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Martin-Gropius-Bau
Tino Sehgals immaterielle Werke

Die Hauptarbeit Tino Sehgals im Gropius-Bau erinnere an eine Bühnenarbeit. Hinzu kommen psychodelisch klingende Choreinlagen oder Choreografien, wie Zitate aus der Welt von Psychodramen und Familienaufstellungen. Bei aller Kritik sei Sehgals Arbeit immer wieder ein Spektakel, rezensiert Carsten Probst.

Von Carsten Probst |
    Der deutsche Künstler Tino Sehgal posiert am 01.06.2013 in Venedig (Italien) mit dem Goldenen Löwen, dem "Golden Lion" für den besten Künstler in der Internationalen Ausstellung.
    Erstmals ist Tino Sehgals Arbeit umfassend in Berlin zu sehen. (picture alliance / dpa / Felix Hörhager)
    Tino Sehgals Karriere ist ein Produkt von Kuratoren und Museen. Was banal klingt, gilt in diesem Fall ganz besonders, weil Sehgal selbst einräumt, überrascht worden zu sein vom Zuspruch für seine Arbeit innerhalb der Welt der Gegenwartskunst. Seine ursprünglichen Inspirationen erhielt er Anfang der neunziger Jahre im Berliner Nachwendetheater. Er berichtet von Aufführungen Einar Schleefs am Deutschen Theater oder Berliner Ensemble oder von Christoph Schlingensiefs Performances an der Volksbühne. Das war damals für ihn "das Stärkste, was man so machen kann". Die Annäherung von Theater und Bildender Kunst wurde in dieser Zeit zwar nicht begründet, aber sie erwies sich eben als sehr geschichtsträchtig in einer Zeit, in der der Mauerfall für einen bestimmten Zeitraum das verbreitete Gefühl erzeugte, historische Entwicklungen ereigneten sich schneller und so alltäglich, dass kaum ein Medium wahrhaft hinterherkommt. Was sind die Fotos und Filmaufnahmen aus diesen Jahren von den Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor im Vergleich mit dem Erlebnis dieser Tage selbst? Dass Sehgal bis heute keine Aufnahmen und Bilder von seinen Arbeiten zulässt, hat im Wesentlichen damit zu tun – Bilder ersetzen keine Teilhabe. Um echte Teilhabe, das Erleben des flüchtigen Hier und Jetzt aber dreht sich alles in Sehgals Arbeiten.
    Dass er darüber hinaus auch keinerlei Ausstellungsplakate, Einladungen und Kataloge für seine Ausstellungen drucken lässt, begründet er hingegen mit seiner Jugend im schwäbischen Sindelfingen, im Schatten der Industrieareale von Hewlett Packard, IBM und Daimler Benz. Das habe ihm eine gewisse Scheu vor der Welt der industriellen Produktion eingegeben, mithin auch vor den Produktionsmethoden der Kulturindustrie. Sein Studium von Volkswirtschaft und Tanz betrachtet er als logische Konsequenz dieser Jugend.
    Milde Form der Institutionenkritik
    Wenn einem bei Sehgals Aktionen also plötzlich einige Darsteller entgegenlaufen und "Oh, this is so contemporary" skandieren, oder wenn einem bei einem Museumsbesuch die Saalaufsichten "This is propaganda" zu singen beginnen und mit dem Ausstellungsbesucher über Kunst und Leben diskutieren wollen, geht es eigentlich erst einmal darum, dass sich künstlerische Arbeit den gewöhnlichen ökonomischen Verwertungszusammenhängen bei Sehgal entziehen soll. Kein Bild, keine Wiederholung, alles live, hier und jetzt, wie im Theater, aber ohne Bühne. Stattdessen "Situationen", wie Sehgal sie nennt, die den Betrachter aus der Betrachterrolle herausholen, ihn vielmehr mittendrin sein lassen sollen, zwischen strenger Choreografie und spontaner Improvisation. So hat es Sehgal immer gehalten, und so ist es auch bei dieser großen Einzelschau im Berliner Martin-Gropius-Bau.
    Die Hauptarbeit im zentralen Lichthof des Martin Gropius Baus erinnert in der Tat eher an eine Bühnenarbeit. Zuerst wenige, dann immer mehr Beteiligte beginnen eine Art situationistischen Gesang, wandern umher, es klingt ein wenig wie eine psychedelische Choreinlage von Philipp Glass oder Steve Reich aus den 1970er-Jahren. Die kleinen Choreografien in den Sälen drum herum muten an wie Zitate aus der Welt von Psychodrama und Familienaufstellung oder bei den Living Sculptures aus dem London der 1960er. Sehgal führt sicherlich viele Einflüsse zusammen zu etwas ganz Eigenem – dass er damit so sehr reüssiert gerade im Bereich der Gegenwartskunst, mag wohl daran liegen, dass seine Arbeit sich bestens für eine milde Form der Institutionenkritik eignet, die Hinterfragung von Galerien und Museen in ihrer heutigen sozialen Funktion. Das Schöne daran ist, dass bei aller Kritik seine Arbeiten trotzdem immer noch ein nettes Spektakel sind.