Peter Kapern: Der Soziologe und Ökonom Werner Sombart hat einmal die Frage aufgeworfen: Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus. Beantworten kann ich die Frage nicht, aber interessant ist, dass ausgerechnet aus den USA eine neue Karl-Marx-Biografie kommt. Es ist die erste große Marx-Biografie seit mehreren Jahrzehnten. Der Verfasser ist Jonathan Sperber, ein Historiker, der an der Universität von Missouri in Columbia lehrt. Ihn habe ich vor der Sendung gefragt, warum es überhaupt noch eine weitere Marx-Biografie brauchte.
Jonathan Sperber: Ein Grund ist ein neuer Blickwinkel. Die meisten Marx-Biografien und die meisten heutigen Menschen, die an Marx denken, halten Marx für unseren Zeitgenossen. Der ist zwar ein Mensch des 19. Jahrhunderts, aber er war weitsichtig. Er ist ein Prophet, er sah in die Zukunft, er ist unser Zeitgenosse. Man kann das als gut betrachten, als einen Mann, der die heutige Welt richtig verstanden hat. Ich würde Marx aber betrachten nicht als unseren Zeitgenossen, sondern als eine Gestalt einer vergangenen historischen Epoche: die Zeit der französischen Revolution, eine Zeit, die uns immer ferner geworden ist. Und ich würde auch sagen, dass Marx eine eher rückwärts gewandte Gestalt ist und kein voraussehender Prophet.
Kapern: Lassen Sie mich eines der Daten, die Sie genannt haben, aufgreifen: die französische Revolution. Die war nun der Fixpunkt im Denken und Handeln von Karl Marx, und zwar zwei Phasen dieser Revolution: die bürgerliche Revolution von 1789 und die Schreckensherrschaft der Jakobiner von 1793. Wie haben diese Fixpunkte sein Denken und Handeln beeinflusst?
Sperber: Marx hat im Laufe der 1840er-Jahre eine Revolutionstheorie entwickelt. Ich würde diese Theorie bezeichnen als eine doppelte Wiederholung der französischen Revolution. Einerseits wollte er eine Wiederholung der französischen Revolution in Mittel- und Osteuropa, gerichtet gegen den König von Preußen, gegen den Zar, und das war eine buchstäbliche Wiederholung mit Schreckensherrschaft, Revolutionskrieg und allem. Andererseits wollte er analog zur französischen Revolution von 1789 eine kommunistische Revolution entfachen. Marx meinte, die französische Revolution hat so eine neue Produktionsweise entstehen lassen, also den Kapitalismus, und eine neue herrschende Klasse zur Macht gebracht, die Bourgeoisie. So eine analoge Revolution würde den Kapitalismus abschaffen und eine neue Produktionsweise, den Kommunismus, einführen und das Proletariat zur Herrschaft bringen. Es war also theoretisch vielleicht möglich, diese zwei Revolutionen zu verbinden. In der Praxis hat es sich als ziemlich schwierig herausgestellt.
Kapern: Nun lag in den 1840ern die französische Revolution schon 50 Jahre zurück und als Marx seine letzten Schriften verfasste, da waren schon 90 Jahre seit der französischen Revolution vergangen. Sie haben eben gesagt, er sei rückwärts gewandt gewesen. War er ein lebender Anachronismus schon zu seiner Zeit?
Sperber: Ich würde das nicht sagen und man muss den Einfluss der französischen Revolution nicht unterschätzen. Dieses politische Großereignis lag über dem Europa des 19. Jahrhunderts. Das war ein Muster des politischen Wandels, ein Schreckensbild für Konservative, und das ging fast bis zum Ende des Lebens von Marx. Im Leben von Marx kann man sagen, dass die französische Revolution einen großen Einfluss hatte auf das geistige und das politische Leben Europas.
Kapern: Ganz aktuell wird ja wieder mal versucht, das Maß der Aktualität an Marx anzulegen. Vor dem Hintergrund der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise erschienen zum Beispiel hier in Deutschland Bücher mit Titeln wie "Wo Marx Recht hatte". Taugt Marx tatsächlich noch, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen oder wenigstens zu verstehen?
Sperber: Einige Aspekte der marxschen Kritik sind immer noch heute beeindruckend, besonders die Idee, dass der Kapitalismus kein selbst regulierendes, automatisch selbst regulierendes System ist, sondern manchmal in diese Krisen geschritten ist. Wir haben das seit 2008 ziemlich schmerzlich erfahren. Die marxsche Betrachtungsweise ist immer noch beachtenswert. Es kann sein, dass andere Ökonomen einer späteren Zeit wie zum Beispiel John Maynard Keynes oder Hyman Minsky eine bessere, treffende Diagnose der kapitalistischen Krisen entwickelt haben, aber manche seiner Ansätze sind immer noch bedenkenswert, obwohl sie in einer ganz anderen kapitalistischen Gesellschaft entstanden sind als die heutige.
Kapern: Auch wenn Sie versuchen, Mr. Sperber, in Ihrem Buch Marx als Mann des 19. Jahrhunderts zu beschreiben und ihn von all dem Ballast zu befreien, der ihm nachträglich im 20. Jahrhundert aufgeladen worden ist, nach dem Ende des Kalten Krieges wurde ja eifrig darüber diskutiert, ob es möglicherweise so was gibt wie eine direkte Verbindung von Marx zu Stalin. Können Sie uns sagen, wie viel Gulag in Marxs Theorie steckt?
Sperber: Ja. Marx war Anhänger einer gewaltsamen Revolution. Er betrachtete dies wohl als eine nachrevolutionäre Diktatur, manchmal auch als eine quasi terroristische Diktatur, die aber viel mehr Ähnlichkeit mit der Diktatur Robespierres aufgewiesen hätte als mit der Diktatur Stalins. Also ich würde sagen, Marx bewegte sich nicht in dem genozidalen Raum des Kommunismus des 20. Jahrhunderts. Er war wirklich in diesem Bezug eine Gestalt des Zeitalters der französischen Revolution. Ich meine, das Faszinierende am 20. Jahrhundert sind die vielen Bewegungen und Regime, die Marx als eigenes aufgenommen haben. Es gab die sozio-demokratische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg und dann die kommunistische Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Diese beiden Bewegungen haben sich als marxistisch bezeichnet. Die Antiimperialisten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sind häufig Marxisten geworden. Die studentischen Rebellen der 1960er-Jahre haben auch diese Bilder des bärtigen Herrn herumgetragen. Die Verbindung all dieser Bewegungen zu den eigentlichen Ideen dieses Menschen aus dem 19. Jahrhundert war nicht immer sehr eng. Ich meine, es ist vor allem das Bild von Marx als der intransigente Revolutionär, als der Mann, der keinen Kompromiss eingehen wollte. Das ist quasi ikonenhaft, das seinen Name in das 20. Jahrhundert getragen hat.
Kapern: Marx war Revolutionär, er war politischer Literat mit wichtigen Schriften über die politischen Geschehnisse seiner Zeit und er war Ökonom, der den Kapitalismus erklären und sein zwangsläufiges Ende plausibel machen wollte. Welcher Marx ist Ihrer Meinung nach der wichtige?
Sperber: Ja ich will dieser Frage ausweichen und sagen, sämtliche Aspekte von Marx sind von Interesse. Ich habe versucht, in meiner Biografie das politische Wirken von Marx etwas mehr hervorzuheben, vor allem wo die meisten Biografien Marx vor allem als Theoretiker behandeln, und ich meine, viele seiner Theorien lassen sich am besten gegen den Hintergrund seiner politischen Tätigkeit verstehen.
Kapern: Damit meinen Sie sein Eingreifen in der Revolution 48/49?
Sperber: Ja und seine Tätigkeit im Exil bei der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Er war sein ganzes Leben lang politisch tätig und viele seiner theoretischen Ideen sind am besten gegen diesen Hintergrund des politischen Aktivismus zu verstehen.
Kapern: Der Mann, den Sie da aus all diesem Ballast des 20. Jahrhunderts herausgeschält haben, dieser Karl Marx, ist der Ihnen sympathisch?
Sperber: Manchmal ja, manchmal nein. Er war überheblich und arrogant, er duldete keine andere Meinung, aber er war auch passioniert, er war ein Freund Preußens und ein Feind des Zaren. Ich kann wirklich nichts dagegen sagen. Er war ein Anhänger besonders in seinem jüngeren Leben der Demokratie, der freien Presse, er war ein Mann, der von der sozialen Ungleichheit zutiefst bestürzt war. Also es gab in seinem Leben sympathische und weniger sympathische Elemente.
Kapern: Der Historiker Jonathan Sperber über seine Marx-Biografie, deren deutsche Ausgabe heute im Beck-Verlag erscheint. Sie heißt "Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert". Und eine Rezension des Buches hören Sie heute Abend in unserer Sendung "Andruck" ab 19:15 Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jonathan Sperber: Ein Grund ist ein neuer Blickwinkel. Die meisten Marx-Biografien und die meisten heutigen Menschen, die an Marx denken, halten Marx für unseren Zeitgenossen. Der ist zwar ein Mensch des 19. Jahrhunderts, aber er war weitsichtig. Er ist ein Prophet, er sah in die Zukunft, er ist unser Zeitgenosse. Man kann das als gut betrachten, als einen Mann, der die heutige Welt richtig verstanden hat. Ich würde Marx aber betrachten nicht als unseren Zeitgenossen, sondern als eine Gestalt einer vergangenen historischen Epoche: die Zeit der französischen Revolution, eine Zeit, die uns immer ferner geworden ist. Und ich würde auch sagen, dass Marx eine eher rückwärts gewandte Gestalt ist und kein voraussehender Prophet.
Kapern: Lassen Sie mich eines der Daten, die Sie genannt haben, aufgreifen: die französische Revolution. Die war nun der Fixpunkt im Denken und Handeln von Karl Marx, und zwar zwei Phasen dieser Revolution: die bürgerliche Revolution von 1789 und die Schreckensherrschaft der Jakobiner von 1793. Wie haben diese Fixpunkte sein Denken und Handeln beeinflusst?
Sperber: Marx hat im Laufe der 1840er-Jahre eine Revolutionstheorie entwickelt. Ich würde diese Theorie bezeichnen als eine doppelte Wiederholung der französischen Revolution. Einerseits wollte er eine Wiederholung der französischen Revolution in Mittel- und Osteuropa, gerichtet gegen den König von Preußen, gegen den Zar, und das war eine buchstäbliche Wiederholung mit Schreckensherrschaft, Revolutionskrieg und allem. Andererseits wollte er analog zur französischen Revolution von 1789 eine kommunistische Revolution entfachen. Marx meinte, die französische Revolution hat so eine neue Produktionsweise entstehen lassen, also den Kapitalismus, und eine neue herrschende Klasse zur Macht gebracht, die Bourgeoisie. So eine analoge Revolution würde den Kapitalismus abschaffen und eine neue Produktionsweise, den Kommunismus, einführen und das Proletariat zur Herrschaft bringen. Es war also theoretisch vielleicht möglich, diese zwei Revolutionen zu verbinden. In der Praxis hat es sich als ziemlich schwierig herausgestellt.
Kapern: Nun lag in den 1840ern die französische Revolution schon 50 Jahre zurück und als Marx seine letzten Schriften verfasste, da waren schon 90 Jahre seit der französischen Revolution vergangen. Sie haben eben gesagt, er sei rückwärts gewandt gewesen. War er ein lebender Anachronismus schon zu seiner Zeit?
Sperber: Ich würde das nicht sagen und man muss den Einfluss der französischen Revolution nicht unterschätzen. Dieses politische Großereignis lag über dem Europa des 19. Jahrhunderts. Das war ein Muster des politischen Wandels, ein Schreckensbild für Konservative, und das ging fast bis zum Ende des Lebens von Marx. Im Leben von Marx kann man sagen, dass die französische Revolution einen großen Einfluss hatte auf das geistige und das politische Leben Europas.
Kapern: Ganz aktuell wird ja wieder mal versucht, das Maß der Aktualität an Marx anzulegen. Vor dem Hintergrund der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise erschienen zum Beispiel hier in Deutschland Bücher mit Titeln wie "Wo Marx Recht hatte". Taugt Marx tatsächlich noch, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen oder wenigstens zu verstehen?
Sperber: Einige Aspekte der marxschen Kritik sind immer noch heute beeindruckend, besonders die Idee, dass der Kapitalismus kein selbst regulierendes, automatisch selbst regulierendes System ist, sondern manchmal in diese Krisen geschritten ist. Wir haben das seit 2008 ziemlich schmerzlich erfahren. Die marxsche Betrachtungsweise ist immer noch beachtenswert. Es kann sein, dass andere Ökonomen einer späteren Zeit wie zum Beispiel John Maynard Keynes oder Hyman Minsky eine bessere, treffende Diagnose der kapitalistischen Krisen entwickelt haben, aber manche seiner Ansätze sind immer noch bedenkenswert, obwohl sie in einer ganz anderen kapitalistischen Gesellschaft entstanden sind als die heutige.
Kapern: Auch wenn Sie versuchen, Mr. Sperber, in Ihrem Buch Marx als Mann des 19. Jahrhunderts zu beschreiben und ihn von all dem Ballast zu befreien, der ihm nachträglich im 20. Jahrhundert aufgeladen worden ist, nach dem Ende des Kalten Krieges wurde ja eifrig darüber diskutiert, ob es möglicherweise so was gibt wie eine direkte Verbindung von Marx zu Stalin. Können Sie uns sagen, wie viel Gulag in Marxs Theorie steckt?
Sperber: Ja. Marx war Anhänger einer gewaltsamen Revolution. Er betrachtete dies wohl als eine nachrevolutionäre Diktatur, manchmal auch als eine quasi terroristische Diktatur, die aber viel mehr Ähnlichkeit mit der Diktatur Robespierres aufgewiesen hätte als mit der Diktatur Stalins. Also ich würde sagen, Marx bewegte sich nicht in dem genozidalen Raum des Kommunismus des 20. Jahrhunderts. Er war wirklich in diesem Bezug eine Gestalt des Zeitalters der französischen Revolution. Ich meine, das Faszinierende am 20. Jahrhundert sind die vielen Bewegungen und Regime, die Marx als eigenes aufgenommen haben. Es gab die sozio-demokratische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg und dann die kommunistische Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Diese beiden Bewegungen haben sich als marxistisch bezeichnet. Die Antiimperialisten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sind häufig Marxisten geworden. Die studentischen Rebellen der 1960er-Jahre haben auch diese Bilder des bärtigen Herrn herumgetragen. Die Verbindung all dieser Bewegungen zu den eigentlichen Ideen dieses Menschen aus dem 19. Jahrhundert war nicht immer sehr eng. Ich meine, es ist vor allem das Bild von Marx als der intransigente Revolutionär, als der Mann, der keinen Kompromiss eingehen wollte. Das ist quasi ikonenhaft, das seinen Name in das 20. Jahrhundert getragen hat.
Kapern: Marx war Revolutionär, er war politischer Literat mit wichtigen Schriften über die politischen Geschehnisse seiner Zeit und er war Ökonom, der den Kapitalismus erklären und sein zwangsläufiges Ende plausibel machen wollte. Welcher Marx ist Ihrer Meinung nach der wichtige?
Sperber: Ja ich will dieser Frage ausweichen und sagen, sämtliche Aspekte von Marx sind von Interesse. Ich habe versucht, in meiner Biografie das politische Wirken von Marx etwas mehr hervorzuheben, vor allem wo die meisten Biografien Marx vor allem als Theoretiker behandeln, und ich meine, viele seiner Theorien lassen sich am besten gegen den Hintergrund seiner politischen Tätigkeit verstehen.
Kapern: Damit meinen Sie sein Eingreifen in der Revolution 48/49?
Sperber: Ja und seine Tätigkeit im Exil bei der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Er war sein ganzes Leben lang politisch tätig und viele seiner theoretischen Ideen sind am besten gegen diesen Hintergrund des politischen Aktivismus zu verstehen.
Kapern: Der Mann, den Sie da aus all diesem Ballast des 20. Jahrhunderts herausgeschält haben, dieser Karl Marx, ist der Ihnen sympathisch?
Sperber: Manchmal ja, manchmal nein. Er war überheblich und arrogant, er duldete keine andere Meinung, aber er war auch passioniert, er war ein Freund Preußens und ein Feind des Zaren. Ich kann wirklich nichts dagegen sagen. Er war ein Anhänger besonders in seinem jüngeren Leben der Demokratie, der freien Presse, er war ein Mann, der von der sozialen Ungleichheit zutiefst bestürzt war. Also es gab in seinem Leben sympathische und weniger sympathische Elemente.
Kapern: Der Historiker Jonathan Sperber über seine Marx-Biografie, deren deutsche Ausgabe heute im Beck-Verlag erscheint. Sie heißt "Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert". Und eine Rezension des Buches hören Sie heute Abend in unserer Sendung "Andruck" ab 19:15 Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.