Susan Lee Pentlin, die Herausgeberin des Tagebuchs von Mary Berg, gibt Rätsel auf. Warum nur, fragt man sich, hat sie das perfekte Nachwort zum Vorwort gemacht? Denn so verspielt sie enorm viel von der möglichen Wirkung des Tagebuchs - gerade auf jugendliche Leser, die eine hoch-dramatische historische Situation lieber aus erster Hand nachempfinden wollen. Die 20-seitige "Einleitung" der Professorin verrät jedenfalls definitiv zu viel vom Inhalt dieses außergewöhnlichen Zeugnisses aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Mehr noch: Sie gibt Deutungen vor, statt sie – wie es sich bei mündigen Lesern gehört – nachzuliefern.
Sparen Sie sich also das akademische Vorprogramm bitte für hinterher auf – schon deshalb, weil sonst der entscheidende Anreiz zum Weiterlesen verloren geht. Die vollständige existentielle Ungewissheit, die Mary Berg zwischen 1940 und 1944 zum Schreiben antrieb, sollte auch die des Lesers sein. Vorwissen über die historischen Hintergründe benötigt man nicht. Sie erschließen sich bei der Lektüre. Denn die alltäglichen Beobachtungen der polnisch-amerikanischen Jüdin kreisen um grundsätzliche Fragen: was Krieg und Besatzung bedeuten, was die Erniedrigung und Entrechtung einer Minderheit. Ihr Tagebuch führt vor, wozu Menschen fähig sind, wenn sie von einem diktatorischen Regime zur Unmenschlichkeit autorisiert werden.
Selbst erfundene Kurzschrift
Für den Fall, dass ihre Ringbücher in falsche Hände geraten sollten, schreibt Mary Berg ihre Aufzeichnungen in einer selbst erfundenen polnischen Kurzschrift. Der erste Eintrag ist datiert auf den 10. Oktober 1939. Warschau wird gerade von der deutschen Wehrmacht erobert.
"Heute werde ich fünfzehn. Ich fühle mich sehr alt und einsam, obwohl meine Familie ihr Möglichstes getan hat, um aus diesem Tag einen echten Geburtstag zu machen. Sie haben mir zu Ehren sogar eine Makronentorte gebacken, was heutzutage ein ziemlicher Luxus ist. […] Ich habe schon so lange nicht mehr Tagebuch geführt. [...] Jetzt ist ein guter Moment, wieder anzufangen. Ich verbringe nämlich die meiste Zeit zu Hause. Alle haben Angst, nach draußen zu gehen. Die Deutschen sind hier."
Mary Berg, Tochter eines reichen jüdischen Kunsthändlers, ist mit ihrer Familie vor dem Kriegschaos in Lodz geflohen. Doch bietet ihnen auch die Hauptstadt Warschau keine Sicherheit. Nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen werden die Juden zu Freiwild. Die polnischen Antisemiten profitieren.
"Häufige Angriffe durch polnische Rowdys, die jeden jüdischen Passanten verprügeln und ausrauben. [...] Die Deutschen schauen zu und lachen. […] Die gleichen polnischen Rowdys haben auch die Nazis zu den Wohnungen wohlhabender Juden geführt und am helllichten Tag bei Plünderungen mitgemacht. Proteste haben nichts genützt – das Gesetz schützt keine Juden."
Eingemauert auf engstem Raum
Die Liste der Verbote wird mit jedem Tag länger, wie Mary Berg im Detail schildert. Nicht einmal Schulunterricht dürfen die Juden ihren Kindern erteilen lassen. Noch aber ist Marys Familie durch ihr Geld geschützt, das Zaubermittel, mit dem sich auch Nazis bestechen lassen. Hinzu kommt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft von Marys Mutter. Sie gewährt Privilegien, solange die USA im Krieg neutral bleiben. Doch die Lage spitzt sich weiter zu, als die Deutschen ein Ghetto errichten. Zeitweilig leben bis zu 500.000 Juden auf engstem Raum zusammen - buchstäblich eingemauert. Mit einer eigenen jüdischen Polizei müssen sie selbst für Ordnung sorgen und den wachsenden Mangel an Nahrung und Brennstoff verwalten. Am 5. Februar 1941 notiert Mary Berg in ihr Tagebuch:
"Der Frost malt herrliche Blumenmuster auf die Fensterscheiben. Ich träume von einem Schlitten, der übers Eis gleitet, und von der Freiheit. Werde ich jemals wieder frei sein? Ich bin richtig selbstsüchtig geworden. Einstweilen habe ich es ja noch warm und bekomme zu essen, aber um mich herum herrschen so viel Elend und Hunger, dass ich allmählich ganz unglücklich werde."
Immer öfter schreibt Mary Berg in ihrem Tagebuch über Gewissensbisse. Denn anders als die große Mehrheit der Warschauer Juden kann ihr Vater die Schmuggler noch bezahlen, die durch geheime Tunnel und Mauerlöcher alles Nötige ins Ghetto bringen. Auch beschafft er sich über – wie es heißt - "Vitamin B" einen Posten als Hauswart, der ihn vor der Zwangsarbeit für die Deutschen schützt. Auf den Straßen der armen Ghetto-Viertel häufen sich dagegen die erfrorenen Leichen. Der Typhus rafft die ausgehungerten Juden zu Tausenden hin.
Um Selbstbeherrschung bemüht
Mary Berg zeigt sich in ihrem Tagebuch bestens informiert: durch eigene Erkundungen auf den Straßen, durch indirekte Kontakte zum Untergrund, durch Erzählungen von Freunden. Auch ihre Eltern verheimlichen ihr offenbar nur wenig. Jeder Neuankömmling im Ghetto bringt neue Nachrichten und Gerüchte mit: darunter erste Hinweise auf eine systematische Judenvernichtung im Osten. Mary beschreibt das Gehörte und Gesehene meist distanziert, als wolle sie die Selbstbeherrschung nicht verlieren. Doch ab und zu bricht ihr Hass hervor:
"Die Nazis triumphieren. Kiew ist gefallen. [...] Werden die Deutschen diesen Krieg gewinnen? Nein, tausendmal nein! Warum werfen die Alliierten keine Bomben auf deutsche Städte? [...] Deutschland muss vom Angesicht der Erde hinweggefegt werden. Ein solches Volk sollte nicht existieren dürfen. Kriminell sind ja nicht nur die uniformierten Nazis, sondern alle Deutsche, die gesamte Zivilbevölkerung, die sich an den Früchten der Plünderungen und Morde erfreut, die ihre Ehemänner und Väter begehen."
"Wann wird diese Hölle endlich enden?" Das Ghetto-Tagebuch von Mary Berg erschüttert nicht nur durch die kalte Menschenverachtung der Nazis. Es bewegt auch durch den Lebenshunger, mit dem die jüdischen Jugendlichen dem Grauen trotzen. Sie verlieben sich, tauschen Pläne für die Zukunft aus, spielen Theater.
"Jeden Tag kann man im Kunstcafé in der Leszno-Straße in verschleierter Form Lieder und Satiren über die Polizei, den Ambulanzdienst [...] und sogar die Gestapo hören. Sogar die Typhusseuche ist Gegenstand von Witzen. Es ist ein Lachen unter Tränen, aber es wird jedenfalls gelacht. Das ist unsere einzige Waffe hier im Ghetto – unser Volk macht sich lustig über den Tod und über die Nazi-Verordnungen. Humor ist das Einzige, was die Nazis nicht verstehen."
Beginn der Massendeportationen
Im Juli 1942 separieren die Nazis die ausländischen Juden – darunter die vierköpfige Familie Berg. Sie wollen sie gegen in den USA internierte Deutsche austauschen. Ein monatelanges Warten beginnt, während vor den Gefängnisfenstern die Massendeportationen aus dem Ghetto in die Vernichtungslager beginnen.
"Habe ich das Recht, mich zu retten und meine engsten Freunde ihrem bitteren Schicksal zu überlassen?",
fragt sich Mary Berg in ihrer Zerrissenheit. Gewissheit, dass Ihre Familie wirklich ausgetauscht wird, besteht allerdings nicht: nicht für Marys polnischen Vater, nicht für sie selbst, weil sie mit 17 Jahren – den Vorschriften zufolge – zu alt ist. Außerdem bleiben die "Nazi-Bestien", wie sie sie nennt, auch im Gefängnis gegenwärtig. Mary Bergs Tagebuch ist eine endlose Achterbahnfahrt der Gefühle, geschrieben in einer klaren, detailgenauen, schonungslosen Sprache. Entsetzen über die Neuigkeiten von draußen wechselt ab mit nackter Überlebensangst, mit Trotz, Wut und ungläubiger Hoffnung – das alles aus der Feder einer frühreifen Jugendlichen, die im Gefängnis ihren 18. Geburtstag erlebte.
Mary Berg: "Wann wird diese Hölle enden?"
Das Tagebuch der Mary Berg. Das Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebte
Aus dem Englischen von Maria Zettner
Orell Füssli Verlag, Zürich. 342 Seiten, 23 Euro.
Das Tagebuch der Mary Berg. Das Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebte
Aus dem Englischen von Maria Zettner
Orell Füssli Verlag, Zürich. 342 Seiten, 23 Euro.