Christus am Kreuz – eine heroische Heldenfigur. Das Taufbecken getragen von Jesus, Maria und zwei Kindern. Streng, stämmig, ganz im Sinne der "deutschen" Familie. Und dazu ein SA-Mann. Am Holzrelief der Kanzel das Motiv der Bergpredigt – im Gefolge der Zuhörerschar ein Wehrmachtssoldat. Über all dem spannt sich ein gewaltiger Triumphbogen mit über 800 tonfarbenen Keramikkacheln. Christliche Motive finden sich darauf ebenso wie Sicheln, Ähren, Werkzeuge. Genauso auch Reichsadler, Köpfe mit SA-Mützen, Wehrmachtshelme. Die Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin Mariendorf ist ein Symbolort völkischer Gesinnung.
"Das Besondere an dieser Kirche ist hier doch der Umfang dieses kirchlichen Bildprogramms, die Bandbreite der einzelnen Motive. Also man findet hier eben die christliche Ikonografie, die umgeformt wurde, die von ihrer Ästhetik stark NS-spezifisch ist. All das und der Erhaltungszustand. Es ist ja wie in einem Labor erhalten", sagt die Kunsthistorikern Beate Rossié.
Wohl kein anderer Sakralbau zeigt so unvermittelt die Synthese aus völkischem Protestantismus und Nationalsozialismus, sagt sie. Gebaut wurde die Kirche zwischen 1933 und 1935. Allerdings reichen ihre Planungen ins Jahr 1929 zurück. Und so präsentiert sie sich noch heute in einem merkwürdigen Stilmix. Äußerlich wirkt das von Architekt und Kirchenbaurat Curt Steinberg entworfene Gotteshaus streng und wehrhaft, umkleidet mit erdfarbenen Kacheln. Das Kirchenschiff wiederum ist einem Kinosaal nachempfunden, mit weitem Rund, geschwungenen Emporen und einem zum Altar hin abfallenden Boden. Da aus Geldmangel mit dem Bau erst 1933 begonnen wurde, bekam sie dann jedoch eine Ausstattung mit nationalsozialistischem Bildprogramm.
Ein Einzelfall ist die Mariendorfer Kirche keineswegs. Bei ihren Recherchen zum Kirchenbau im Nationalsozialismus stieß Beate Rossié auf über 1.000 Kirchen, die nach 1933 entweder gebaut oder umgestaltet wurden. Mal mit markantem Westwerk, mal mit einem heldischen Christus, hier und da ein Hakenkreuz an der Wand. So ungebrochen wie in Berlin findet sich die nationalsozialistische Ikonografie heute jedoch nirgends. Das erfuhr auch Matthias Hoffmann-Tauschwitz. Der heutige Leiter des Kirchenbauamtes kam 1983 in die Mariendorfer Gemeinde.
"Ich war überrascht, wie unversehrt sie rüberkommt und wie unreflektiert sie genutzt wird. Und da war ich im ersten Moment in der Tat fassungslos", sagt Hoffmann-Tauschwitz.
Was passiert mit dem Innenraum?
Einmal im Monat versammelt sich eine kleine Schar an Gemeindemitgliedern zur Nagelkreuzandacht. Unter ihnen ist Karl-Heinz Labitzke, der 1953 hier in dieser Kirche mit ihrer ganzen Nazisymbolik konfirmiert wurde.
"Das hat eigentlich nie eine Rolle gespielt, ist auch meines Erachtens nie von der Kirchenleitung in irgendeiner Weise thematisiert worden", sagt Labitzke. "Meine Eltern gehörten auch zu dieser Gemeinde, aber auch das war kein Thema. Es war in unserer Gemeinde das Gotteshaus, in dem man sich versammelt hat. Meines Erachtens ist es also erst in der Öffentlichkeit thematisiert worden, als der Turm gewackelt hat."
Die Kirche war baufällig geworden, der Turm stark einsturzgefährdet. Zunächst war nicht einmal klar, ob der Bau zu halten sei. Im Jahr 2009 begann dann doch die Sanierung. Mittlerweile ist die äußere Hülle fertig. Doch wie geht es weiter? Was passiert mit dem Innenraum? Über die künftige Gestaltung der Martin-Luther-Gedächtniskirche wird auch mitten im Reformationsjahr leidenschaftlich gerungen. Mehr Flexibilität im Raum, das wünscht sich Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz:
"Man muss es aber so verändern, dass man dieses Bildprogramm der Deutschen Christen nicht völlig ausblendet. Aber man muss auch die Möglichkeit haben, Gottesdienste oder Veranstaltungen abzuhalten, ohne ständig auf diese Bilder zu gucken. Dazwischen muss es eine bauliche Lösung geben, die in einer transparenten Form einen Raum im Raum gestaltet."
"Diese Bilder predigen eben mit"
Geplant ist, die Kirche als einen Lernort in der Gedenklandschaft Berlins zu verankern. Eine entscheidende Frage ist dabei, inwieweit die Lutherkirche weiterhin im kirchlichen Alltag ihren Platz findet.
"Ich für meinen Teil könnte sagen, dass ich da so, wie es jetzt ist, keine Gottesdienste halten könnte als Pfarrerin", sagt Gardei. "Weil ich denke, wenn man da in dem Altarraum steht, dann predigen eben diese Bilder mit. Und das geht eigentlich nicht."
Für Probst Christian Stäblein sind Gottesdienste in der Lutherkirche auch künftig denkbar. Er sieht die Evangelische Kirche hier aber in besonderer Verantwortung:
"Eine ungebrochene und nicht immer wieder darauf hingewiesene Brechung mit dem, was dieser Raum an eigenen Bildern leider mitbringt, kann es nicht geben. Und deswegen kann Gottesdienst in diesem Raum nur in dieser Brechung und in diesem Verweischarakter auf die neue Tradition stattfinden."
"Man sollte den Raum nicht verfremden"
Derzeit wird eine bauliche Umgestaltung des Kirchenschiffs favorisiert. Eine stärkere Abgrenzung zum Altarraum, ein ebener Boden, entfernte Kirchenbänke. Klaus Wirbel, der lange Zeit im Gemeindekirchenrat war, kann der Idee durchaus etwas abgewinnen:
"Also wenn man hier Erinnerungskultur betreiben will, dann muss auch der Innenraum verändert werden, wobei ich mit Veränderung meine, dass man flexibel sein muss. Sie soll auf jeden Fall sakraler Ort bleiben."
Doch zu diesem Konzept gibt es auch kritische Stimmen. Nicht nur der Denkmalschutz will bedacht werden. Kirchenbaurat Hoffmann-Tauschwitz hat auch inhaltliche Einwände:
"Das finde ich, ehrlich gesagt, eine Art des Sich-leicht-Machens. Ich würde eher denken, es ist richtig, diesen Altarraum in seiner Mächtigkeit, in seiner Fragwürdigkeit, teilweise auch in seiner Lächerlichkeit erfahrbar zu lassen, ohne dass man sich über ihn erhebt und ihn einfach kommentiert. Man sollte den Raum nicht verfremden. Dieser Eingriff, der die Kirche multifunktional macht, macht sie im Grunde auch alltäglich. Macht sie ein Stück weit so allgemein, dass sie nicht nur ihren Schrecken verliert, sondern es wird auch ein bisschen trivial."
Orgelspiel zur Verkündung der Rassengesetze
Die imposante Orgel hat schon viele Konzertbesucher angelockt. Doch das Instrument wurde von den Nazis für ganz eigene Zwecke eingesetzt. Die Orgel der Firma Walker stand 1935 auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Hinter einem Vorhang, gespielt vom damaligen Thomaskantor Günther Ramin, mit Lautsprecher und großem Orchester - zur Verkündung der Nürnberger Rassengesetze. Anschließend fand sie ihren Platz in der Mariendorfer Lutherkirche. Friedrich Wilhelm Schulze ist seit 19 Jahren Kantor in der Gemeinde.
"Ich kann nicht permanent, wenn ich einer Predigt lausche oder wenn ich mit meinem Orgelspiel beschäftigt bin, über die Symbolik der Kirche nachdenken", sagt Schulze. "In dem Moment bin ich Teilnehmer oder Akteur eines Gottesdienstes und habe mich darum zu kümmern."
Das Gemeindeleben in Berlin Mariendorf findet auch in der alten Dorfkirche statt. Und doch sehen viele ihren Platz nach wie vor in der Lutherkirche. So wie der aus Westfalen stammende Heinrich Becker:
"Alle, die mit der Kirche tief verwurzelt sind, betrachten es als ihre Kirche. Heute wohl wissend, was das alles mal bedeutet hat. Aber das trennt man und muss das auch trennen, sonst könnte man das ja kaum aushalten."