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Masha Gessen: "Leben mit Exil"
Verlust der Heimat als Krankheit

Die russisch-amerikanische Schriftstellerin und LGBT-Aktivistin Masha Gessen erklärt Exil, Flucht und Migration zu den zentralen Schmerzpunkten unserer Gegenwart. Dem Stil ihrer drei Aufsätze fehlt allerdings jede erzählerische Qualität, die Perspektive der Migration erscheint als überhöht.

Von Eberhard Falcke |
Die Schriftstellerin Maria Masha Alexandrovna Gessen auf der Leipziger Buchmesse 2019
Schnell hingeschrieben, aber mit umso größerem Pathos: Masha Gessen vertritt ihre Positionen mit Leidenschaft (imago / Starmedia)
Masha Gessen ist viel unterwegs: zwischen Russland und den USA, zwischen Frau und Mann, zwischen Selbsterfahrung und sozialer Wahrnehmung, zwischen Journalismus und Theorie. Die Bewegung in diesen Spannungsfeldern hat den Stil ihres Denkens und auch ihre Themen geprägt. Gessen macht besondere Erfahrungen: als Russin mit jüdischen Wurzeln im selbstgewählten amerikanischen Exil, als international tätige LGBT-Aktivistin und als Autorin, für die Flucht und Migration ein zentrales Thema darstellen. Dem Nachdenken über solche Erfahrungen von Grenzüberschreitung und Selbstbehauptung sind drei Aufsätze gewidmet, die in den vergangenen beiden Jahren veröffentlicht wurden. Unter dem Titel "Leben mit Exil. Über Migration sprechen" wurden sie nun ins Deutsche übersetzt und in einem Band zusammengefasst.
Unsichtbarkeit durch fehlende Staatsbürgerschaft
Eingeleitet wird das Buch von einem kurzen Aufsatz mit der Überschrift "Wie man die Geschichten von Immigration erzählen sollte". Gessen kritisiert darin die Verwendung von Begriffen wie "Migranten", "illegaler Grenzübertritt" oder "Migranten-Karawane". Dadurch werden in ihren Augen menschliche Schicksale verallgemeinert, verkürzt und der Politik des Hasses von Migrationsgegnern wie Donald Trump ausgeliefert. Stattdessen fordert Gessen dazu auf, "die Größe des Problems der heimatlosen Menschen" direkt zu vermitteln, indem man sie aus den Begriffs-Etiketten befreit und ihre Geschichten sichtbar macht:

"Ich will das Argument vorbringen, dass es die Aufgabe von Journalisten ist, den Menschen von anderen Menschen zu erzählen. (Und auch, den Mächtigen auf die Finger zu schauen.) Menschen politisch zu übergehen bedeutet, ihnen eine Heimat zu verwehren. Nicht nur die Staatenlosigkeit verwehrt Menschen das Recht, Rechte zu haben – sondern die Unsichtbarkeit, die natürlich ein Aspekt der fehlenden Staatsbürgerschaft ist.
Gessen argumentiert hier gleichsam als Aktivistin des Exils. Dabei interessiert sie sich wenig dafür, dass auch Staatsbürger im Rahmen staatlichen Verwaltungshandelns mit Begriffsetiketten abgestempelt werden und dass auch sie zum Opfer politischen oder staatlichen Unrechts werden können.
Schreiben im Notizbuchstil
Im zweiten Text, der in diesem Band abgedruckt ist, zeigt es sich, zu welch sonderbaren Schlussfolgerungen Gessens menschlich begreifliche aber theoretisch zweifelhafte Überhöhung der Migrationsperspektive führen kann. Da versucht sie ihren Vorsatz wahr zu machen, den Menschen von anderen Menschen zu erzählen. Unter der Überschrift "58 Geschichten der Migration" reiht sie einschlägige Kurzbiographien aneinander. Die Vielfalt der geschilderten Fälle ist groß, sie reicht von Kriegsflüchtlingen des Kosovo-Konflikts über russische Kontrahenten von Vladimir Putin wie die Oligarchen Boris Beresowski oder Michail Chodorkowski bis hin zu mexikanischen Wirtschaftsflüchtlingen und Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden. Arkadi zum Beispiel:
"Er war noch keine zwanzig. Seine Mutter starb in Tschetschenien, während er in dem sicheren Haus in Moskau lebte. Arkadi schnitt sich die Pulsadern auf. Dann machte er es noch einmal, nachdem er zuvor Schlaftabletten geschluckt hatte. Er bekam ein Visum für Frankreich und verließ Moskau. Dann kehrte er nach Russland zurück."
Die schematische Schlichtheit, in der noch der Notizstil der Karteikarten nachklingt, von denen Gessen diese Fallgeschichten übernommen hat, vermag nur blasse Eindrücke zu vermitteln. Das Ganze ist schnell hingeschrieben, ohne jede erzählerische Qualität. Umso größer ist das Pathos, mit dem die Autorin diese Kurzporträts präsentiert. Dieses Pathos ist ihr Programm, sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Exil, Flucht und Migration zu den zentralen Schmerzpunkten unserer Gegenwart zu erklären.
Exil und Migration als Krankheitserfahrung
Der Verlust der Heimat, sagt Gessen, sei "eine unheilbare, chronische Krankheit". Das ist eine Behauptung, die angesichts der von Optimismus geprägten Einwanderungsgeschichte der USA und eines längst fiktiv gewordenen Heimat-Begriffs als starke emotionale Dramatisierung erscheinen muss.
Die Idee zur Niederschrift ihrer 58 Migrationsgeschichten bezog Gessen von den dreitausend Kurzbiografien, die in der New York Times über die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center vom 11. September 2001 veröffentlicht wurden. Weil sie aber die Geschichten der Terroropfer, die, wie sie meint, alle eine Heimat hatten, als eher gewöhnlich ansieht, will sie nun im Kontrast dazu die ungewöhnlichen Geschichten der Migration in ihrer ganzen Besonderheit herausstellen:
"Exil-Geschichten sind in gewisser Weise das Gegenteil der auffallend gewöhnlichen Geschichten, die ausgewählt wurden, um die Verluste vom 11. September zu repräsentieren. Exil-Geschichten erschlagen mit ihrer Dramatik. Sie sind fremdartig und entfremden, wenn sie erzählt werden. Als jemand, der diese Geschichten aufschreibt und erzählt, weiß ich das. Ich weiß es auch, weil ich selbst emigriert bin."
Unglücklicherweise allerdings vermischt Gessen hier ihren humanitären Aktivismus mit einer Überbietungskonkurrenz. Die Besonderheit der migrantischen Condition humaine ließe sich ohne weiteres auch anders nachweisen. Warum sie dafür ausgerechnet die Besonderheit von dreitausend Terrortoten schmälern muss, die sie ebenfalls pauschalisierend hinter dem Begriff "Verluste" verschwinden lässt, bleibt Masha Gessens Geheimnis. Das ist Selbstüberhebung sowohl in der Haltung als auch in der Argumentation. Nicht gerade ein Glücksfall klaren Denkens. Gessen zitiert zwar gerne Hannah Arendt, in der sie offenbar ihre Hausheilige sieht, aber die intellektuellen Gemeinsamkeiten zwischen beiden dürften ihre Grenzen haben.
Gessen als Theoretikerin der eigenen Existenz
Am überzeugendsten wirkt dieses Buch dort, wo die Autorin ihre eigenen Wege, ihre Familie und ihre queere Gender-Identität jenseits von weiblich und männlich thematisiert. Davon handelt "Geschichten eines Lebens", der dritte hier abgedruckte Aufsatz. Darin erklärt sie die persönlichen Motivationen für ihr Denken und Handeln, für ihr Engagement in der LGBT-Bewegung und die wechselnden Entscheidungen als Inhaberin beider Staatsbürgerschaften in Russland oder in den USA zu leben. Als Theoretikerin der eigenen Existenz kann Gessen aufschlussreiche Einblicke in ihre persönliche Entwicklung geben. So weist sie etwa das Narrativ der amerikanischen Schwulen- und Lesbenbewegung, man sei eben von Geburt an schwul oder lesbisch, zurück, um stattdessen die Wahlfreiheit hinsichtlich von sexueller Orientierung und Gender-Identität zu betonen. Und da gibt es für sie Parallelen zwischen Ländern und Körpern:
"Ein Mensch ist eine Abfolge von Entscheidungen, und die Frage lautet: Wird meine nächste Entscheidung eine bewusste sein, und werde ich sie ungehindert treffen können? Es ist ein bisschen wie beim Emigrieren: Die Entscheidung zu gehen fühlt sich selten frei an, aber die Entscheidung, neue Weltgegenden (oder veränderte Körper) zu bewohnen, erfordert Vorstellungskraft."
Eines jedenfalls machen diese drei Aufsätze unmissverständlich klar: Masha Gessen vertritt ihre Positionen mit Leidenschaft. Als politisch-kulturelle Leitfigur verkörpert sie eine glühende Kämpferin für Diversität und gegen Potentaten wie Trump und Putin. Vor allem aber bietet sie ein Beispiel für einen faszinierend komplexen Lebensentwurf, der in ihren Texten mit all seinen Widersprüchen und Ambitionen einen ebenso entschlossenen wie zuweilen diskussionsbedürftigen Ausdruck findet.
Masha Gessen: "Leben mit Exil. Über Migration sprechen"
edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Berlin.
98 Seiten, 12 Euro.