"Ich hörte mich sagen, unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt. Das war einer der Sätze, die mir den Wesenswunsch zu verstummen aufschiebbar machten. Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt."
Martin Walser las wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag aus seinem jüngst erschienenen Werk "Statt Etwas oder der letzte Rank". "Verstummen", das ist bei Walser keine altersmüde Attitüde. Schreibend den Wunsch nach Ruhe überwinden, nach Anpassung, sich vor niemandem als vor sich selbst rechtfertigen zu müssen, dieser Impuls beschäftigt ihn schon lange. 1968, als die Studentenrevolte tobte, Walser stand der kommunistischen DKP für kurze Zeit nahe, damals dichtete er mit Blick auf den Bodensee, den er heute noch von seinem Arbeitszimmer aus genießt: "Ich liebe den See, weil es sich bei ihm um nichts Bestimmtes handelt. Wie schön wäre es, wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts Eigenem bestehen." Einen alemannischen Mystiker, einen Romantiker vom Bodensee wollten darum viele in Walser erkennen.
Doch Walser gab niemals Ruhe. Selbst Böll und Grass, die politischen Stimmen aus der Riege der berühmten Nachkriegsschriftsteller, lösten nicht so viele und heftige Debatte aus wie Martin Walser mit seinen Essays, Reden, Leserbriefen und Tagebüchern. Walser beschäftigt sich am liebsten mit Walser. Dies macht er schonungslos und rücksichtlos mit sich und anderen und wirkt darum oft rätselhaft. Er und seine literarischen Figuren wirken wie ständig im Kampf gegen überkommene Moral. Was Freiheit für ihn bedeutet, hat er in seiner viel beachteten Schrift "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" 2011 festgehalten.
Friedenspreisrede löste Eklat aus
Sein Risiko, missverstanden zu werden, ist groß. Er bedauerte die Teilung Deutschlands vor der Wende und wurde prompt zum Konservativen gestempelt. 1998 der für ihn schmerzlichste Eklat. Walser erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede in der Paulskirche wendet er sich gegen jegliche "Instrumentalisierung" von Auschwitz, spricht von der "Auschwitz-Keule" und seinem Wunsch "Weg-Zu-Sehen". Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, wirft Walser "geistige Brandstiftung" vor.
Walser stammt aus einfachen Verhältnissen. 1927 wird er in Wasserburg am Bodensee geboren. Seine Erinnerungen an die Kindheit im Wirtshaus seiner Eltern zu Beginn der Nazidiktatur hat er im autobiografischen Roman "Ein springender Brunnen" 1998 festgehalten. Für viele Walsers schönster Roman. Erste große Erfolge feiert Martin Walser viel früher. Er schreibt nach dem Krieg Hörspiele beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Die Gruppe 47 um Heinrich Böll und Günter Grass lud ihn seit 1953 regelmäßig ein. Dann 1957 sein erster großer Romanerfolg "Ehen in Philippsburg". 1978 sichert die Novelle "Ein fliehendes Pferd" auch finanziell weitgehend seine schriftstellerische Unabhängigkeit. Liebe, Geld und Macht sind häufig Themen, mit denen sich seine Antihelden im Alltag herumplagen.
Martin Walser schreibt seit 1959 auch politische Essays. Er war Beobachter beim ersten Auschwitz-Prozess, wütete gegen den Vietnamkrieg, setzte sich gemeinsam mit seinem Freund Günter Grass für Willy Brandt ein, schrieb über den Kniefall von Bastian Schweinsteiger nach dem verlorenen Halbfinale bei der WM oder lobte Angela Merkel für ihren Satz "Wir schaffen das".