Es ist ja nicht so, dass man nicht schon viel gehört hätte über das Thema, gerade in diesem Jahr, auch in Österreich. Man ist auch ziemlich gut informiert über Euthanasie, also jene Maßnahmen, die die Nazis "Rassehygiene" nannten und die einem Vernichtungsfeldzug gegen Geisteskranke und Behinderte gleich kam. Auch in Österreich. Aber an diesem Ort, in der Heil- und Pflegeanstalt Wien-Steinhof, aus der allein in den Jahren 1940/41 4000 Patienten in die Euthanasie-Anstalt Hartheim überstellt und dort durch Gas getötet wurden, an diesem Ort bekommt das massenhafte Morden noch mal ein anderes Gewicht. Es bekommt Gesicht. Bei Christoph Marthaler heißt das: es bekommt Stimme/Gesang.
Man sollte sich die Zeit nehmen, um vor der Vorstellung zum Gebäude 18 des großen Psychiatrie-Geländes am Berg hinaufzusteigen. In großen Räumen mit hohen, zum Teil vergitterten Fenstern, findet das Sterben der Kinder im Steinhof noch einmal statt: Als nüchtern verlesenes Aktenprotokoll. Unter freundlichen Blumenbildern an den Wänden hängen kleine Lautsprecher, die viele Geschichten mit einem einzigen zugrunde liegenden Muster erzählen. Die Kinder werden eingewiesen und nach Berlin gemeldet; nach einem kurzen Monat, in denen man sie hungern lässt, sind sie tot: gestorben an Lungenentzündung oder Luminal.
Der Abend enthält viele solcher Geschichten und Protokolle und ist also eine Gratwanderung. "Unsere Kleinen haben ein Orchester gegründet und sich zum Abschied etwas ausgedacht, bevor sie...." - der Anstaltsleiter bricht ab, das Blechbläser-Ensemble beginnt, mit mehr gesungenen, geflüsterten als gespielten Tönen. (MUSIK) In einer wunderbaren Szene hört man überhaupt nur Luft aus den vielen Tuben und Trompeten, es klingt wie ein Wind, ein Weinen, das all die verlorenen Seelen, die verlorenen Leben dieser Räume beschwört. Im schönen Jugendstiltheater des heutigen Otto-Wagner-Spitals zelebriert Christoph Marthaler eine Sterbemesse, in der sich grausame historische Wahrheit, untergründiger musikalischer Spott und die Zumutungen einer vom globalen Gen-Markt beherrschten Zukunft ganz zauberisch die Waage halten. Krankenschwester und Arzt treten auf, doch gerade in ihrer Rechtfertigung scheint die durchaus freiwillige Mitarbeit an der "Kinder-Euthanasie" auf. Es gibt Experten-Vorträge, die neue Wörter wie "Human-Unrat", "Ablebe-Vertrag" oder "Ballast-Existenz" enthalten; zu den künftig "zu asylierenden Bevölkerungsgruppen" gehören Stänkerer, Abtreiber, chronische Raucher, HIV-Infizierte oder schlicht 'Frauenzimmer'. Lieder von Schumann, Mahler oder Brahms beschwören wehmütig Unglück, Abschied oder Tod, können hier im Steinhof aber statt nur illustrativ auch als Fanal für Freiheit und Selbstbestimmung gehört werden: Wer die Trauer besingen kann, weiß wenigstens, wie ihm geschieht.
Im Mittelpunkt dieser theatralischen Recherche stehen trotz der ungewöhnlich vielen Texte aber Marthalers Schauspieler-Sänger und -Sängerinnen. Sie müssen gar nicht debil gucken; sie sind dick und tragen dicke Brillen oder schief sitzende Anzüge auf hängenden Schultern. Einer spricht nur gebückt am rot-weiß dekorierten Pult. Ein anderer klebt seitwärts am Klavier wie eine Tischklammer. Alle zusammen demonstrieren sie das grundsätzlich verschobene, verrückte Weltverhältnis, das auch die Kunst für sich proklamiert und plädieren so für die Freiheit des Andersseins mehr als alle historischen Zeugnisse.
Als der Mann am Klavier Schostakowitsch aus den Präludien und Fugen spielt - zuvor haben sie, in einer langen, langsamen Prozession, ihre Blasinstrumente abgegeben und sind verschwunden - kommen alle noch einmal herein, mit freundlichen, linkischen Bewegungen und Kindermasken auf dem Gesicht. Hier hätte das Stück für einen versöhnlichen Theaterschluss zu Ende sein können. Marthaler aber setzt uns aus, einer zwanzigminütigen Pantomime über Kinder-Leben in der Anstalt zwischen epileptischem Anfall, Angst und der Entsorgung von toten Körpern. Dass alles aber auch ein Spiel sein könnte, macht diesen Schluss wieder so menschenfreundlich und flirrend. Wenn Marthaler uns jetzt erzählte, Behinderte könnten auch fliegen - nach diesem Abend würden wir ihm glauben.
Man sollte sich die Zeit nehmen, um vor der Vorstellung zum Gebäude 18 des großen Psychiatrie-Geländes am Berg hinaufzusteigen. In großen Räumen mit hohen, zum Teil vergitterten Fenstern, findet das Sterben der Kinder im Steinhof noch einmal statt: Als nüchtern verlesenes Aktenprotokoll. Unter freundlichen Blumenbildern an den Wänden hängen kleine Lautsprecher, die viele Geschichten mit einem einzigen zugrunde liegenden Muster erzählen. Die Kinder werden eingewiesen und nach Berlin gemeldet; nach einem kurzen Monat, in denen man sie hungern lässt, sind sie tot: gestorben an Lungenentzündung oder Luminal.
Der Abend enthält viele solcher Geschichten und Protokolle und ist also eine Gratwanderung. "Unsere Kleinen haben ein Orchester gegründet und sich zum Abschied etwas ausgedacht, bevor sie...." - der Anstaltsleiter bricht ab, das Blechbläser-Ensemble beginnt, mit mehr gesungenen, geflüsterten als gespielten Tönen. (MUSIK) In einer wunderbaren Szene hört man überhaupt nur Luft aus den vielen Tuben und Trompeten, es klingt wie ein Wind, ein Weinen, das all die verlorenen Seelen, die verlorenen Leben dieser Räume beschwört. Im schönen Jugendstiltheater des heutigen Otto-Wagner-Spitals zelebriert Christoph Marthaler eine Sterbemesse, in der sich grausame historische Wahrheit, untergründiger musikalischer Spott und die Zumutungen einer vom globalen Gen-Markt beherrschten Zukunft ganz zauberisch die Waage halten. Krankenschwester und Arzt treten auf, doch gerade in ihrer Rechtfertigung scheint die durchaus freiwillige Mitarbeit an der "Kinder-Euthanasie" auf. Es gibt Experten-Vorträge, die neue Wörter wie "Human-Unrat", "Ablebe-Vertrag" oder "Ballast-Existenz" enthalten; zu den künftig "zu asylierenden Bevölkerungsgruppen" gehören Stänkerer, Abtreiber, chronische Raucher, HIV-Infizierte oder schlicht 'Frauenzimmer'. Lieder von Schumann, Mahler oder Brahms beschwören wehmütig Unglück, Abschied oder Tod, können hier im Steinhof aber statt nur illustrativ auch als Fanal für Freiheit und Selbstbestimmung gehört werden: Wer die Trauer besingen kann, weiß wenigstens, wie ihm geschieht.
Im Mittelpunkt dieser theatralischen Recherche stehen trotz der ungewöhnlich vielen Texte aber Marthalers Schauspieler-Sänger und -Sängerinnen. Sie müssen gar nicht debil gucken; sie sind dick und tragen dicke Brillen oder schief sitzende Anzüge auf hängenden Schultern. Einer spricht nur gebückt am rot-weiß dekorierten Pult. Ein anderer klebt seitwärts am Klavier wie eine Tischklammer. Alle zusammen demonstrieren sie das grundsätzlich verschobene, verrückte Weltverhältnis, das auch die Kunst für sich proklamiert und plädieren so für die Freiheit des Andersseins mehr als alle historischen Zeugnisse.
Als der Mann am Klavier Schostakowitsch aus den Präludien und Fugen spielt - zuvor haben sie, in einer langen, langsamen Prozession, ihre Blasinstrumente abgegeben und sind verschwunden - kommen alle noch einmal herein, mit freundlichen, linkischen Bewegungen und Kindermasken auf dem Gesicht. Hier hätte das Stück für einen versöhnlichen Theaterschluss zu Ende sein können. Marthaler aber setzt uns aus, einer zwanzigminütigen Pantomime über Kinder-Leben in der Anstalt zwischen epileptischem Anfall, Angst und der Entsorgung von toten Körpern. Dass alles aber auch ein Spiel sein könnte, macht diesen Schluss wieder so menschenfreundlich und flirrend. Wenn Marthaler uns jetzt erzählte, Behinderte könnten auch fliegen - nach diesem Abend würden wir ihm glauben.