Dörte Hinrichs: "Es geschah am helllichten Tag, nachts bei Hausdurchsuchungen, auf offenem Feld, in Kellern und Unterständen, in Almhütten und Gutshäusern, in Krankenhäusern und Offizierskasinos, in Mannschaftswagen und in spontan eingerichteten Vergewaltigungsräumen. Es kam zu Vergewaltigungen bei Tanzveranstaltungen, privaten oder geschäftlichen Verabredungen, in Büros." Diese Zeilen stammen aus dem Buch "Wir Kinder der Gewalt – wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden", das am kommenden Montag herauskommt. Geschrieben hat es die Historikerin Dr. Miriam Gebhardt. Sie beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit kriegsbedingter sexueller Gewalt. "Als die Soldaten kamen" heißt ein anderes Buch, in dem sie das Thema schon einmal aufgegriffen hat. Ich habe sie vor der Sendung gefragt, was sie dazu bewogen hat, hier weiter zu forschen.
Miriam Gebhardt: Für mich war sehr berührend, dass es mir zum ersten Mal passiert ist als Historikerin, dass mir quasi die Leute, über die ich geforscht habe, nun Rückmeldung gegeben haben. Ich habe auf einmal Reaktionen erhalten, was wir ja sonst in der Geschichtswissenschaft eher selten erleben, und zwar hauptsächlich von Angehörigen von Betroffenen. Die Betroffenen der Vergewaltigungen sind ja heute hochbetagt, wenn sie noch am Leben sind, aber deren Kinder und Kindeskinder haben damit offenbar immer noch ein Thema. Und von solchen Angehörigen habe ich doch bis heute regelmäßig Zuschriften bekommen, und das hat mich dann bewogen, mich mit denen mal zu beschäftigen.
"Rotarmisten-Opfer" oder "Ami-Liebchen"?
Hinrichs: Generell hat man ja von Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee gehört, aber weniger davon, dass auch Amerikaner, Briten und Franzosen, die in Deutschland stationiert waren, zu den Tätern gehörten. Wieso?
Gebhardt: Das hat sicher schon mit der Vorgeschichte zu tun gehabt, dass eben die Durchhaltepropaganda von Josef Goebbels vor allem auf die Folgen hingewiesen hat, was passiert, wenn die Deutschen den Krieg verlieren, nämlich, dass dann die Rote Armee, der böse Iwan, in das Land einfällt und die Frauen schändet. Das war also etwas, womit schon mal gerechnet wurde. Das andere ist sicher die politische Großwetterlage gewesen, dass man im Westen zu seinen Verbündeten hielt, loyal war, dankbar war und es auch deshalb nicht möglich war so sehr, auch auf das Missverhalten und die Vergehen der westlichen Soldaten hinzuweisen. Und der dritte Punkt ist der, dass man anhand dieser Vergewaltigungen auch anfing, innerhalb der deutschen Gesellschaft wieder neue Gruppen zu bilden und Grenzen zu ziehen. Da galten eben die Frauen, die von weißen, westlichen Soldaten vergewaltigt wurden, als selbst verantwortlich, die wurden nicht als Opfer anerkannt, sondern wurden im Grunde mit verantwortlich gemacht für das, was ihnen geschah. Man hat ihnen einen unseriösen Lebenswandel unterstellt, man hat sie zum Beispiel Ami-Liebchen genannt und hat im Grunde nur den Frauen Anerkennung entgegengebracht, die von Schwarzen oder eben von Rotarmisten vergewaltigt worden waren.
Nur die Dunkelziffer der Vergewaltigungen
Hinrichs: Sie gehen ja von einer enorm hohen Zahl aus, von geschätzten 900.000 Vergewaltigungsopfern nach Kriegsende durch die Alliierten. Wie kommt diese Zahl zustande?
Gebhardt: Wir wissen bis heute nicht in der Gegenwart, wie viele Vergewaltigungsopfer es gibt, obwohl wir heute ein funktionierendes Polizei- und Gerichtswesen haben. Wir gehen heute noch von einer Dunkelziffer von eins zu zehn aus. Und damals war das natürlich noch viel extremer, weil es keine funktionierenden Verwaltungen und Behörden gab, die solche Verbrechen hätten aufnehmen können. Die Besatzungssoldaten waren ja geschützt gegen das deutsche Rechtssystem. Meine Zahl ist so entstanden, dass ich auf der Grundlage der Angaben der Frauen selbst, die gesagt haben, dass sie ein Kind aus einer Vergewaltigung haben, das war ja damals so, dass ledige Mütter, wie man sie nannte, unter Amtsvormundschaft gerieten und bei der Gelegenheit Aussagen über den Vater des Kindes machen mussten und eben auch Aussagen darüber, ob das Kind in Gewalt entstanden ist. Und aufgrund dieser Ausgangszahl der Kinder, die aus Gewalt entstanden sind, habe ich eine Hochrechnung gemacht, die so als ganz allgemeine Faustregel gilt. Aus jeder hundertsten Vergewaltigung entsteht normalerweise ein Kind, das ist also eine sehr vage und pauschale Formel. Auf diese Art und Weise bin ich auf 900.000 Vergewaltigungsopfer gekommen.
"Jetzt verstehe ich, warum Mutter Alkoholikerin war"
Hinrichs: Sie haben sich mit eben diesen Vergewaltigungsopfern beziehungsweise mit den Kindern der Gewalt getroffen. Fünf Personen sind es gewesen, die im Buch porträtiert werden, und das Ganze wird eingebettet auch in den historischen Kontext. Wie haben Sie diese Personen erlebt?
Gebhardt: Ich habe erlebt, dass sie sehr lange Verarbeitungsgeschichten in der Regel schon hinter sich haben, dass sie irgendwann früher oder später in ihrem Leben davon erfahren haben, oft auch nur in vagen Andeutungen, und dann sich manches in ihren Köpfen zusammengesetzt hat, was ihnen bis dahin nicht so klar war, wo sie also gespürt hatten, da gibt es ein schreckliches Geheimnis um meine Herkunft. Jetzt verstehe ich, warum meine Mutter Alkoholikerin war, jetzt verstehe ich, was für Ängste in meinem Elternhaus geherrscht haben, und jetzt verstehe ich auch mich selbst besser. Viele von den Menschen, mit denen ich sehr ausführlich gesprochen habe, haben dann eben durch Psychotherapie oder andere stützende Systeme, beispielsweise durch den Beitritt zu einer christlichen Gemeinschaft, versucht, sich Strukturen zu suchen, um mit ihren eigenen Problemen fertigzuwerden.
Jahrelanges Erleben von Diskriminierung
!!Hinrichs:! Das ist ja vielen in Teilen vielleicht gelungen, sie haben aber ein sehr problematisches Verhältnis zu ihren Müttern oft gehabt.
Gebhardt: Ja, genau. Eines der Kernprobleme ist die Beziehung zur Mutter. Die Mütter, das muss man dazusagen, hatten ja damals überhaupt keine Unterstützung von der Gesellschaft und auch nicht von der Medizin oder Psychiatrie oder Psychologie. Oft waren die Familien völlig auf sich allein gestellt, die Kinder wurden zeitweise weggegeben in der Verwandtschaft und auch teilweise in Heime gegeben. Das heißt, das Verhältnis war von vorneherein belastet. Dazu kam die Frage nach der ungeklärten Vaterschaft, die für Menschen auch schwierig werden kann – an irgendeinem Zeitpunkt des Lebens fragt man sich, woher komme ich, und da war dann eine Leerstelle. Dazu kamen Probleme materieller Natur, dass eben Geld fehlte, in einem Fall hat regelrecht Hunger geherrscht. Und zum Schluss kommt als eines der vielleicht wichtigsten Probleme, die Stigmatisierung. Diese Familien wurden häufig aus der Dorfgemeinschaft oder aus dem Umfeld ausgegrenzt und hatten dadurch eine über Jahre gehende Diskriminierung erlebt.
Bessere Chancen für die Kinder nach dem Trauma
Hinrichs: Wie hat sich das ausgewirkt auch auf die nachfolgende Generation?
Gebhardt: Die Kinder selbst haben schon mal den Vorteil gehabt, dass sie in eine Zeit hineingeraten sind, in der es dann zunehmend auch psychologische Hilfe gab und auch zunehmend Verständnis gibt für psychische Probleme. Die hatten auf jeden Fall schon mal bessere Chancen als die Mütter, die damals diese sexuelle Gewalt erfahren haben.
Hinrichs: Miriam Gebhardt war das, über das Ausmaß und die Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende in Deutschland. "Wir Kinder der Gewalt" heißt das Buch der Historikerin, das am 8. April bei der Deutschen Verlagsanstalt erscheint.
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