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Martin Walser: „Das Traumbuch“
Zwischen Dämmer und Erinnerung

Am 24. März feiert der Schriftsteller Martin Walser seinen 95. Geburtstag. Pünktlich zu diesem Anlass ist sein neues Werk „Das Traumbuch“ erschienen, in dem die Bodenseelandschaft als Erinnerungswelt aufscheint.

Von Christoph Schröder |
Der Autor Martin Walser und sein "Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf"
Der Autor Martin Walser und sein "Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf" (Foto: picture alliance/dpa/Philipp von Ditfurth, Buchcover: Rowohlt Verlag)
Zwei literarische Formen hat Martin Walser perfektioniert: Das ausschweifende, rhetorisch brillante und einfallsreiche Parlando seiner Romane und: die knappe, aphoristische Sentenz in den Bänden um die autobiografische „Messmer“- Figur. Die Bücher, die Walser in den vergangenen Jahren veröffentlicht hat, sind in ihrer Form zunehmend fragmentarisch geworden, doch verfügen sie in ihren besten Augenblicken noch immer über verblüffende Originalität, diagnostische Schärfe und sogar über Humor.

Transitzone des Bewusstseins

Auch im hohen Alter funkt Martin Walser von seinem idyllischen Bodenseegrundstück aus noch starke Lebenszeichen in die Welt. Dass sich sein Schreiben überwiegend auf Selbstbeobachtung und Selbstreflexion beschränkt, kann man ihm nicht übelnehmen. Nun also Träume. Walser, das zeigen die Werke seiner Spätphase, wie zuletzt der Gedichtband „Sprachlaub“, hat mit dem Leben noch nicht abgeschlossen, ist aber bereit, den Tod anzunehmen. Der Traum erscheint hier nun als eine Transitzone des Bewusstseins, in der alles erlaubt und möglich ist:
„Mühelos führt der Traum ganz verschiedene Räume durcheinander, ohne dass sie einander verletzen oder auch nur stören.“
Mit der Psychoanalyse, das betont Walser, wolle er nichts zu tun haben. Er, der über Jahrzehnte hinweg gesellschaftliche Zustände und Verschiebungen analysiert hat und selbst wiederum in seinen politischen Ansichten analysiert wurde, fordert nun für seine zwischen Schlaf und Wachheit angesiedelten Miniaturen eine voraussetzungs- und bedingungslose Lektüre ein:
„Meine Träume müssen nicht gedeutet oder gar nach den billigsten Schlüsseln übersetzt werden, sie sind mir lieb und wert, so wie sie vorkommen.“

Öde Wirklichkeit

„Postkarten aus dem Schlaf“ lautet der Untertitel. Dementsprechend sparsam im Umfang sind die Seiten dieses Buchs gefüllt, manchmal gar nur mit einem einzigen Satz, der es dann aber in sich haben kann: etwa wenn Walser gegen die von ihm  als nur noch öde empfundene Wirklichkeit anschreibt.
Martin Walsers Traumbuch ist in drei große thematische Blöcke aufgeteilt: Die Erinnerung an eine Schriftstellerkarriere und auch die damit verbundenen Begegnungen und Demütigungen. Die Scham angesichts des körperlichen Verfalls und, als Gegenbewegung, die Sehnsucht nach Unversehrtheit, nach Erneuerung. Und, nicht zu unterschätzen, die Bodenseelandschaft als eine der elementaren Quellen seines Schreibens. Passend zum Titel des Buchs hat die Berliner Künstlerin Cornelia Schleime den Texten Collagen zur Seite gestellt, basierend auf historischen Postkartenmotiven von Überlingen, Meersburg oder Konstanz, verfremdet und übermalt durch Traumbilder. Ein echter ästhetischer Mehrwert, der auch dem surrealen Charakter von Walsers literarischen Fantasien eine optische Dimension hinzufügt.

Konzentrierte Lebensbilanz

Im Grunde ist „Das Traumbuch“ eine radikal konzentrierte Lebensbilanz, in der Imagination und Erinnerung verschwimmen. Noch einmal lässt er alte Freunde und Feinde auftreten, darunter selbstverständlich Marcel Reich-Ranicki. In einem der kurzen Texte kommt es zu einem Duell zwischen dem Ich und dem Kritiker – das allerdings nicht mit schweren Waffen, sondern nur noch mit dünnen Holzstöckchen ausgetragen wird. Auch so kann sich Altersmilde manifestieren.
Einen trockenen Humor hat Walser sich bewahrt. In den wenigen Sätzen, die er noch schreibt, schwingt erstaunlich viel mit. Manchmal reichen zwei Hauptsätze, um Zeitgenossen aus der goldenen Suhrkampkultur pointiert zu charakterisieren:
„Traum von Hans Magnus Enzensberger. Es geht um den Selbstkostenpreis Gottes.“

Traumschauplatz "Wasserburg"

Zugegeben, es bedarf einer gewissen Vorkenntnis und Orientierungsfähigkeit im Walser’schen Kosmos, um sich in den Sprüngen, Selbstrettungsversuchen und Andeutungen zurechtzufinden. Gerade im letzten Drittel des schmalen Buchs gewinnt der „Traumschauplatz“ Wasserburg, wie Walser seinen Kindheitsort nennt, eine die Realität der Gegenwart überlagernde Präsenz. So schreibt Walser über seinen 1944 als jungen Soldaten gestorbenen Bruder Josef:
„Er war wieder da.

Ich, glücklich, sagte zu ihm, dass ich schon oft von ihm geträumt habe. Immer, dass er wieder da sei. Aber es sei immer nur im Traum passiert.

Endlich sei er wirklich da!“
„Das Traumbuch“ ist nicht nur ein ausgesprochen schönes, sondern auch ein in seinen Brückenschlägen zwischen unterschiedlichen Bewusstseins- und Zeitebenen immer wieder anrührendes Alterswerk. So lange Martin Walser lebt, schreibt er. Und so lange er schreibt, lebt er. Das Eine geht nicht ohne das Andere. Allein dieser Umstand verleiht jedem neuen Walser-Buch eine existentielle Dimension: In jedem Satz geht es noch einmal um alles.
Martin Walser: „Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf“
Mit Collagen von Cornelia Schleime
Rowohlt Verlag, Hamburg. 142 Seiten, 24 Euro.