Archiv

Martin Pollack
Der Archäologe des Völkermordes

Seine Bücher sind Dokumentation und Literatur. Martin Pollack, Sohn des Gestapo-Chefs von Linz, nimmt sich in seinem Buch "Kontaminierte Landschaften" der jüngsten Vergangenheit seiner Heimat und des östlichen Mitteleuropas an. Der hartnäckige Rechercheur lässt die Leichen, die vergessen werden sollen, nicht ruhen.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Martin Pollack lebt in einem idyllischen kleinen Anwesen im Südburgenland. Hier schreibt der 70-Jährige seine Bücher und Essays, hier, zwischen Schlehdornhecken und alten Zwetschgenbäumen, geht er, so oft es seine Zeit erlaubt, der geliebten Gartenarbeit nach. Eines Tages machte der Schriftsteller eine bizarre Entdeckung:
    "Das war in meinem heiß geliebten Gemüsegarten, und da hat ein Stück Metall aus dem Boden geschaut. Ich habe es herausgezogen, und das entpuppte sich dann als Essgabel, als ganz normale Essgabel, wie es schien. Ich habe sie geputzt, zu meinem Erstaunen wies sie nicht die geringste Spur von Rost auf. Dann entdeckte ich auf der Rückseite einen Stempel: Es war ein Stempel der Waffen-SS."
    Die Erde birgt und verbirgt
    Wo immer man in Europa zu graben beginnt, so kommt es Pollack zuweilen vor, stößt man auf die makabren Überreste vergangener Verbrechen. SS-Gabeln aus Nirosta-Stahl sind da vielleicht noch das Harmloseste. Martin Pollack, Sohn des einstigen Gestapo-Chefs von Linz, Martin Pollack, interessiert sich seit jeher für die Archäologie des Völkermords, für das Verborgene, Verheimlichte, Versteckte, für all das, was in Europas Nachkriegsgesellschaften verschwiegen und vertuscht werden sollte. Er neige dazu, bekennt der Schriftsteller, schönen Landschaften grundsätzlich zu misstrauen.
    "Es ist eine Eigenheit unserer Regionen – also Mittel- und Ostmitteleuropas -, dass hier in den letzten 100 Jahren sehr viel passiert ist, was sich auch in der Landschaft niedergeschlagen hat. Damit meine ich, dass hier viele Morde und Massenmorde passiert sind, dass man die Leichen der Opfer verscharrt hat, dass man versucht hat, Erde darüber zu decken und buchstäblich Gras darüber wachsen zu lassen. Das findet man sehr, sehr häufig: in der Ukraine, in Polen, in Österreich, in Slowenien. Wo immer man steht und geht, kann man so etwas finden."
    "Kontaminierte Landschaften" nennt Pollack solche Zonen früherer Untaten. Und so lässt sich sein Buch auch als bedrückender Reiseführer durch die "Bloodlands" Ost- und Ostmitteleuropas lesen:
    "Wenn wir heute über eine Gegend, eine Landschaft schreiben, erscheint es unerlässlich, stets auch die Vergangenheit in den Blick zu nehmen. Das stellt uns vor eine schwierige Aufgabe. Wir wollen versuchen, herauszufinden, was hier vor siebzig, achtzig oder auch hundert Jahren geschehen ist, auch wenn wir bei flüchtigem Hinsehen, bei der unbeschwerten Durchreise, in gelöster Urlaubsstimmung, nichts wahrnehmen, was unser Misstrauen erregt. Trotzdem müssen wir uns stets die Frage stellen: Hat diese Landschaft etwas zu verbergen? Ist sie tatsächlich so unschuldig, so idyllisch, wie es den Anschein hat? Was finden wir, wenn wir hier zu graben beginnen?"
    Ja, was finden wir da? In der Regel sind es Leichen, Berge von Leichen, eilig verscharrt oder von kundigen Händen bei Nacht und Nebel in Massengräber geschaufelt. Katyn, Bełżec und Rohatyn, das sind solche Orte des Verbrechens, die Martin Pollack als ebenso hartnäckiger wie oft lästiger Rechercheur aufgesucht hat. Auch in den slowenischen Karst und die Bergwerksstollen von Huda Jama führen ihn seine essayistischen Erkundungsfahrten: Hier, in einem stillgelegten Schacht, quoll den Braunkohle-Bergleuten im Juli 2008 eine "undefinierbare weißliche Masse“ entgegen, wie Pollack schreibt, durchsetzt mit Haaren und Nägeln, ein „weit in den Stollen zurückreichender Berg von Leichen", teilweise mumifiziert und von einem weißlichen Schimmel überzogen: Das waren die jahrzehntelang hinter einer hastig hochgezogenen Stahlbeton-Mauer verborgenen Überreste von mehreren hundert Slowenen und Kroaten, die während des Kriegs mit den Nazis kollaboriert hatten und im Frühsommer 45 von Titos Partisanen ermordet worden waren.
    Die Vergangenheit nicht ruhen lassen
    "Manches weist darauf hin, dass man einige bei lebendigem Leib eingemauert hatte", schreibt Pollack. Die heutigen Bewohner der "kontaminierten Landschaften" sind in der Regel nicht eben begeistert, wenn man sich für die vergangenen Untaten zu interessieren beginnt. Diese Erfahrung hat Martin Pollack immer wieder gemacht:
    "Die Menschen finden es empörend, unpassend, geschmacklos, dass man vor ihrer Haustür, in ihrem Garten, auf ihrer Wiese, in ihrem Wald zu graben beginnt, um etwas ans Tageslicht zu holen, was ihrer Ansicht nach besser unter der Erde bleiben sollte. Tote und ihre Geschichten. Die passen nicht in die Gegend."
    Pollack erinnert sich an den Besitzer eines Eissalons in Oświęcim/Auschwitz, mit dem er eines Tages ins Plaudern kam: "Ich fragte ihn, wie es sich als Eisverkäufer in einer Stadt mit dieser Vergangenheit lebe. Er war irritiert. Er könne das nicht mehr hören, Auschwitz, Auschwitz ... Er wolle hier sein Eis verkaufen, in Oświęcim, nicht in Auschwitz, Stracciatella, Vanille, Himbeer, selbst gemacht, es schmecke vorzüglich, ob ich es probieren wolle? ... Er sei in Oświęcim zu Hause, er müsse hier seinen Lebensunterhalt bestreiten, seine Familie erhalten, mit dem Verkauf von Eis und Kaffee, alles andere interessiere ihn nicht."
    Ist natürlich eine Position, eine häufig vertretene dazu. Muss man denn wirklich immerfort in alten Wunden wühlen, kann man die Toten nicht einfach ruhen, die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein lassen? Martin Pollack wiegt den Kopf.
    "Das ist für mich zumindest keine sehr gute Option. Meine Erfahrung zeigt – und das ist nicht nur meine Erfahrung –, dass Dinge, die man versucht zu verbergen, irgendwann zum Vorschein kommen. Da halte ich es für besser, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen."
    Historische Kontamination von Weinlandschaften
    Um das zu tun, muss Martin Pollack gar nicht in die Ferne schweifen. Auch in seiner burgenländischen Wahlheimat finden sich "kontaminierte Landschaften" sonder Zahl, in den Weinorten Rechnitz und Deutsch-Schützen zum Beispiel, bekannt für die süffigen Rotweine, die hier gekeltert werden. Sowohl in Rechnitz als auch in Deutsch-Schützen fanden in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs bestialische Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern statt. Insgesamt sollen in den letzten Kriegswochen allein in Ost-Österreich 30.000 ungarische Juden ermordet worden sein, zum Teil unter reger Beteiligung der Zivilbevölkerung.
    In Rechnitz zum Beispiel veranstaltete die örtliche Nazi-Prominenz – vom Bürgermeister bis zur BDM-Führerin - in der Nacht auf den Palmsonntag 1945 im Rahmen eines Schlossfests ein geselliges Judenabschießen: 200 ungarische Zwangsarbeiter, zum Bau des sogenannten Südostwalls abkommandiert, wurden, nackt am Rand einer Grube knieend oder hockend, mittels Kopfschuss zu Tode befördert. Bis heute, konstatiert Martin Pollack in seinem Buch, konnte das Massengrab von Rechnitz nicht gefunden werden, obwohl es im Ort zahlreiche Menschen geben muss, die genau Bescheid darüber wissen, wo man die 200 ungarischen Juden vor 69 Jahren verscharrt hat. In manchen der "kontaminierten Landschaften", die Martin Pollack aufgesucht hat, gilt eben das Gesetz des Schweigens. Zum Teil bis heute.
    Martin Pollack: Kontaminierte Landschaften. Unruhe bewahren. Residenz Verlag, 120 Seiten, 17,90 Euro; ISBN: 978-3-701-71621-0