Über die schwarze Rückwand der Bühne läuft ein Seil, nicht straff gespannt, sondern durchhängend, einen weiten Bogen beschreibend. Mehr als diese minimale architektonische Intervention braucht Ausstatter Keso Dekker nicht, um das Schwarz des Theaters zu dynamisieren, zu beleben, und doch ganz im Abstrakten zu bleiben. Im Skizzieren, im Andeuten, im Erzeugen einer Spannung, eines Bezugs zwischen Raum und Bewegung ist Keso Dekker groß. Ein simples Seil verwandelt eine riesige tote schwarze Wand in ein Werk der Bildenden Kunst. Da es sich aber um kein Museum, sondern ein Theater handelt, erzeugt das Seil noch ganz andere atmosphärische Veränderungen. Erinnert es an Zirkus? So wie Martin Schläpfer zu Beginn des Stücks einen Stuhl hinter sich her auf die Bühne schleift, fast finster in seiner Entschlossenheit, keinen Widerstand des Materials duldend, weiß man, das kann kein Clown sein, das hier wird nicht lustig. Schläpfer stellt den Stuhl ab, setzt sich, stützt sein Kinn in die Hände und starrt auf die leere Fläche vor ihm, aber eigentlich in sich hinein. Und da wird es sofort klar. Keso Dekkers Seil bedeutet nur Arbeit, anstrengende, mühsame, meistenteils einsame Arbeit, körperlich bis zur Schinderei.
Allein mit der Musik, so zeigt Hans van Manens Stück „Alltag" den ehemaligen klassischen Solisten Martin Schläpfer. Der Alltag des Ballettdirektors, der er jetzt ist, birgt die gleiche Einsamkeit, umgeben von 48 Tänzern, die seine Aufmerksamkeit, seine Beachtung verlangen, die Rollen brauchen, Auftritte, Physiotherapie, Verträge. Und jetzt, da Martin Schläpfer noch einmal auf die Bühne zurückkehren will, tut Hans van Manen etwas sehr Überraschendes, aber sehr Einleuchtendes. Sein Stück porträtiert Schläpfer auf dem Stuhl als einen, der zwischen allen Stühlen sitzt, zwischen allen Funktionen hin- und her wechseln muss. Einen, der sich zurücksehnt manchmal, im Alter von 45 Jahren, nach der Unzerrissenheit des Tänzerlebens, danach, nur für seine physische Form, seine Konzentration, seine Hingabe verantwortlich zu sein, nicht aber für das große Ganze. Der bedauert, wie sehr stattdessen manchmal das An-Alles-Denken-Müssen dem Wunsch nach Versenkung in die choreografische Arbeit entgegensteht. Wenn sich nur die berühmten Zeitfenster auftun, über den Tag verteilt, in denen die Bewegungserfindungsenergie angeschaltet werden muss wie ein Starkstromanschluss.
All das zeigt Hans van Manen, der am selben Starkstromanschluss hängt, in 17 von einer fieberhaften Energie durchströmten Minuten. In Manuel Blasco de Nebras Adagio brechen Einspielungen aus Choreografien Martin Schläpfers zu Musik von Mahler und Schubert herein. Hier lässt van Manen Schläpfer Soli tanzen, als erfände er sie just in dem Augenblick. Marlúcia do Amaral tritt hinzu und vollzieht Schläpfers Bewegungen andeutend nach, als lerne sie eine Rolle von ihm. Schließlich beginnen die beiden einen Pas de deux zu tanzen. Wenn do Amaral abgeht, zieht sich Schläpfer wieder auf den Stuhl zurück, nun in der Position eines Beobachters. Das Paar, dem er zuschaut, nimmt von dem Schöpfer der Bewegungen keine Notiz. Das Werk führt nun eine eigenständige Existenz. Die Spiegelfiguren des Stücks bleiben faszinierend bis zum Ende. Denn dieser letzte Pas de deux ist eine Choreografie van Manens, nicht Schläpfers. Schläpfer ist also das Alter Ego seines Freundes und gleichzeitig er selbst in der Rolle des Bewunderers van Manens, in der Rolle dessen, der Meisterwerke der Tanzgeschichte studiert, um von ihnen zu lernen.
Letzte Geste Schläpfers ist ein Nicken, das nicht nur das Gesehene zu besiegeln scheint, sondern viel mehr ist - eine Art Einverständnis mit dem Drama der eigenen Existenz. Das ist mehr Pathos, als Hans van Manens ernsteste Stücke gewöhnlich enthalten. Aber es handelt sich auch um Porträt Martin Schläpfers.