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Massenphänomene
Das Gefühl in der Menge

Welche Dynamik entsteht auf einer Großkundgebung? Am Einsteinforum in Potsdam diskutieren Wissenschaftler über "Masses in (E)Motion" - das Verhalten und die Gefühle von großen Menschenmengen.

Von Bettina Mittelstrass |
    Menschenmenge, Dynamik, Emotion - hier: in Kiew
    Menschenmenge, Dynamik, Emotion - hier: in Kiew (Anhänger von Präsident Janukowitsch demnostrieren in Kiew.)
    Der ukrainische Oppositionspolitiker Vitali Klitschko betont es zur Zeit immer wieder: Die Stimmung unter den Demonstrierenden in Kiew werde zunehmend aggressiv. Positive Empfindungen wie Hoffnung und Enthusiasmus schwinden. Nicht nur die Furcht vor Gewalt seitens der Regierung beschäftigt Protagonisten, Medien oder die Münchner Sicherheitskonferenz. Es geht auch um die Angst vor der Wut einer enttäuschten Menschenmasse, die, erst einmal entfesselt, nicht mehr kontrollierbar scheint. Dieses Unbehagen gegenüber Menschenmengen geht auf eine weit verbreitete These der traditionellen Massenpsychologie zurück, sagt der Sozialpsychologe Stephen David Reicher, Professor an der schottischen Universität von St. Andrews.
    "Diese Psychologie besagt im Kern, dass Menschen in der Menge ihre Rationalität und ihre Werte verlieren. Sie werden irrational und destruktiv, also emotional: Emotion ersetzt Vernunft. Eine Menschenmenge ist demnach etwas Negatives, in der das Auftreten von Emotion auf den Verlust der Vernunft verweist. Das wurde erstmals 1985 beschrieben – im wohl berühmtesten Buch zur Massenpsychologie des Franzosen Gustave le Bon. Und das wirkt nach, wenn bis heute zum Beispiel von ansteckenden Ideen die Rede ist, die sich ausbreiten wie Krankheiten oder vom Selbstverlust des Individuums – das ist eine mächtige und breit verstandene Vorstellung von Menschenmengen."
    Unkontrollierte Menge?
    Diese Wahrnehmung spiegle sich, sagt Stephen Reicher, bis heute in der hohen Aufmerksamkeit, die Medien solchen Massenveranstaltungen widmen, die aus dem Ruder laufen. Ausrastende Fußballfans, Steine werfende Demonstranten oder Massenpanik bei einem Fest und schon gerät die Menschenmasse wieder als unkontrolliert, als Problem – als „Mob“ – ins Blickfeld. Der Blick der Sozialpsychologie auf Massenveranstaltungen ist inzwischen wesentlich differenzierter – auch dank der empirischen Forschungen von Stephen Reicher, den die Prozesse in Menschenmengen seit über 30 Jahren beschäftigen. Seine Ergebnisse zeigen: irrational ist hier eher wenig.
    "Das zentrale Argument ist: Wenn sich Menschen versammeln, dann hören sie auf, sich in erster Linie als Individuum zu verstehen. Stattdessen rückt ihre soziale Identität in den Vordergrund. Sie sorgen sich nicht mehr um ihr individuelles Schicksal, ihre eigenen Normen und Werte, sondern um die Normen und Werte der Gruppe. Also statt Identität und Kontrolle zu verlieren, verschieben die Menschen sie lediglich. Auch Gefühle signalisieren dann nicht etwa die Abwesenheit von Verstand, sondern haben etwas mit Identität zu tun. Denn wenn wir bezogen auf eine Gruppe handeln, werden wir mächtig und kommen in eine Situation, in der wir Geschichte schreiben können. Deswegen sind die Menschen dann so freudig: sie nehmen ihr Schicksal in die Hand und kontrollieren die Dinge."
    Menschen verlieren sich also nicht in den Emotionen der Menge, sie gewinnen etwas hinzu, sie werden handlungsfähig als soziale Akteure. Die Freude, die daraus resultiert, beschäftigt auch die italienische Soziologin Donatella della Porta, Professorin am Europäischen Hochschulinstitut in Fiesole. Sie hat unter anderem die Dynamik der Emotionen in den sozialen Bewegungen der arabischen Revolutionen untersucht. Positive Gefühle wie Freude, Hoffnung, auch Stolz seien sehr wichtig für den Erfolg einer sozialen Bewegung, sagt sie, denn die Menschen gingen unter sehr riskanten Bedingungen auf die Straße. Die Emotionen seien dabei auch immer mit kognitiven Prozessen gekoppelt: Freude etwa stellt sich dann ein, wenn die Menschen tun, was sie für richtig halten.
    "Dass die Leute sich freuen, zusammen zu sein, ist ein sehr wichtiger Aspekt auch dafür, wie die Proteste laufen. Wenn viele positive Emotionen da sind, dann ist weniger Gewalt, entwickelt sich eine mehr inklusive Art und Weise und es ist auch positiv im Sinne, positive Entwicklung zu steuern."
    Die Menge bei Laune halten
    Ärger und Empörung können in Verbindung mit Hoffnung auch positive Effekte auf die Aktivitäten sozialer Bewegungen haben. Ein Problem sind Angst oder Scham. Dann schwinde das Selbstvertrauen der Menschen. Die Aktivisten müssten also die Menge mit klugem Emotionsmanagement „bei Laune“ halten, sagt Donatella della Porta.
    "Auch wenn es keine Angst gibt, aber zum Beispiel man könnte sich langweilen, wenn die Tage dann ein Gefühl von Normalität wieder kriegen. Die Aktivisten machen sich auch viele Gedanken darüber, wie kann man eine Strategie entwickeln. Man muss nicht denken, dass Emotionen und Kognitionen und Strategie in verschiedene Richtung gehen. Man braucht die beide."
    So werden die Emotionen einer Menschenmenge zum Teil wohl überlegt und zielorientiert von innen heraus gesteuert – zum Beispiel durch die schnelle Verbreitung von Bildern und Filmen über die neuen Medien. Bilder, die Gewalt und Übergriffe der Polizei zeigen lösen Emotionen wie Empörung aus. Das wiederum kann vereinen und mobilisieren. Immer wieder betonten jedoch alle Wissenschaftler auf der Potsdamer Konferenz: Eine Einheit mit einem irgendwie eigenen Gefühl ist eine physische Menschenmenge nie. Sie hat immer Untergruppen, die sich psychologisch unterscheiden, die andere Ziele und heterogene Empfindungen haben.
    "Die Anzahl der psychologischen Gruppen in einer physischen Menschenmenge ist nicht statisch. Sie ändert sich mit den Interaktionen zwischen der 'Crowd' und Akteuren von Außen. Eine spezielle Rolle spielt da die Polizei! Es entsteht eine besonders destruktive Dynamik, wenn die Polizei zum Beispiel in der Menge Störenfriede ausmacht und dann behauptet: DIE Menge ist gefährlich und aggressiv. Sie homogenisiert und es besteht die Gefahr, dass sich Polizeiaktionen gegen alle richten, so für gemeinsame Erfahrung sorgen und damit einen Gemeinsinn der Gruppe erzeugen, den es vorher gar nicht gab. Das kann dann zur Eskalation von Gewalt führen. Es ist also nicht nur theoretisch faszinierend, die psychologische Gruppenbildung in Crowds, ihre Funktion und Veränderung unter äußeren Einflüssen zu untersuchen, es ist auch der Schlüssel für das Verständnis von 'crowd-management'."