann doch heilig: Ganz abgerückt von der Show sitzt Martin Zeller mit seiner Gambe in einer Ecke des Orchestergrabens und begleitet die exzellente Tora Augestadt bei frühbarocker Liebeslyrik.
    "Shall I come, sweet Love, to thee,
    When the evening beams are set?
    Shall I not excluded be?
    Will you finde no feigned let?
    Let me not, for pitie, more
    Tell the long hours at your door."
    Mit Thomas Campion und, an anderer Stelle, Henry Purcell hat Marthaler dann noch einen Epochenbruch installiert: Das Liebeslied der frühen Neuzeit trägt noch eine Innigkeit in sich, die hier nicht veralbert wird und wie ein unberührbarer Stern die Äußerlichkeiten der Herzensangelegenheiten auf den neuzeitlichen Fernseh- und Showbühnen überstrahlt.