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Marx trifft Marx

Sollten wir angesichts der Finanzkrise Abbitte leisten bei Karl Marx? Haben wir ihn zu früh auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen? Der, der das fragt, heißt auch Marx - allerdings Reinhard Marx: Er ist Erzbischof von München-Freising. Er hat ein Buch vorgelegt mit dem Titel: "Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen." Was aber steckt hinter diesem Buch? Findet ein katholischer Bischof in der Gesellschaftsanalyse eines Kirchenkritikers Ansätze, denen er zustimmt?

Von Andreas Main |
    Sehr geehrter Karl Marx, lieber Namensvetter...

    Mit einem 20 Seiten langen Brief an Marx beginnt Erzbischof Marx sein Buch "Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen".

    "Wenn der Kapitalismus die Probleme der Gerechtigkeit, der Solidarität nicht löst, sondern die Spannungen in der Gesellschaft verschärft, Arm und Reich gegeneinander stellt, dann kommen die alten Ideologien wieder aus ihren Gräbern. Und das möchte ich verhindern, ich möchte nicht, dass der alte Marx Recht bekommt, also der Namensvetter, das wäre verheerend. Das würde ein Irrweg sein."

    Reinhard Marx war einst Professor für Christliche Sozialethik. Heute beschäftigt er sich in kirchlichen Kommissionen mit sozialen Fragen. Marx war lange Bischof in Trier - dort, wo einst Karl Marx geboren wurde. Marx leitet eines der wichtigsten Bistümer, wird im deutschen Katholizismus hoch gehandelt - auch als potenzieller Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Es ist also nicht irgendwer, der da versucht, der Katholischen Soziallehre, wie er sie versteht, Geltung zu verschaffen. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen:

    Die Wende von 1989 beinhaltet nicht nur die "Krise des Marxismus," sondern auch den Auftrag, nun in einer globalen sozialen Marktwirtschaft die bessere Alternative zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Armut zu erarbeiten.
    Reinhard Marx ist und bleibt ein entschiedener Gegner der Theorien des Karl Marx. Und er konfrontiert ihn mit der Praxis: der Zentralverwaltungswirtschaft im Sowjetkommunismus. Die sei:

    Vollständig gescheitert!

    In diesen Passagen haben die leicht zu lesenden 320 Seiten ihre Stärken. Dann aber wird Marx doch wieder zur Bezugsgröße gemacht.

    Ich möchte meinen Brief an Sie beschließen mit einem Satz von Oswald von Nell-Breuning, wie Sie ein Sohn der Stadt Trier und der wohl bedeutendste Vertreter der katholischen Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert: "Die katholische Soziallehre sieht in Marx ihren großen Gegner, sie bezeugt ihm ihren Respekt."

    "Die Sache mit dem Kommunismus ist eigentlich erledigt, aber wenn der Kapitalismus nicht domestiziert wird, nicht entwickelt wird wieder neu, immer erneuert hin zu einer Sozialen Marktwirtschaft, dann wird der Kommunismus oder der Marxismus fröhliche Urständ feiern."

    Der Erzbischof will eine Neuauflage des Marxismus verhindern. Dies soll hier nicht in Zweifel gezogen werden. Aber diese Frontlinie ist nur vorgeschützt: Denn über weite Teile des Buches wird alles Liberale attackiert. Das hört sich dann an, als säße der Leser in einer Talkshow bei den Wills, Maischbergers und Plasbergs: Und als säßen da all jene alten Männer, die sich nach kuscheligen Zeiten sehnen: die Blüms, Geisslers, Dresslers, um nur ein paar zu nennen. An diesem Punkt ist der Erzbischof ganz auf der Höhe seiner Zeit und reichlich populistisch.

    Selbstverständlich vermeidet es der Bischof, sich vor einen parteipolitischen Karren spannen zu lassen. Er wägt ab, schränkt ein. Doch insgesamt wirkt dieses Buch, als wären die Positionspapiere deutscher Wohlfahrtsverbände kompiliert worden. Marx beschreibt die soziale Lage hierzulande in den dramatischsten Tönen. Aber leider verrät er an keiner Stelle, wo all das Geld und all die gut dotierten Jobs herkommen sollen.

    Wobei eingeräumt werden soll, dass es durchaus Kapitel im Kapital gibt, wo Marx differenziert, wo dem Leser ein Licht aufgeht. Etwa wenn er grundsätzlich die Grenzen der Freiheit absteckt. Diese würden markiert von der Menschenwürde und dem Gemeinwohl. Diese Grenzen müssten auch Ökonomen beachten - um der Freiheit selbst willen.

    Ich sehe deshalb mit Sorge die Tendenz zu einer gefährlichen Entwicklung hin zu einem primitiveren Kapitalismus. Die internationale Finanzkrise zeigt uns überdeutlich, wie schnell wir auf abschüssiges Terrain geraten, wenn auf dem Markt Moral und Ethik ausgeklammert werden.

    "Ich hoffe, dass nach diesem Crash viele dran arbeiten werden, dass das System der Marktwirtschaft sich ethisch und ökonomisch verbessert. Und dazu brauchen wir einen längeren Atem. Dann kommt das Vertrauen vielleicht auch wieder."

    Marx predigt nicht die Revolution, sondern Reformen - hin zu einer sozialen Marktwirtschaft, wie sie in Westdeutschland gepflegt wurde. Letztlich lautet seine Devise: zurück zum "Rheinischen Kapitalismus." In diesem Sinne haben sich die Kirchen in Deutschland immer wieder in ihren so genannten Sozialworten geäußert: gleichermaßen marximus- wie kapitalismuskritisch. Vor einigen Jahren wurden sie dafür belächelt.

    "Die Ordnung sollte so sein, dass sie das gute Handeln unterstützt und nicht den Gierigen, der den anderen ausbeutet, auch noch belohnt."

    Sagt Erzbischof Reinhard Marx. Trotz aller Bedenken: Dieses Buch ist mutig. Denn es dürfte viele Katholiken verschrecken. Einer der wichtigsten katholischen deutschen Bischöfe verortet sich sozialpolitisch links von der Mitte. Dieses Buch spiegelt wider, wo Teile der katholischen Kirche stehen. Egal ob es einem gefällt oder nicht. Dieses Buch sagt mindestens so viel über die katholische Kirche wie über den Zustand des Kapitalismus. Und deshalb ist es für alle an der katholischen Kirche Interessierten ein Muss!

    Dieses Buch ist nämlich de facto weniger eine Abrechnung mit Marx, sondern eine mit Merz, der für marktradikale politische Konzepte steht. Ohne Friedrich Merz, den wirtschaftsliberalen Vordenker, auch nur mit einem Wort zu erwähnen, ist die Stoßrichtung des Erzbischofs eindeutig: Marx contra Marx, aber vor allem Marx contra Merz.

    Der Staat darf sich nicht aus seiner Verantwortung stehlen. Er muss darum bemüht sein, die Eigenverantwortung der Bürger und den Aufbau von neuen Solidaritätsformen zu stärken.
    Hier klingt die Katholische Soziallehre an, eine Lehre, die seit mehr als 100 Jahren fortentwickelt wird. Marx hebt die Solidarität hervor. Was reichlich kurz kommt, ist ein anderes Element dieser Katholischen Soziallehre: die Subsidiarität. Marx erwähnt nur an wenigen Stellen Subsidiarität und Eigenverantwortung, im Mittelpunkt seines Interesses steht der starke Staat.

    Marx interpretiert die Katholische Soziallehre somit einseitig. Dass die Stärke des Staates umkippen kann in Bevormundung, Unfreiheit, Anmaßung - dieser Gefahr ist sich Marx durchaus bewusst. Er gibt das staatsskeptische Prinzip der Subsidiarität nicht preis. Aber er betreibt eine so radikale Marktkritik, dass er am Ende näher bei Karl Marx ist als bei Ludwig Erhard.

    Andreas Main über Reinhard Marx: Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen". Das Buch ist erschienen bei Pattloch, hat 320 Seiten, kostet 19,95 Euro.