Den ersten Teil des Gesprächs mit Karl-Josef Kuschel können Sie hier nachlesen und -hören.
Andreas Main: Herr Kuschel, schon als Schüler fühlte sich Martin Buber wie ein Ausgestoßener, wie ein Aussätziger, losgelöst vom europaweit zunehmenden rassistisch motivierten Antisemitismus. Der seit Jahrhunderten gepflegte Anti-Judaismus ging auch nicht spurlos vorbei an Buber. Schauen wir nun auf die sich anbahnende Katastrophe auf dem Kontinent. Buber erlebt eine monströse Unmenschlichkeit und bleibt dennoch innerlich unabhängig und seinem Weg des Dialogs treu. Woher hatte er diese Kraft?
Karl-Josef Kuschel: Nun, wenn man seine Zeugnisse auswertet und richtig versteht, gibt es einen Cantus Firmus, den er trotz allem immer wieder wiederholt - im Wissen ja um die Leidensgeschichte Israels, im Wissen natürlich auch um das Grauen der Schoah. Diese Grundüberzeugung fasst er in eine Formel, die er geradezu immer wieder magisch beschwört: Der Bund Gottes mit dem Volk Israel ist nicht gekündigt. Gott hält an diesem Bund fest. Das konnte er deshalb sagen, weil ja Bund in der hebräischen Bibel nicht eine Art Vertrag ist zwischen zwei Vertragspartnern, wo der eine bei Verletzung des Vertrages ihn kündigen kann oder ändern kann. Sondern Bund meint eine gewissermaßen einseitige Selbstverpflichtung Gottes auf den Erhalt und die Zukunft des Volkes. Der Bund könnte also nur durch Gott gekündigt werden - das hält er durch. Und ich denke, das hält er auch konsequent durch, auch als es zum Grauen der Schoah kommt, wo man ja erst recht sagen könnte: Ja aber sechs Millionen Ermordeter - was gibt es für deutlichere Zeichen dafür, dass Gott sein Volk im Stich gelassen hat? Nein, auch da hält er daran fest. Er nennt das "Harren im Vertrauen auf Gott". Er kennt auch die ganzen kritischen Fragen, die man an Gott stellen kann, die Verzweiflung über die Antwortlosigkeit Gottes. Aber er weiß auch - tief erfahren mit der hebräischen Bibel, dass Gott eben nicht nur ein sich offenbarender, sondern auch ein sich verhüllender, verbergender Gott ist, nicht nur helle Seiten hat, sondern auch dunkle. Daher ist es ihm wichtig, an dieser Bundesverpflichtung Gottes festzuhalten und Gott gewissermaßen daran auch immer wieder zu erinnern, dass er zu seinem Volk in Treue steht.
Main: Buber ist 36 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Er ist 60, als er angesichts des Rassismus der Nazis in die Emigration gezwungen wird - ins künftige Israel. Welche Auswege sah Buber für sich und die Juden seiner Zeit?
Kuschel: Nun, er setzt sich ja als Erstes sehr, sehr engagiert in der jüdischen Erwachsenenbildung seit 1920 ein. Das war das von Franz Rosenzweig damals gegründete jüdische Lehrhaus. Wenige Jahre später hat Buber sich dort engagiert. Vereint waren sie ja in der Vorstellung, Assimilation hat Juden nur ihre Selbstauslöschung gebracht. Assimilation ist der falsche Weg - sich in eine christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft nahtlos einpassen. Nein, wir müssen sozusagen zeigen, dass wir Juden sind, auch mit eigenem Recht, aus eigenen Quellen heraus. Da wollte er gegensteuern und damit das Judentum von innen stärken. Er nannte das "Jüdische Renaissance", von innen heraus ein eigenes jüdisches Profil kreieren. Und das andere war ein Siedlungswerk in Palästina, das er unterstützt hat - in diesem Sinne war er durchaus zionistisch orientiert. Aber ein Siedlungswerk, das im Zeichen des Königreichs Gottes steht. Israel, das Volk Israel hatte für ihn auch eine politische, eine gesellschaftliche Dimension. Einerseits eben ein theozentrische - sozusagen Volk Gottes, aber man soll auch zeigen in den konkreten praktischen Vollzügen des Alltags, der Gemeinschaft, dass man eine andere Vorstellung von Gemeinschaft hat. Ein Zeichen für die Völker, ein Licht für die Völker sollte man sein. Da sah er im Geiste des religiösen Sozialismus in dem Siedlungswerk in Palästina den Anbruch einer neuen Volksgemeinschaft, die ein Vorbild hätte sein können für die Weltgemeinschaft. Dass das alles gescheitert ist, das wissen wir auch, aber Buber hat an diesem Ideal festgehalten.
"Das ist für mich authentisches Judentum, authentischer jüdischer Geist"
Main: Sie sprechen den Sozialismus an. Er hatte große Sympathien für sozialistische Ideen. Wie würden Sie Buber im Kontext seiner Zeit einordnen? War er eher Sozialdemokrat oder her Kommunist - oder ist das zu schubladenartig gedacht?
Kuschel: Das ist zu schubladenartig gedacht. Religiöser Sozialismus ist schon präziser. Es ist kein Sozialismus à la Moskau - das heißt also mit einer atheistischen, totalitären Ideologie verbunden. Es ist auch keine allgemeine kirchliche Soziallehre, die ja vor allen Dingen ein Appell ist an ethische Werte der Gesellschaft gegenüber. Nein, religiöser Sozialismus meint, ein Gemeinschaftswerk, wo eben dann die Besitzunterschiede nicht krass werden, die Klassen nicht auseinanderklaffen - und zwar verpflichtet einem Ideal der Tora. Die Tora Israels gibt ja sehr präzise Vorschriften an dafür, wie Landwirtschaft betrieben wird, wie Besitzverhältnisse geregelt werden, wie auch Besitzunterschiede ausgeglichen werden sollen. Also ein religiös, biblisch gespeister Sozialismus - kann man es nennen. Das schien ihm die Aufgabe geradezu des Volkes Israel zu sein, also eine wirkliche Aufgabe. Zionismus war für ihn nicht jüdischer Nationalismus. Davon hat er sich immer wieder klar distanziert. Er sagt, einen Staat zu gründen, wie es hunderte anderer Staaten gibt, das ist nicht unsere Aufgabe, sondern wir müssen der Welt zeigen, dass man als Volk einem besonderen Ideal sich verpflichtet weiß.
Main: Eine weitere wichtige Entdeckung im Zusammenhang mit der von Buber erhofften Renaissance des Judentums ist der Chassidismus. Bei einem sozialistischen Kultur-Zionisten solcherlei spirituell-mystisches Denken anzutreffen, das erscheint ja erst einmal nicht ganz so naheliegend. Wie kam es zu dieser Entdeckung?
Kuschel: Ja - er nennt das mit einem ganz kühnen Wort, es geht um Verwirklichung Gottes unter irdisch-geschichtlichen Bedingungen. Man müsste präzisierend hinzufügen: um die Verwirklichung des Reiches Gottes. Gott will in gewisser Weise nicht nur von einer frommen Seele angebetet werden, sondern sein Wille soll konkret umgesetzt werden in den gesellschaftlich-geschichtlichen Voraussetzungen. Das sah er in diesen Quellen, die er neu erschloss aus der Tradition des Ost-Judentums. Diese ganze Theologie beruht ja auf der einen Grundüberzeugung: Alles, was existiert, existiert aus dem göttlichen Funken heraus. Also mit anderen Worten: Es spiegelt göttliche Energie wider. Sodass man auch in jedem, in den kleinsten Dingen, in den kleinsten Pflanzen und in Bäumen und im menschlichen Antlitz und auch in zwischenmenschlichen Vollzügen diese göttliche Energie spüren kann. Er sagt, man kann das eine Form von Mystik nennen. Gott ist in allen Weisen erschließbar. Aber noch besser sei die Kategorie "Präsenz Gottes", Gegenwärtigkeit Gottes, die ist in jedem Augenblick möglich. Da sehen Sie, dass das miteinander verknüpft ist. Gott, sozusagen die Präsenz Gottes, überall wahrnehmen und auch in Kontakt kommen können.
Main: Wenn Mystik, von der Sie eben auch gesprochen haben, wenn wir also davon ausgehen, dass er eine Mystik aus den chassidischen Traditionen heraus entwickelt hat, dann ist es aber keine, die auf Weltflucht zielt bei Buber.
Kuschel: Nein, das grenzt er scharf ab, etwa vom indischen Verständnis von Mystik, das ja eine meditative Innenschau meint. Der Mensch zieht sich ganz zurück, beobachtet seinen Atem, richtet den Blick nach innen, schaltet sich ganz ab von der Welt. Das ist Weltrückzug. Man muss das nicht notwendigerweise Weltflucht nennen - das ist schon ein negativer Ausdruck - aber Weltrückzug. Das meint Buber nicht. Sondern er meint, die Präsenz Gottes spüren, die göttliche Energie spüren überall hier und jetzt in der Welt. Also eine Mystik mit offenen Augen. Eine Mystik nicht jenseits der Welt, im Rückzug der Welt, sondern mit Weltoffenheit. Das meint er. Und das sieht er in den chassidischen Überlegungen auf Schritt und Tritt. Er hat ja hunderte von ihnen, in diesen kleinen, geradezu anekdotenhaften Prosastücken konstruiert, neu gestaltet und auf diese Weise eine Tradition erschlossen, die im Westen völlig ungekannt war und in jüdischen Kreisen im Westen verpönt war. Das war ja primitives osteuropäisches Judentum. Seine weltgeschichtliche Bedeutung - wenn man so reden will - beruht auch darin, dass er diese Tradition des Judentums neu zum Leuchten brachte, ja geradezu sagte. Das ist für mich authentisches Judentum, authentischer jüdischer Geist, denn das ist ja alles nicht beeinflusst vom Christentum oder von anderen äußeren Einflüssen. Das ist ganz genuin aus den Quellen des Judentums selber herausgewachsen.
"Buber war der Meinung, dass Rituale den Weg zu Gott versperren"
Main: Wie passt aber das zusammen, dass bei Buber immer wieder davon die Rede ist, dass er eine 'religiöse Abstinenz' gepflegt habe?
Kuschel: Ja, damit ist gemeint, das er eben an keinen Kult, an keinem religiösen Ritus teilgenommen hat. Glaubwürdige Zeugen berichten, dass er nie an einem synagogalen Gottesdienst teilgenommen hat. Bestenfalls in Jerusalem hat er mal - gewissermaßen fast heimlich - eine chassidische Gebetsstube aufgesucht, weil ihn das an seine Kindheit erinnerte. Ja, Buber war in der Tat der Meinung, dass diese religiösen Rituale - Gottesdienst, dass diese religiösen Formen - Gebote und Verbote, eine große Gefahr in sich bergen. Nämlich, dass sie den Weg des direkten Kontaktes zu Gott verbauen, versperren. Und da war er im Geiste des Propheten auch kult-kritisch und gesetzes-kritisch - aber um des lebendigen Gottes willen. Nicht weil er irgendwelche religiösen Formen, die andere Menschen praktizieren, schlecht machen wollte oder sagte, darauf kommt es nicht an, sondern er wollte darauf hinweisen: Passt auf - jeder der sich an solche Riten klammert, der ist auch immer wieder in Gefahr, Gott zu verdinglichen, Gott mit diesen Riten und Verboten zu verwechseln, die lebendige Gottesbeziehung außen vor zu lassen.
Main: Kurz zum Schluss: Gibt es da womöglich eine starke Parallele des Martin Buber zu Jesus von Nazareth?
Kuschel: Er war jedenfalls der Meinung, dass er diesen Glauben, den er erschließen wollte, nämlich Glauben als unbedingtes Vertrauen auf den unverfügbar bleibenden, auf den verhüllt bleibenden Gott, der sich einerseits offenbart und dann doch wieder entzieht, der in diesem Sinne nicht greifbar, verfügbar ist, dass er diesen Glauben bei Jesus von Nazareth gefunden hat - in den Gleichnissen, in der Verkündigung der Reich-Gottes-Botschaft. In diesem Sinne sah er Jesus auf seiner Seite. Ja. Auf der Seite authentischer jüdischer Gläubigkeit, die er wieder zum Leuchten bringen wollte. Und das muss ja einen Christen im höchsten Maße interessieren, was Jesus selber gewollt hat. Denn alles andere, was dann später nach Ostern, über ihn gesagt wurde - an Glaubensbekenntnissen und so weiter, muss sich ja an dieser authentischen Botschaft relativieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Professor Karl-Josef Kuschel ist katholischer Theologe; er ist ein Küng-Schüler. Zum 50. Todestag von Martin Buber am 13. Juni 1965 hat Kuschel ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Martin Buber - seine Herausforderung an das Christentum".