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Massenevents und Finanzkrise

Zehntausende sangen in den Städten des Ruhrgebietes beim "Day of Song". Drei Millionen kamen auf die gesperrte Autobahn 40, der Hauptverkehrsader zwischen Duisburg und Dortmund, und feierten ein Fest. Gelbe Ballons schwebten über den ehemaligen Schachteingängen und zogen neben den Zuschauern auch ehemalige Bergleute an, die von ihrer Arbeit erzählten.

Von Stefan Keim |
    Auf dem Papier wirkten viele dieser Projekte der Kulturhauptstadt wie hohle Massenevents, tagesthementauglich, doch ohne Nachwirkung. Aber sie sind begeistert angenommen worden von den Bürgern des Ruhrgebietes, viele erzählen wahrhaftig immer noch davon. Ein Gemeinschaftsgeist ist entstanden, ein Schritt zur Identitätsbildung nach innen ist gemacht. Das ist eine Glanzseite der Ruhr 2010.

    Gleichzeitig war das Kulturhauptstadtjahr die Zeit der zusammenbrechenden kommunalen Haushalte. Die bankrotten Städte kündigten vielerorts heftige Kürzungen der Kulturhaushalte an. Die Theater in Hagen, Oberhausen, Essen und Moers waren und sind zum Teil noch gefährdet. Nicht nur der Theatermacher und Festivalleiter Rolf Dennemann aus Dortmund fürchtet Schlimmes für das kommende Jahr:

    "Ich seh' das so, dass diese Ruhr 2010-Vision und die Wirklichkeit der Kommunen wie zwei verschiedene Welten sind, die parallel laufen, aber nicht zusammen kommen. Da sind ja ein paar kluge Ideen dabei. Aber die kommen in dem grauen Alltag der Ratssitzungen nicht an. Der Kämmerer wird 2011 wohl bestimmen, schätze ich mal."

    Widerspruch kommt von Oliver Scheytt, neben Fritz Pleitgen Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH:

    "Die Kultur ist mehrheitsfähig. Sie ist nicht eine Sache von Minderheiten. Und deshalb wird jeder Politiker nach dem Kulturhauptstadtjahr sich sehr genau überlegen, ob er sich mit diesen Mehrheiten, die alle für Kultur da sind, anlegt."

    Die Mehrheiten sieht Oliver Scheytt zum Beispiel in den drei Millionen, die auf die gesperrte A 40 kamen. Aber ob diese Leute die große Sause wirklich als Kulturveranstaltung namens "Still-Leben" begriffen haben, ist zweifelhaft. Auch Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer warnt davor, den Kulturbegriff zu weit zu fassen:

    "Ich habe schon die Befürchtung nach dem Jahr der Kulturhauptstadt, dass wir kulturpolitisch in einen Diskurs kommen, wo wir uns mit Entertainmentangeboten gleich gesetzt sehen. Dann ist der Besuch im Museum Folkwang eine Freizeitbeschäftigung wie der Besuch auf Schalke oder der Besuch auf dem Still-Leben. Wenn das so ist, dann muss man sich tatsächlich fragen: Warum subventionieren wir das?"

    Das neue Museum Folkwang und das Ruhrmuseum werden bleiben, auch einige weitere Kunstprojekte. Die Region ist attraktiver geworden. Auch wenn die Ruhr 2010 vieles nur unterstützen und nicht finanzieren konnte, hat sie doch einige Investitionen angeregt. Vor allem hat sich das Denken geändert. Die Kulturdezernenten der fünf größten Städte treffen sich regelmäßig und sprechen ihr Handeln miteinander ab. Das Kirchturmdenken scheint überwunden. Und die Bedeutung von interkulturellen Projekten, Theater-, Musik- und Tanzprojekten mit Migranten, ist Allgemeingut geworden.

    Manchmal entstand allerdings den Eindruck, dass sich die Ruhr 2010 in der Vielzahl der 5500 Aufführungen etwas verzettelt. Einige Aktionen fanden unbeachtet von einer größeren Öffentlichkeit statt. Oliver Scheytt:

    "Wir haben zum Teil etwas viel Projekte gehabt. Da denke ich manchmal drüber nach, ob ich zukünftigen Kulturhauptstädten diese Fülle empfehlen würde. Aber sie hat letztlich auch was mit der Fülle und Reichhaltigkeit dieser Metropole Ruhr zu tun. Wir mussten ja auch viele Projekte ablehnen. Manche, die abgelehnt wurden, waren enttäuscht. So komme ich beim reiflichen Nachdenken schon zu der Überlegung, wir haben fast alles richtig gemacht."

    Weniger überzeugend war die Ruhr 2010 in der Spitzenkultur. Eine neue Oper Hans-Werner Henzes entpuppte sich als fades Alterswerk, die Ruhrtriennale erlebte ihre schwächste Spielzeit überhaupt, das Odyssee-Projekt der Schauspielhäuser bot Licht und Schatten. Als Konkurrenz zu Berlin oder gar New York hat sich das Ruhrgebiet nicht präsentiert.

    Deshalb wirkt auch der Versuch, der Region den Begriff "Kulturmetropole" aufzudrücken, wie Angeberei. Die Qualität des Ruhrgebietes liegt in der Industriekultur, seiner speziellen Landschaft und der durch seit dem 19. Jahrhundert durch Migration geprägten Bevölkerung. Wenn sich das Ruhrgebiet auf sich selbst besinnt, zeigt es Stärke. Oliver Scheytt kündigt an, ab 2020 stünde ein neues Großprojekt im Ruhrgebiet an:

    "Das nennen wir jetzt Dekadenprojekt. Und dabei geht es darum, den Ballungsraum mit seinen besonderen Fähigkeiten im Bereich Grün, Umwelt, Energie ins Bild zu setzen. Wir sind ja eine der grünsten Landschaften von Städten, die man sich vorstellen kann. Wir haben hier Industriekonzerne, die an den Elektromotoren arbeiten, neue Batterien sich ausdenken. Wir haben die Emscher-Renaturierung bis 2020, die bis dahin abgeschlossen ist, wo neues Leben am Wasser möglich ist."