Doris Simon: Was passiert, wenn Sichergeglaubtes zerbricht, wenn Strukturen anfangen, sich aufzulösen? Schlimm genug, wenn man so etwas mal privat erlebt. Seit diesem Sommer wissen wir auch, wie es sich anfühlt, wenn ein ganzer Kontinent zweifelt und an den Rändern zerfranst. Doktor Martin Roth war jahrelang Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, bevor er nach London ging als Direktor des Victoria and Albert Museums - gefeiert unter anderem für die legendäre David-Bowie-Ausstellung. Dann kam der Brexit und alles wurde anders. Guten Morgen nach Berlin!
Martin Roth: Guten Morgen, Frau Simon!
Simon: Martin Roth, als Sie das Ergebnis hörten, Brexit, was ging in Ihnen vor?
Roth: Das war nicht so überraschend in dieser Situation. Also vielleicht in dieser Nacht oder an dem Morgen in einer gewissen Weise dann schon, aber wir waren doch alle in irgendeiner Form darauf vorbereitet durch viele Gespräche, durch viele Diskussionen, durch viele öffentlichen Statements, durch das Lügen von denjenigen, die unbedingt den Brexit haben wollten. Also insofern, wenn man vor allen Dingen im Rückblick sagt, dass sei für viele so schrecklich überraschend gewesen, das war es eigentlich gar nicht. Aber der Gedanke bei mir saß fest, also der Entschluss war vorher schon eigentlich klar, beinah ein halbes Jahr vorher, dass wenn es dazu kommen würde, was ich nie gehofft habe, aber immer für möglich hielt, dass ich dann gehe. Und das habe ich getan.
Simon: Das heißt, Sie haben sich vorher damit beschäftigt, sich eingestellt. Trotzdem, dieser Schlag, sage ich mal, in die Magengrube, der vielleicht bei Ihnen nicht am Tag danach kam – Sie hatten sich damit beschäftigt –, spüren Sie die Auswirkungen heute noch?
Roth: Das Schlimme ist – und das nimmt man dann natürlich auch persönlich, selbst wenn es eine, wenn Sie so wollen, reine politische Entscheidung ist –, dass Sie einfach Erfahrungen haben, Sie wissen, dass diese Entscheidung in eine Situation führt, die für uns alle, die Europa schätzen, die Europa wichtig finden, die Europa für einen Friedensgaranten halten, dass das, wenn das nicht sogar unmöglich wird, aber dann zumindest extrem erschwert wird, diesen Gedanken weiterzuführen. Und der ist natürlich, wenn Sie so wollen, ein rein politischer, aber doch natürlich auch ein ganz persönlicher. Weil mein ganzes Leben - also zumindest mein aktives politisches und berufliches Leben - war immer von Europa beeinflusst. Ich habe in Paris gelebt und gearbeitet, war lange Zeit wieder im Ausland tätig durch die Ausstellung, die ich gemacht habe, die Museumskooperationen. Also insofern, natürlich hat es eine absolut politische Auswirkung auf das Alltagsleben.
"Die Art, wie ausgetreten worden ist, ist das Tragische am Brexit"
Simon: Von außen betrachtet könnte man ja auch sagen, der Wunsch, sich abzusondern, anders zu sein, sich als Insel zu betrachten, der ist ja legendär in England. Was ist daran jetzt nicht konsequent, zu sagen, wir gehen raus aus Europa?
Roth: Nein, das Tragische ist ja, dass man da jetzt konsequent ist. Ich glaube, vieles, was sie in England, aber vor allen Dingen in London erleben, funktioniert auf einem ganz anderen Niveau als wir das jemals in Deutschland oder in Frankreich oder sonst wo erlebt haben. Damit meine ich jetzt nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders. Also insofern bleibt dann dem England, wie wir es jetzt erlebt haben, irgendwas konsequent. Nämlich zu sagen, wenn ihr nicht mit uns wollt, wenn wir nicht richtig mit euch wollen, dann gehen wir doch am besten auseinander. Nur die Art und Weise, wie da ausgetreten worden ist, wie es debattiert worden ist, wann es passiert ist, mit welchen Lügen, auch mit welcher Polemik und mit welcher Propaganda und auch mit welchen Wendehälsen wie Boris Johnson, das ist natürlich das Tragische daran. Wir alle haben nicht nur Weniges an Europa auszusetzen. Das Schlimme ist, dass man einfach dann sozusagen die Scheidung beantragt und dann einfach verschwindet. Das ist das Üble daran.
Simon: Herr Roth, ist für Sie England damit so ein bisschen das Symptom einer neueren europäischen Krankheit "Allein geht es uns besser"?
Roth: Na ja, es ist irgendwie … Ja, ob es eine Krankheit ist, das ist eher eine neueuropäische Borniertheit. Also die Frage ist halt auch, was bedeutet denn das für uns alle. Also ich bin demnächst 62. Ich kam mir eigentlich vor wie jemand, der immer so am Puls der Zeit gelebt hat. Das ist, glaube ich, zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich den Eindruck habe, da draußen passiert mainstreammäßig also erstens, was ich nicht unterschreiben kann, und zweitens auch nicht, was ich nachvollziehen kann. Und zwar, weil es mit einer Geschwindigkeit passiert, die mir persönlich den Eindruck vermittelt, dass ich plötzlich sozusagen neben der Spur lebe in Europa. Neben der Spur, die da heißt, wir brauchen ein friedliches Europa, wir wollen ein Europa haben, das sicher ist für unsere Kinder und Enkelkinder. Wir haben ein Europa, das auf Werte aufgebaut ist wie Toleranz, Solidarität, wie Nächstenliebe und vieles andere mehr. Also wirklich durchaus klassich christliche Werte. Und plötzlich ignorieren wir das alles. Mir kommt es vor wie über Nacht. Was nicht stimmt, wenn man an Le Pen denkt, da passiert es schon lange, aber dass dieses alles sozusagen sich plötzlich breit macht und als Zukunftsprogramm breit macht, ist, was ich schlichtweg nicht nachvollziehen kann, dass das sozusagen eine Zukunft sein soll für unsere Enkelkinder, das will ich einfach nicht akzeptieren.
"Wir leben in einem Land, in dem den meisten Menschen es extrem gut geht"
Simon: Herr Roth, ich möchte noch mal darauf kommen, dass Sie gerade gesagt haben, hier entsteht etwas, hier passier etwas in irrer Geschwindigkeit, was Sie eben teilweise nicht verstehen, teilweise nicht nachvollziehen können. Sie natürlich als Kunstmanager, als Kunstbeflissener, immer unterwegs gewesen, haben überhaupt kein Problem mit Internationalem. Viele Menschen, hat man inzwischen den Eindruck, die erleben das Internationale, sagen wir auch ruhig Globalisierung, als einen Kontrollverlust, als eine Bedrohung. Ist es das nicht auch ein bisschen tatsächlich, was viele andere übersehen haben?
Roth: Also ich glaube, da müssen wir was zu meiner Person zurechtrücken, weil ich oft so dargestellt werde, wie Sie es auch gerade darstellen: Also erstens sage ich immer dazu, dass ich wirklich nicht sozusagen in das reingeboren worden bin, in dem ich lebe, sondern ich komme aus recht einfachen Verhältnissen. Ich habe das alles gelernt wertzuschätzen, was ich erleben durfte in meinem Leben, in meinem Arbeitsleben. Ich kann mich in vielen Ländern dieser Welt relativ frei und sicher bewegen, ich habe Freunde überall, da haben Sie vollkommen recht. Und hinter das möchte ich auch nicht zurück. Nicht ich persönlich, sondern ich möchte auch noch haben, dass meine Kinder Freunde in China und Chile und Kanada und was weiß ich wo überall haben. So, wenn man das jetzt voraussetzt, dass das ein hohes Gut ist, dann muss ich sagen, stimmt, in der Tat, nicht alle waren daran beteiligt oder sind daran beteiligt, aber jeder hat Chancen, solches oder ähnliches zu machen, viel mehr, als wir das jemals in der Vergangenheit hatten. Meine Kollegen, egal wo ich bin, wirklich egal, wo ich bin, können mir einfach nicht glauben, wenn ich bei einem Abendessen erzähle, dass in Deutschland Erziehung und Bildung kostenfrei ist. Im Prinzip kann man bis zur Promotion leben, ohne dass man irgendwelche Gebühren bezahlen muss. Das ist ein hohes Gut. Ich kenne Leute, die haben zwei, drei Jobs nebeneinander her, bloß damit ihre Kinder auf eine anständige Schule gehen. Und ich rede von England, ich rede von USA. Wir haben ein Gesundheitssystem, das so vorbildlich ist, da gibt's kein besseres. Wir haben eine relativ niedrige unemployment rate, also Arbeitslosenrate und so weiter und so fort. Wir leben in einem Land, in dem den meisten Menschen es extrem gut geht, und wenn es ihnen nicht extrem gut geht, dann sollen sie … oder wenn sie glauben, dass es ihnen nicht extrem gut geht, dann sollen sie mal bitte das vergleichen mit anderen Ländern, auch in Europa.
"Länderklassensystem innerhalb Europas"
Simon: Das hilft vielleicht demjenigen, der gerade in einer Situation ist, nicht so sehr, aber ich schließe mal die Frage dran, ist denn aus Ihrer Sicht Europa, und aus Ihrer Lebenserfahrung, eine Geschichte, die nur bei guter Konjunktur funktioniert?
Roth: Na ja, das wäre das Tragische daran. Also insofern finde ich vieles, was passiert ist, auch mit Spanien und Griechenland in den letzten Jahren, muss man ja mittlerweile sagen, war vielleicht auch nicht unbedingt ein positives Bild, wenn es darum geht, ein Europa der Solidarität zu zeigen. Also man hatte schon den Eindruck, dass es ein Klassensystem quasi gibt, ein Länderklassensystem innerhalb Europas, und dass das vielleicht auch dazu geführt hat, dass der Bruch immer näher kam oder näher kommen konnte. Mag auch der Fall sein, also in beiderlei Richtung, dass es jetzt Leute gibt, die umso mehr für dieses Solidaritätssystem eintreten und andere, die einfach vollkommen daran zweifeln. Das mag auch ein Fehler gewesen sein, dass Europa so schnell gewachsen ist, aber was wäre denn die Alternative gewesen? Dass wir einen Korridor haben zwischen ehemaligem Ostblock und dem Westen, und das ist sozusagen ein No Man’s Land der Wirtschaft? Das kann man sich nicht mal vorstellen, nicht mal theoretisch-politisch vorstellen.
Simon: Sie sind ja aufgewachsen in einer Zeit, als noch ganz große Hoffnung – wahrscheinlich Sie auch – in ein gemeinsames Europa gesetzt wurde, in Ausbau. Haben Sie die noch oder haben Sie überhaupt nur den Wunsch, dass es irgendwie noch zusammenhält?
Roth: Die Frage ist ganz schwierig zu beantworten, vor allen Dingen in einer Zeit, in der die Bedrohung für uns alle noch zusätzlich ist. Es wird ja unendlich viel vermischt momentan. Also ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Journalisten und Kollegen von Ihnen, von der BBC, der zu mir sagte, es gibt einfach zu viele Leute in England, die glauben, sie würden ihren ungeliebten Pakistaninachbarn durch Brexit los werden und vergessen dabei, dass der schon länger einen englischen Passport hat als sie selber. Sehen Sie, wir haben eine Gesellschaft, die es zu schützen gilt, und die offene Gesellschaft wird in der Tat bedroht, und die gilt es auf alle Fälle, wie auch immer, zu verteidigen. Ob das dann für ganz Europa der Fall ist oder nicht, das werden wir sehen, aber natürlich glaube ich und hoffe ich, dass dieses Europa in irgendeiner Form weiter zusammenhält, weil es einfach ein Garant für Frieden ist. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schnell wir in Hass und Missgunst verfallen, wenn wir wieder das alte Grenzdenken haben. Dazu kommt aber auch noch, dass die Rechte, die Ultrarechte doch in bester Form zusammenarbeitet. Marine Le Pen und Wilders und Polen und Ungarn und so weiter und so fort. Also insofern wird sozusagen Europa auf der einen Seite kritisiert, und auf der anderen Seite baut sich momentan ein extrem rechtslastiges Europa auf.
"Bitte verteidigt die offene Gesellschaft"
Simon: Haben Sie denn den Eindruck, dass die Politiker die Verantwortung tragen in den europäischen Mitgliedsstaaten, dass die dem aktiv etwas entgegenzusetzen haben?
Roth: Also mein Problem, das ich mit Ihrer Frage habe, aber mit dem Problem generell, ist, dass wir vielleicht immer alle den Fehler gemacht haben, es den Politikern zu überlassen. Also momentan würden Sie mir sozusagen noch jede Zeit geben, wenn ich dürfte, einen Vortrag halten, dann würde ich wahrscheinlich ein Plädoyer dafür halten, zu sagen, bittet verteidigt die offene Gesellschaft, bitte gehen Sie wählen bei den nächsten Wahlen, bitte wählen Sie, wenn Sie so wollen, egal was, aber bitte wählen Sie eine demokratische Partei oder eine Partei, die sich für demokratische Ziele einsetzt. Bitte setzen Sie sich in Ihrem Leben dafür ein. Jeder hat ein Alltagsleben, in dem er sich stark machen kann für das, was offene Gesellschaft bedeutet, aber eben nicht darauf zu warten, dass die Regierungen etwas für uns tun, sondern dass wir versuchen, die Politik zu unterstützen in diesen schwierigen Zeiten. Wir müssen aber auch vorsichtig sein, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Der Alltag in Europa sieht einfach anders aus. Unsere Unternehmen sind international tätig. Wer für ein großes deutsches Unternehmen arbeitet, hat die Chance, in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern zu arbeiten. Unser Bildungssystem sieht vor, dieses Erasmus-Programme zum Beispiel, dass wir in verschiedenen Orten in Europa studieren können und so weiter. Also wir sollten das auch wertschätzen, was wir haben.
Simon: Haben Sie einen guten Vorsatz für 2017?
Roth: Für mich ganz persönlich ja: Mich so stark, wie ich es irgend nur kann, persönlich, politisch zu engagieren, also so ähnlich, wie ich es vorhin gesagt habe, nicht als Politiker, sondern mich einzusetzen. Das ist nicht einfach nach mehr als 30 Jahren sehr aktiv in einem Job, in einem Beruf, den ich immer auch als Berufung empfunden habe, plötzlich zu sagen, nein, ich habe keine Visitenkarte, weil ich arbeite nicht als der und der oder sich nicht zu definieren über irgendwelche Titel oder sonst was. Ich habe immer gesagt, dass ich mich nie über Titel definieren wollte, und jetzt bin ich in der Phase, in der ich das tun muss. Und in gewisser Weise genieße ich das auch. Also mir geht es sozusagen um das Inhaltliche in meinem zukünftigen Leben und nicht nur um die Form und das Management.
Simon: Martin Roth war das, ehemaliger Direktor des Victoria and Albert Museums in London und designierter Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen. Herr Roth, vielen Dank!
Roth: Vielen Dank, Frau Simon!
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