"Der Krieg am linken Ufer der Drina fand praktisch unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit statt. 'Was wir tun, müssen wir als unser Geheimnis bewahren' hatte Ratko Mladic den Abgeordneten des Parlaments der Republika Srbska eingeschärft und so nahmen die Dinge in Ostbosnien einen anderen Verlauf, als etwa in Sarajevo oder Mostar".
Was in der Enklave Srebrenica geschah, ist längst kein Geheimnis mehr, aber viele aufschlussreiche Einzelheiten sind selbst 20 Jahre später doch kaum bekannt. Die Masse von Zeugenaussagen und schriftlichen Beweisen des Haager UN-Tribunals ist mit den vielen Verfahren einfach zu umfangreich geworden. Matthias Fink hat sich zum Ziel gesetzt "eine Gesamtschau" der Ereignisse und der Gründe für das Massaker zu erarbeiten. Herausgekommen ist weit mehr als eine Faktensammlung: Wer sein Buch liest, begibt sich auf eine selten mögliche Reise in menschliche Abgründe, die so tief und düster sind, dass man das Geschehen, seine Vorgeschichte und die Folgen auch zwei Jahrzehnte danach kaum zu fassen vermag:
"Man kann eine solche Geschichte nicht unbeteiligt recherchieren"
Verzweiflung, falsche Hoffnungen, Neid und der Kampf ums nackte Überleben unter den Menschen, die in Srebrenica Schutz suchten; Falsche Versprechen, Entscheidungsschwäche, Ignoranz und bitteres Versagen der Internationalen Gemeinschaft; unmenschliche Kälte, Rachsucht und Kadavergehorsam auf Seiten der bosnischen Serben, jedenfalls ihrer Politiker und Militärs. Matthias Fink hat sich vor seinen Lesern auf diese Reise begeben.
"Man kann eine solche Geschichte nicht unbeteiligt recherchieren, weil man hat es mit Menschen in Extremsituationen zu tun, von denen man sich wünscht, dass sie einem nie passieren werden."
Also findet sich hier beides: nüchterne Analyse und doch auch Anteilnahme. Auf den ersten Seiten schildert Matthias Fink das Schicksal des Mirnes Osmanovic, eines Jungen, der seiner Mutter in Potocari genommen wurde. Die bosnischen Serben hatten Männer und Jungen im wehrfähigen Alter von der übrigen bosnischen Bevölkerung samt Flüchtlingen getrennt. Die meisten von ihnen wurden getötet.
"Wenn wir lesen, dass 8372 Namen auf der Wand der Toten, auf dem Friedhof bei Srebrenica stehen, dann ist das eine anonyme Zahl 8372, aber wenn einer davon Mirnes Osmanovic heißt, 14 Jahre alt, und wenn man ein bisschen dessen Leben verfolgt und was aus ihm geworden ist, dann bekommt das Ganze ein Gesicht."
... dafür braucht man allerdings viel Geduld, denn, was tatsächlich aus Mirnes Osmanovic wurde, das erzählt Fink erst im letzten Kapitel seines Buchs.
"Im Februar 2011 erreichte Zuhra Osmanovic ein Anruf des Indentifizierungsprojektes in Tuzla. Ein Treffer beim Abgleich der genetischen Proben. Man hatte ihren Sohn Mirnes identifiziert. Zuhra Osmanovic fuhr zum Leichenschauhaus in Tuzla. Sie hat die Kleidung sofort erkannt: die dunkelblaue Trainingshose mit den weißen Streifen, dazu der Schuh – es war nur ein Schuh gefunden worden – aus der humanitären Hilfe. Das T-Shirt mit der Comic-Figur und die gelbe Trainingsjacke fehlten."
18 Menschen erschießen innerhalb von sechs Stunden 1600
Auf den etwa 800 Seiten, die dazwischen liegen, schildert Matthias Fink sachlich, klar und gut verständlich Fakten. Eine sorgfältig belegte Chronik. Und gerade die einfachen Tatsachen wie sehr nüchterne Zahlen verdeutlichen die Dimension der Grausamkeiten:
"Überraschend ist aber doch, wie verhältnismäßig wenige Leute es letztlich gebraucht hat, um innerhalb von vier Tagen über 7000 Menschen zu töten. ( ... ) Zu den 18 Mann, die innerhalb von maximal sechs Stunden auf dem Gut Branjevo und im Kulturhaus von Pilica mehr als 1600 Menschen erschossen, kamen noch einmal etwa gleich viele hinzu, die zuvor die Gefangenen bewacht und transportiert hatten."
Ganze 18 Männer erschießen innerhalb von sechs Stunden 1600 Menschen! Soweit es überhaupt geht, versucht Matthias Fink das zu erklären. Der Bosnien-Krieg war aus seiner Sicht eine Auseinandersetzung um die Konkursmasse des zerfallenden Jugoslawien. Es ging um Land, gerade um die Gebiete an der Drina, an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien, also der Landstrich, wo auch Srebrenica liegt. Im Kern dieses Konflikts ging es nicht um Religion, wenngleich der Gegensatz zwischen Islam und serbisch-orthodoxem Glauben instrumentalisiert wurde. Eine entscheidende Rolle, so Fink, habe Propaganda gespielt, vor allem in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre. Historische Ereignisse, die oft Jahrhunderte zurücklagen, wurden ebenfalls instrumentalisiert:
"Mit diesen Geschichten, angefangen von der Schlacht auf dem Amselfeld bis hin zum Zweiten Weltkrieg, diese Dinge wurden benutzt, um dem anderen im Grunde genommen seine Menschlichkeit zu nehmen. Also, Du bist mein Feind, weil Du mich vernichten willst. Und plötzlich werden die Kriege der Vergangenheit genutzt, um die Kriege der Gegenwart zu motivieren und das hat perfekt funktioniert."
... fast perfekt, um ganz genau zu sein. Denn Matthias Fink hat auch dokumentiert, wo Propaganda, Hass und militärische Befehlsgewalt versagten, auch wenn sich das auf wenige Ausnahmen beschränkte:
"Zum Beispiel gab es eine Wiese, auf der den gesamten 13. Juli über Männer festgehalten wurden von bosnisch-serbischen Polizeieinheiten. Die wurden dann abtransportiert in ein Lagerhaus in der Nähe und am Schluss blieben 15 übrig. Und dann kam der, der das Kommando hatte und hat gesagt zu den Polizeirekruten, erschießt die jetzt! Die haben gesagt, nee, das machen wir nicht! Dafür sind wir nicht hier. Wir bewachen die und wir können die mitnehmen, aber das machen wir nicht."
Eine Schande für das Kriegsverbrechertribunal
Matthias Fink hat einen umfassenden Ansatz gewählt und deshalb ein sehr umfassendes Buch geschrieben. Wer je mit Historikern oder Politikern in Belgrad, Banja Luka oder Sarajevo über Srebrenica diskutiert hat, weiß, wie genau jede Tatsache geprüft, jeder Sachverhalt abgewogen sein will, um einer programmierten Generalkritik zu begegnen. Matthias Fink erwähnt auch Kriegsverbrechen, die schon 1992 in und um Srebrenica stattgefunden hatten. An den Händen bosnisch-muslimischer Truppen, die damals schon eingeschlossen waren, klebt ebenfalls Blut:
"Ein wirklicher Haufen von Landsknechten, keine organisierte Armee, unglaublich schlecht bewaffnet, die fingen nun an, bosnisch-serbische Dörfer in der Umgegend zu überfallen, um sich dort Nahrungsvorräte etc. nach Srebrenica zu holen. Dabei kam es zu ganz fürchterlichen Kriegsverbrechen an bosnischen Serben, mehr als 1200 Tote."
Dass Naser Oric, der verantwortliche Kommandeur der bosnisch-muslimischen Truppen in Srebrenica, dafür nie zur Rechenschaft gezogen wurde, sagt Fink, sei eine Schande für das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.
Matthias Fink: "Srebrenica. Chronologie eines Völkermords oder was geschah mit Mirnes Osmanovic"
Hamburger Edition 2015
990 Seiten mit 20 Fotos und 12 farbigen Karten, 45 Euro
Hamburger Edition 2015
990 Seiten mit 20 Fotos und 12 farbigen Karten, 45 Euro