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Marthalers "Letzte Tage. Ein Vorabend"
Kalauern aus sicherem Abstand

Ein Jahr nach der Premiere im Wiener Parlament bringt Christoph Martahler sein Musik-Theaterprojekt "Letzte Tage. Ein Vorabend" an die Staatsoper Berlin. Die Abgründe einer Kulturnation, die Tradition von Rassismus und Antisemitismus: Hoch aktuell sind die Themen – doch sie ersticken im platten Klischee.

Von Julia Spinola |
    Der Saal des Berliner Schillertheaters ist mit seiner muffigen Fünfziger-Jahre-Holzvertäfelung an sich bereits ein typischer Marthaler-Raum. Plastikplanen in den Rängen, Baugerüste, Putzeimer und ein paar im strengen Wortsinn aus der Reihe fallende Stühle: mehr brauchte es jetzt nicht, um den 2013 im historischen Sitzungssaal des Wiener Parlaments erstmals gezeigten Abend in die Ausweichspielstätte der Staatsoper zu transplantieren. Die Idee, das Publikum auf der Bühne sitzen zu lassen, ist zwar nicht neu, doch das Thema dieses typisch marthalerischen Potpourris aus Musik, Theater, Klamauk und Sentiment sollte ihr wohl eine neue Wendung geben: Das Publikum befindet sich nicht nur in der Rolle des Betrachters, sondern ist selber auch als Akteur angesprochen.
    Denn "Letzte Tage" handelt von den ideologischen Abgründen unserer Kulturnation, von einer langen Tradition des Fremdenhasses, des Rassismus und des Antisemitismus -- und von den unerträglichen Wiederholungsschleifen der Geschichte. Übereinander geblendet und kollagiert werden historische und fiktive Textdokumente von der Gründerzeit bis heute: ein Arsenal der Montrositäten, der Verharmlosungen und der schuldabwehrenden Immunisierungen. Den musikalischen Teil bilden bearbeitete Ausschnitte aus Kompositionen verfolgter oder ermordeter jüdischer Komponisten, von Alexandre Tansman, Pavel Haas, Erwin Schulhoff oder Viktor Ullmann, dessen Fragment aus dem Jahr 1943 für den Abend von Uli Fussenegger mehrfach variiert wurde.
    Behagliche museale Ferne
    Das Thema Fremdenhass und Antisemitismus wäre hoch aktuell, doch rückt es auf der Bühne in eine behaglich-museale Ferne, die geradezu unerträglich wirkt. Zu platt, zu klischeehaft führt Marthaler die fremdenfeindliche Stimme des Volkes vor. Da verkündet ein Redner, dass der Antisemitismus nun 500 Jahre nach der Schließung des Konzentrationslagers Mauthausen endlich von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden sei, es verliest ein Schauspieler mit sanft raunender Stimme eine parlamentarische Hetzrede von Karl Lueger aus dem Jahr 1894, oder es schwadroniert eine FPÖ-Rassistin über die minderwertigen Gene der Schwarzen, um anschließend in ein minutenlanges irres Jodeln zu verfallen. All dies kalauert -- mal witziger, mal abgedroschener -- in einer solch sicheren Distanz zum Zuschauer dahin, dass niemand sich angesprochen fühlen muss. Für all dies muss die Musik der jüdischen Komponisten als eine sentimentale Tapete herhalten. Die Dignität ihrer Werke wird dem Kalauern geopfert.