Zielsicher schreitet der stämmige Mann auf dem schlammigen Weg zwischen den Mauerresten. Im Hintergrund Bauern mit Strohhüten und Wasserbüffeln auf Reisfeldern, Kokospalmen säumen den Straßenrand. Es regnet in Strömen, der Boden dampft in der schwülen Hitze. Phan Tanh Cong bleibt stehen und deutet auf die steinernen Umrisse im üppig wuchernden Gras. Hier hat er gewohnt vor 50 Jahren.
"Wir saßen in der Küche, als die Amerikaner hereinstürmten. Wir waren sechs in unserer Familie. Sie schrien VC; VC, also Vietcong, und stellten uns an der Wand auf. Dann fingen sie sofort an zu schießen. Ich fiel mit den anderen um, aber ich war nicht getroffen. Die Leichen meiner Eltern und Geschwister lagen über mir, und die Amerikaner hielten mich wohl auch für tot, deshalb habe ich überlebt. Ich fühle noch heute den Horror in mir. Meine Brüder und meine Schwester, zwei, vier und sechs Jahre alt – wie können die Vietcong sein?"
Frustrierte GIs wollten sich rächen
Vietcong aufzuspüren – Kämpfer des nordvietnamesischen Kommunisten – das ist der Auftrag der Charlie-Kompanie an diesem Märzmorgen. Am Tag zuvor waren die Amerikaner in einen Hinterhalt geraten, der erste Tote ihrer Einheit. Die jungen GIs sind frustriert, verängstigt und dürsten nach Rache. Aber in My Lai treffen sie nur Frauen, Kinder und alte Männer beim Frühstück. Vietcong, Vietcong, schreit einer der Amerikaner trotzdem, Schüsse fallen, ein Dorfbewohner wird getroffen, erinnert sich ein US-Veteran:
"Als der erste Zivilist erschossen wurde, war es zu spät. Wer immer diesen Schuss abgefeiert hat, danach geriet alles außer Kontrolle. Das war nur noch: Schieß, schieß – auf alles, das sich bewegt hat. Jemand kam aus einer Hütte – peng, tot. Es lief komplett aus dem Ruder."
Fast 200 Frauen mit ihren Kindern treiben die Soldaten der Charlie-Kompanie zu den Wassergräben. Die 84-jährige Pham Thi Thuan hat es noch heute vor Augen, als wäre es gestern:
"Wir mussten aufstehen und uns wieder setzen, aufstehen, setzen. Drei Mal. Dann haben sie geschossen. Auf den Kopf, den Bauch, überallhin. Alle sind umgefallen, in den Wassergraben. Viele Frauen hatten Kinder. Meine Schwester ist auf mich gefallen – deshalb habe ich überlebt. Ich dachte, ich wäre tödlich verletzt, weil da überall Blut war, so viel Blut – aber es war nicht meins."
504 Menschen ermordet
Auch Phan Tanh Cong hat seine Geschichte schon oft erzählt, aber bekommt immer noch feuchte Augen. Er war elf Jahre alt an dem Tag, der seine Kindheit und fröhliche Unbekümmertheit für immer beendete. Heute leitet er die My-Lai-Gedenkstätte. Die Erinnerung an das Verbrechen zu bewahren – das ist seine Lebensaufgabe. Jede furchtbare Einzelheit hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
"15 Frauen haben sie auf die Felder vor dem Dorf gezerrt – und sie vergewaltigt, bestimmt ein Dutzend Männer ist über sie hergefallen, ich höre noch heute die Schreie. Dann haben sie die auch getötet. Einer schwangeren Frau haben sie mit dem Bajonett den Bauch aufgeschlitzt."
Ein amerikanischer Hubschrauberpilot sieht das Massaker aus der Luft. Bedroht die eigenen Leute mit dem Bord-MG – fordert weitere Helikopter an, um Überlebende auszufliegen. Elf Menschenleben hat der 23-jährigige Hugh Thompson gerettet – 504 sind tot.
Später werden Lieder über Hugh Thompson gesungen – den Helden von My Lai. Er hat sich selbst nie als Helden gesehen – er habe einfach keine Wahl gehabt:
"Das war Mord. Da standen Leute am Graben in einer Reihe, so 170, mit erhobenen Händen über den Händen, und wurden hingerichtet. Das ist kein Krieg, das ist nicht, was ein Soldat für sein Land tut. Das sind Mörder."
Amerika war selbst schuldig geworden
128 tote Vietkong-Kämpfer bei null eigenen Verlusten meldet der Einsatzbericht der US-Army für den 16. März in My Lai – ein Erfolg. Über ein Jahr später bekommt der Journalist Seymor Hersh einen Tipp, recherchiert, spricht mit Soldaten, erfährt grausame Details.
"Nachdem sie alle abgeschlachtet hatten, setzten sie sich neben den Graben mit all den Leichen und aßen zu Mittag. Ernsthaft! Dann hörten sie ein Weinen. Ein vielleicht zweijähriger Junge, der das Schießen überlebt hatte, kroch aus dem Graben. Krabbelte zwischen all den Toten hervor, über und über mit ihrem Blut besudelt und rannte davon. Und Leutnant Calley sagte zu einem seiner Soldaten: Los, erledige ihn. Aber der konnte es nicht. Also zog Calley seine Pistole, und erschoss das kleine Kind."
Jimi Hendrix' "Star-Spangled Banner" – die mit der E-Gitarre zu Bombenexplosionen und MG-Stakkato verzerrte US-Hymne – beschreibt die Stimmung nach Hershs Enthüllungsbericht. Amerika war angetreten, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen gegen kommunistische Unterdrücker. Doch nun war Amerika selbst schuldig geworden. Soldaten der US-Army – die vermeintlich Guten im Kampf gegen das Böse – als entmenschlichte Mörderbande im Blutrausch. Die Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit kippt nun endgültig gegen den Krieg.
"Ich habe ein tiefes Loch in meiner Seele"
Der kommandierende Offizier, Ltnt. William Kelly wird zu lebenslänglich verurteilt – statt hinter Gittern darf er die Strafe als Hausarrest absitzen, wird nach vier Jahren von Präsident Nixon begnadigt. Auch über ihn gibt es ein Lied. Das Lied eines Soldaten, der für sein Land in den Krieg zog und zum Schurken gemacht wurde. Zum Sündenbock. Obwohl er doch nur seine Pflicht getan habe.
41 Jahre nach dem Massaker hat sich Calley öffentlich entschuldigt. Es gäbe nicht einen Tag seines Lebens, an dem er nicht bedauere, was damals in My Lai geschehen sei, sagte er. Zumindest dieses Gefühl teilt er mit Phan Tanh Cong, dem Überlebenden und Direktor der Gedenkstätte von My Lai.
"Ich fühle seit 50 Jahren Schmerz. Immer, wenn sich der 16. März nähert, kommt die ganze Verzweiflung wieder in mir hoch. Der Horror in meinem Herzen. Die Traurigkeit. Ich bin verloren seit diesem Tag. Einsam. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich habe alle verloren, die ich geliebt habe, nicht nur meine Familie, auch Nachbarn, Freunde. Die Kugeln der Amerikaner haben mich verfehlt – aber ich habe ein tiefes Loch in meiner Seele."